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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Alte und n"me Romantik

lesen, nußer dein Literarhistoriker oder dem Dichter, der sich wieder für einen
Ritt in das romantische Land ausrüsten möchte, Kurz, es giebt kein großes
Ganzes hier, das wir rein und ohne historische Voraussetzungen genießen
könnten, wir müssen uns das einzelne Schöne, das noch klingt und erwärmt,
aus einer toten Masse heraussuchen, und andres könnte höchstens durch Kennt¬
nisse, die dem Einzelnen verloren sind, wieder lebendig gemacht werden. Sogar
in der Lyrik der Romantiker, von der wir ausgingen, wie selten sind da die
ganz reinen Naturlaute des Herzens, die gleich, wenn sie zum erstenmal laut
werden, eine Anweisung ans die Ewigkeit mitbringen, wie Clemens Brentanos
"Es sang vor langen Jahren"; und sehr groß ist auch die Zahl der spruch-
artigen und erzählenden Gedichte nicht, die ihren Weg in die Welt gemacht
haben oder allein ohne Kommentar machen könnten, wie es Verse von Schiller
und Goethe gethan haben bis auf den heutigen Tag. Die Romantiker sind
reizbar und empfänglich für alles, was sie umgiebt, ihr Sinnesvermögeu ist
bis ins krankhafte verfeinert und gesteigert. In einem Zwielicht, das für andre
Dunkelheit ist, sehen sie noch, oder sie meinen es wenigstens, und darum suchen
sie es mit Vorliebe auf. Sie verkehren mit dem Unbegreiflichen und sprechen
um liebsten Halbverstandnes, denn die volle Klarheit ist nüchtern wie das
Tageslicht oder wie das menschliche Denken, das z. B. nach Novalis nur ein
Traum des Fühlens ist, ein erstorbnes Fühlen, ein blaßgraues, schwaches
Leben. Daher kommt ihre Vorliebe für das Märchen, für unbestimmte Um¬
risse und schwankende Grenzen in den Künsten, für poetische Prosa und male¬
rische Plastik, das Widerspiel also von Lessing. Das ganze Wissen der da¬
maligen Welt berührt an irgend einem Punkte ihr Interesse; sie lehnen es ab
oder nehmen es an. Philosophen, Theologen, Naturforscher, Historiker,
Sprachkundige und Juristen gehören zu ihrem Kreise; sie sind die Encyklo¬
pädisten ihrer Zeit, wenigstens eines kurzen Zeitraums, bis die Anregungen,
die sie verbreiten, überall Früchte tragen und sich in strenge, ernste Arbeiten
der einzelnen Fächer umsetzen, denen gegenüber sie selbst mit ihren Leistungen
dann schließlich als Dilettanten dnstehn. Wer sie verstehn will, muß sich
wieder in ihre Zeit hineinversetze,!; kein einziges ihrer Werke ist populär ge¬
worden, aber alle tragen etwas bei zu dem Bilde eines verschwenderisch reichen
geistigen Lebens, dessen hohes Ziel der vollkommne Mensch war, und dessen
Produkt ein litterarisches Virtuosentum gewesen ist, wie es Deutschland nicht
wieder gehabt hat. Gegen den Reichtum an Gedanken, Einfüllen und Formen,
mit dem man damals um sich warf, ist unsre neuste Romantik kümmerlich,
wie Ware aus zweiter Hand, die nur dem neu vorkommt, der die alte Ro¬
mantik nicht kennt. Wichtiger als Neudrucke ihrer Werke, die ohne weiteres
keinen großen Leserkreis mehr finden werden, sind zunächst gute Bücher über
die Romantik, vom Standpunkt unsers heutigen Wissens und in einer Schreib¬
art, die ihren Gegenstand lebendig macht. Um es stark auszudrücken, die
Unweit dieser Gedanken und die Art, wie sie entstanden, interessiert uns heute
mehr als die fertigen Werke der Romantiker; wenn sie aber außerdem selbst


Alte und n«me Romantik

lesen, nußer dein Literarhistoriker oder dem Dichter, der sich wieder für einen
Ritt in das romantische Land ausrüsten möchte, Kurz, es giebt kein großes
Ganzes hier, das wir rein und ohne historische Voraussetzungen genießen
könnten, wir müssen uns das einzelne Schöne, das noch klingt und erwärmt,
aus einer toten Masse heraussuchen, und andres könnte höchstens durch Kennt¬
nisse, die dem Einzelnen verloren sind, wieder lebendig gemacht werden. Sogar
in der Lyrik der Romantiker, von der wir ausgingen, wie selten sind da die
ganz reinen Naturlaute des Herzens, die gleich, wenn sie zum erstenmal laut
werden, eine Anweisung ans die Ewigkeit mitbringen, wie Clemens Brentanos
„Es sang vor langen Jahren"; und sehr groß ist auch die Zahl der spruch-
artigen und erzählenden Gedichte nicht, die ihren Weg in die Welt gemacht
haben oder allein ohne Kommentar machen könnten, wie es Verse von Schiller
und Goethe gethan haben bis auf den heutigen Tag. Die Romantiker sind
reizbar und empfänglich für alles, was sie umgiebt, ihr Sinnesvermögeu ist
bis ins krankhafte verfeinert und gesteigert. In einem Zwielicht, das für andre
Dunkelheit ist, sehen sie noch, oder sie meinen es wenigstens, und darum suchen
sie es mit Vorliebe auf. Sie verkehren mit dem Unbegreiflichen und sprechen
um liebsten Halbverstandnes, denn die volle Klarheit ist nüchtern wie das
Tageslicht oder wie das menschliche Denken, das z. B. nach Novalis nur ein
Traum des Fühlens ist, ein erstorbnes Fühlen, ein blaßgraues, schwaches
Leben. Daher kommt ihre Vorliebe für das Märchen, für unbestimmte Um¬
risse und schwankende Grenzen in den Künsten, für poetische Prosa und male¬
rische Plastik, das Widerspiel also von Lessing. Das ganze Wissen der da¬
maligen Welt berührt an irgend einem Punkte ihr Interesse; sie lehnen es ab
oder nehmen es an. Philosophen, Theologen, Naturforscher, Historiker,
Sprachkundige und Juristen gehören zu ihrem Kreise; sie sind die Encyklo¬
pädisten ihrer Zeit, wenigstens eines kurzen Zeitraums, bis die Anregungen,
die sie verbreiten, überall Früchte tragen und sich in strenge, ernste Arbeiten
der einzelnen Fächer umsetzen, denen gegenüber sie selbst mit ihren Leistungen
dann schließlich als Dilettanten dnstehn. Wer sie verstehn will, muß sich
wieder in ihre Zeit hineinversetze,!; kein einziges ihrer Werke ist populär ge¬
worden, aber alle tragen etwas bei zu dem Bilde eines verschwenderisch reichen
geistigen Lebens, dessen hohes Ziel der vollkommne Mensch war, und dessen
Produkt ein litterarisches Virtuosentum gewesen ist, wie es Deutschland nicht
wieder gehabt hat. Gegen den Reichtum an Gedanken, Einfüllen und Formen,
mit dem man damals um sich warf, ist unsre neuste Romantik kümmerlich,
wie Ware aus zweiter Hand, die nur dem neu vorkommt, der die alte Ro¬
mantik nicht kennt. Wichtiger als Neudrucke ihrer Werke, die ohne weiteres
keinen großen Leserkreis mehr finden werden, sind zunächst gute Bücher über
die Romantik, vom Standpunkt unsers heutigen Wissens und in einer Schreib¬
art, die ihren Gegenstand lebendig macht. Um es stark auszudrücken, die
Unweit dieser Gedanken und die Art, wie sie entstanden, interessiert uns heute
mehr als die fertigen Werke der Romantiker; wenn sie aber außerdem selbst


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[0571] Alte und n«me Romantik lesen, nußer dein Literarhistoriker oder dem Dichter, der sich wieder für einen Ritt in das romantische Land ausrüsten möchte, Kurz, es giebt kein großes Ganzes hier, das wir rein und ohne historische Voraussetzungen genießen könnten, wir müssen uns das einzelne Schöne, das noch klingt und erwärmt, aus einer toten Masse heraussuchen, und andres könnte höchstens durch Kennt¬ nisse, die dem Einzelnen verloren sind, wieder lebendig gemacht werden. Sogar in der Lyrik der Romantiker, von der wir ausgingen, wie selten sind da die ganz reinen Naturlaute des Herzens, die gleich, wenn sie zum erstenmal laut werden, eine Anweisung ans die Ewigkeit mitbringen, wie Clemens Brentanos „Es sang vor langen Jahren"; und sehr groß ist auch die Zahl der spruch- artigen und erzählenden Gedichte nicht, die ihren Weg in die Welt gemacht haben oder allein ohne Kommentar machen könnten, wie es Verse von Schiller und Goethe gethan haben bis auf den heutigen Tag. Die Romantiker sind reizbar und empfänglich für alles, was sie umgiebt, ihr Sinnesvermögeu ist bis ins krankhafte verfeinert und gesteigert. In einem Zwielicht, das für andre Dunkelheit ist, sehen sie noch, oder sie meinen es wenigstens, und darum suchen sie es mit Vorliebe auf. Sie verkehren mit dem Unbegreiflichen und sprechen um liebsten Halbverstandnes, denn die volle Klarheit ist nüchtern wie das Tageslicht oder wie das menschliche Denken, das z. B. nach Novalis nur ein Traum des Fühlens ist, ein erstorbnes Fühlen, ein blaßgraues, schwaches Leben. Daher kommt ihre Vorliebe für das Märchen, für unbestimmte Um¬ risse und schwankende Grenzen in den Künsten, für poetische Prosa und male¬ rische Plastik, das Widerspiel also von Lessing. Das ganze Wissen der da¬ maligen Welt berührt an irgend einem Punkte ihr Interesse; sie lehnen es ab oder nehmen es an. Philosophen, Theologen, Naturforscher, Historiker, Sprachkundige und Juristen gehören zu ihrem Kreise; sie sind die Encyklo¬ pädisten ihrer Zeit, wenigstens eines kurzen Zeitraums, bis die Anregungen, die sie verbreiten, überall Früchte tragen und sich in strenge, ernste Arbeiten der einzelnen Fächer umsetzen, denen gegenüber sie selbst mit ihren Leistungen dann schließlich als Dilettanten dnstehn. Wer sie verstehn will, muß sich wieder in ihre Zeit hineinversetze,!; kein einziges ihrer Werke ist populär ge¬ worden, aber alle tragen etwas bei zu dem Bilde eines verschwenderisch reichen geistigen Lebens, dessen hohes Ziel der vollkommne Mensch war, und dessen Produkt ein litterarisches Virtuosentum gewesen ist, wie es Deutschland nicht wieder gehabt hat. Gegen den Reichtum an Gedanken, Einfüllen und Formen, mit dem man damals um sich warf, ist unsre neuste Romantik kümmerlich, wie Ware aus zweiter Hand, die nur dem neu vorkommt, der die alte Ro¬ mantik nicht kennt. Wichtiger als Neudrucke ihrer Werke, die ohne weiteres keinen großen Leserkreis mehr finden werden, sind zunächst gute Bücher über die Romantik, vom Standpunkt unsers heutigen Wissens und in einer Schreib¬ art, die ihren Gegenstand lebendig macht. Um es stark auszudrücken, die Unweit dieser Gedanken und die Art, wie sie entstanden, interessiert uns heute mehr als die fertigen Werke der Romantiker; wenn sie aber außerdem selbst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/571>, abgerufen am 22.06.2024.