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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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sind seinem Beispiele gefolgt; andrerseits lassen sich Haeckel und seine Anhänger
keine Gelegenheit entgehn, durch ein ihren Schriften vorgesetztes Goethisches
Motto und durch zahlreiche Zitate aus Goethes Werken die Übereinstimmung
der Naturauffassung des Dichters mit der ihrigen nachzuweisen: überall muß
Goethe herhalten, die Weltanschauung unsrer modernen Naturphilosophen mit
seiner Autorität zu decken.

Aber wenn auch in manchen Punkten der Kurdische Naturbegriff. besonders
in erlenntnistheoretischer Hinsicht, in einem Gegensatz zu dem unsrer heutige"
Naturwissenschafter steht, und andrerseits das Goethische "gegenständliche
Deuten" in vieler Beziehung, namentlich was die Auffassung der Natur und
die Methode ihrer Erforschung betrifft, mit der modernen Naturforschung über¬
einstimmt, so ist doch im Grunde das Bild, das uns die Monisten von der
Stellung Kants und Goethes zu ihrem Standpunkt aufnötigen, nicht zu¬
treffend. Denn weder darf Kant zu deu prinzipiellen Gegnern der natur¬
wissenschaftlichen Denkweise und ihren Errungenschaften gerechnet, noch Goethe
als ein Vertreter der monistischen Weltanschauung im Haectelschen Sinne mit
ihren Konsequenzen angesehen werde"; am wenigsten aber besteht zwischen der
Kantischen nud der Goethischen Weltbetrachtung ein grundsätzlicher Widerstreit,
wie die Haeckelianer es gern glauben machen möchten."

Ich möchte hier versuchen, die vielfach verschobnen und mißverstnndneu
Beziehungen in Ordnung zu bringen und die ursprünglichem Verhältnisse wieder
herzustellen.

Was znnüchst Kant betrifft, so darf vor allen Dingen nicht vergessen
werden, das? er während seiner eiuundvierzigjährigeu Thätigkeit als Professor
in Königsberg (1755 bis 1797) die ersten fünfzehn Jahre, neben logischen
und metaphysischen Kollegien, hauptsächlich über Mathematik, Physik und
physische Geographie las;' seit 1760 las er auch über natürliche Theologie
und später über Anthropologie, Naturrecht und Moralphilosophie. Erst 1770
wurde er ordentlicher Professor der Logik und der Metaphysik; der Grundcharakter
seiner Vorlesungen war also bis zu diesem Zeitpunkte vorzugsweise natur¬
wissenschaftlich gewesen. Und während der zweiundachtzig Semester seiner ge¬
samten Lehrthätigkeit hat er zwar vierundfünfzigmal Logik und nennnndvierzig-
mal Metaphysik, aber auch siebenundvierzigmal physische Geographie nud, seit
1772, vieruudzwauzigmal Anthropologie gelesen. Dazu kommt, daß von seinen
damals üblichen drei Dissertationen zur Habilitation als Privatdozent zwei
naturwissenschaftlichen und eine spekulativen Inhalts waren, umulich 1. eine
Abhandlung über das Feuer (12. Juni 1755); 2. über die Prinzipien der
metaphysischen Erkenntnis (27. September 1755) und 8. über die physische
Monadologie (April 175V). Endlich, überschaut man die Gesamtheit seiner
Schriften, so ergiebt sich nachstehende Bilanz. Seine erste Schrift füllt in das
Gebiet der Mechanik, nämlich "Gedanken von der wahren Schätzung der leben¬
digen Kräfte" (1746). Es reihen sich ihr zwei kleine Abhandlungen physi¬
kalischen Inhalts an. Darauf erscheint (1755) die "Allgemeine Naturgeschichte


Grenzboten I 1W1 os

sind seinem Beispiele gefolgt; andrerseits lassen sich Haeckel und seine Anhänger
keine Gelegenheit entgehn, durch ein ihren Schriften vorgesetztes Goethisches
Motto und durch zahlreiche Zitate aus Goethes Werken die Übereinstimmung
der Naturauffassung des Dichters mit der ihrigen nachzuweisen: überall muß
Goethe herhalten, die Weltanschauung unsrer modernen Naturphilosophen mit
seiner Autorität zu decken.

Aber wenn auch in manchen Punkten der Kurdische Naturbegriff. besonders
in erlenntnistheoretischer Hinsicht, in einem Gegensatz zu dem unsrer heutige»
Naturwissenschafter steht, und andrerseits das Goethische „gegenständliche
Deuten" in vieler Beziehung, namentlich was die Auffassung der Natur und
die Methode ihrer Erforschung betrifft, mit der modernen Naturforschung über¬
einstimmt, so ist doch im Grunde das Bild, das uns die Monisten von der
Stellung Kants und Goethes zu ihrem Standpunkt aufnötigen, nicht zu¬
treffend. Denn weder darf Kant zu deu prinzipiellen Gegnern der natur¬
wissenschaftlichen Denkweise und ihren Errungenschaften gerechnet, noch Goethe
als ein Vertreter der monistischen Weltanschauung im Haectelschen Sinne mit
ihren Konsequenzen angesehen werde»; am wenigsten aber besteht zwischen der
Kantischen nud der Goethischen Weltbetrachtung ein grundsätzlicher Widerstreit,
wie die Haeckelianer es gern glauben machen möchten."

Ich möchte hier versuchen, die vielfach verschobnen und mißverstnndneu
Beziehungen in Ordnung zu bringen und die ursprünglichem Verhältnisse wieder
herzustellen.

Was znnüchst Kant betrifft, so darf vor allen Dingen nicht vergessen
werden, das? er während seiner eiuundvierzigjährigeu Thätigkeit als Professor
in Königsberg (1755 bis 1797) die ersten fünfzehn Jahre, neben logischen
und metaphysischen Kollegien, hauptsächlich über Mathematik, Physik und
physische Geographie las;' seit 1760 las er auch über natürliche Theologie
und später über Anthropologie, Naturrecht und Moralphilosophie. Erst 1770
wurde er ordentlicher Professor der Logik und der Metaphysik; der Grundcharakter
seiner Vorlesungen war also bis zu diesem Zeitpunkte vorzugsweise natur¬
wissenschaftlich gewesen. Und während der zweiundachtzig Semester seiner ge¬
samten Lehrthätigkeit hat er zwar vierundfünfzigmal Logik und nennnndvierzig-
mal Metaphysik, aber auch siebenundvierzigmal physische Geographie nud, seit
1772, vieruudzwauzigmal Anthropologie gelesen. Dazu kommt, daß von seinen
damals üblichen drei Dissertationen zur Habilitation als Privatdozent zwei
naturwissenschaftlichen und eine spekulativen Inhalts waren, umulich 1. eine
Abhandlung über das Feuer (12. Juni 1755); 2. über die Prinzipien der
metaphysischen Erkenntnis (27. September 1755) und 8. über die physische
Monadologie (April 175V). Endlich, überschaut man die Gesamtheit seiner
Schriften, so ergiebt sich nachstehende Bilanz. Seine erste Schrift füllt in das
Gebiet der Mechanik, nämlich „Gedanken von der wahren Schätzung der leben¬
digen Kräfte" (1746). Es reihen sich ihr zwei kleine Abhandlungen physi¬
kalischen Inhalts an. Darauf erscheint (1755) die „Allgemeine Naturgeschichte


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[0425] sind seinem Beispiele gefolgt; andrerseits lassen sich Haeckel und seine Anhänger keine Gelegenheit entgehn, durch ein ihren Schriften vorgesetztes Goethisches Motto und durch zahlreiche Zitate aus Goethes Werken die Übereinstimmung der Naturauffassung des Dichters mit der ihrigen nachzuweisen: überall muß Goethe herhalten, die Weltanschauung unsrer modernen Naturphilosophen mit seiner Autorität zu decken. Aber wenn auch in manchen Punkten der Kurdische Naturbegriff. besonders in erlenntnistheoretischer Hinsicht, in einem Gegensatz zu dem unsrer heutige» Naturwissenschafter steht, und andrerseits das Goethische „gegenständliche Deuten" in vieler Beziehung, namentlich was die Auffassung der Natur und die Methode ihrer Erforschung betrifft, mit der modernen Naturforschung über¬ einstimmt, so ist doch im Grunde das Bild, das uns die Monisten von der Stellung Kants und Goethes zu ihrem Standpunkt aufnötigen, nicht zu¬ treffend. Denn weder darf Kant zu deu prinzipiellen Gegnern der natur¬ wissenschaftlichen Denkweise und ihren Errungenschaften gerechnet, noch Goethe als ein Vertreter der monistischen Weltanschauung im Haectelschen Sinne mit ihren Konsequenzen angesehen werde»; am wenigsten aber besteht zwischen der Kantischen nud der Goethischen Weltbetrachtung ein grundsätzlicher Widerstreit, wie die Haeckelianer es gern glauben machen möchten." Ich möchte hier versuchen, die vielfach verschobnen und mißverstnndneu Beziehungen in Ordnung zu bringen und die ursprünglichem Verhältnisse wieder herzustellen. Was znnüchst Kant betrifft, so darf vor allen Dingen nicht vergessen werden, das? er während seiner eiuundvierzigjährigeu Thätigkeit als Professor in Königsberg (1755 bis 1797) die ersten fünfzehn Jahre, neben logischen und metaphysischen Kollegien, hauptsächlich über Mathematik, Physik und physische Geographie las;' seit 1760 las er auch über natürliche Theologie und später über Anthropologie, Naturrecht und Moralphilosophie. Erst 1770 wurde er ordentlicher Professor der Logik und der Metaphysik; der Grundcharakter seiner Vorlesungen war also bis zu diesem Zeitpunkte vorzugsweise natur¬ wissenschaftlich gewesen. Und während der zweiundachtzig Semester seiner ge¬ samten Lehrthätigkeit hat er zwar vierundfünfzigmal Logik und nennnndvierzig- mal Metaphysik, aber auch siebenundvierzigmal physische Geographie nud, seit 1772, vieruudzwauzigmal Anthropologie gelesen. Dazu kommt, daß von seinen damals üblichen drei Dissertationen zur Habilitation als Privatdozent zwei naturwissenschaftlichen und eine spekulativen Inhalts waren, umulich 1. eine Abhandlung über das Feuer (12. Juni 1755); 2. über die Prinzipien der metaphysischen Erkenntnis (27. September 1755) und 8. über die physische Monadologie (April 175V). Endlich, überschaut man die Gesamtheit seiner Schriften, so ergiebt sich nachstehende Bilanz. Seine erste Schrift füllt in das Gebiet der Mechanik, nämlich „Gedanken von der wahren Schätzung der leben¬ digen Kräfte" (1746). Es reihen sich ihr zwei kleine Abhandlungen physi¬ kalischen Inhalts an. Darauf erscheint (1755) die „Allgemeine Naturgeschichte Grenzboten I 1W1 os

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/425>, abgerufen am 27.06.2024.