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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Alte und neue Weltpolitik

Verderben überliefert. Ein großes nationales Ziel wurde ihr erst wieder
gesteckt, als sich das alte, einst so ruhmvolle heilige römische Reich deutscher
Nation ruhmlos aufgelöst hatte: erst die Befreiung von der Fremdherrschaft,
dann die nationale Einheit. Als beide Ziele erreicht waren, da gab es für
uns kein großes, einigendes, begeisterndes Ideal mehr, denn die nunmehr in
den Vordergrund tretende innere Politik, namentlich die Sozialreform, regte
die innern Gegensätze viel mehr auf, als daß sie sie versöhnt und ausgeglichen
hätte, wirkte also mehr spaltend als einigend. Erst die Weltpolitik hat uns
ein neues, großes Ziel gesteckt; möge es dazu wirken, die politisch geeinte Nation
auch innerlich immer mehr zusammenzuschmieden!

Eine Schwäche unsers Volkstums liegt allerdings darin, daß zu großen
Politischen Leistungen fast immer ein Anstoß von oben, eine monarchische
Leitung nötig gewesen ist. Der Eintritt in die mittelalterliche Weltpolitik ist
die persönliche That Ottos I., der Entschluß zur modernen ist die persönliche
That Wilhelms II. Nicht immer den Bedürfnissen, wohl aber der allgemeinen
Erkenntnis der Bedürfnisse ist die monarchische Leitung gewöhnlich vorausgeeilt.
Der Zollverein war das Werk des absoluten preußischen Königtums und ist
in weiten Kreisen des Volks aufs leidenschaftlichste bekämpft worden; die
Grundlagen des neuen Deutschen Reichs sind der einen Hälfte von der andern
mit Waffengewalt aufgezwungen worden, sie sind durchaus nicht seine Schöpfung;
es hat nur am Aufbau und Ausbau geholfen. Kurz, so Großes unser Volk
im einzelnen und in jeder Kulturarbeit geleistet hat, im Großen sind wir meist
sehr klein gewesen, und das politische Elend, ans dem wir uns so mühsam
und so spät erhoben haben, das haben wir lediglich selbst verschuldet. Es
ist nicht überall so. Die englische Verfassung lind das britische Weltreich sind
dick mehr die bewußte Schöpfung des englischen Volks als einzelner großer
Männer, lind die neue nordamerikanische Weltpolitik fließt aus dem Willen
des Volks der Union, dem die Regierung nur folgt. Bei uns ist es fast
immer umgekehrt gewesen, denn die Kehrseite unsers tief innerlichen, idealistisch
gerichteten und selbständigen Volkscharakters sind Doktrinarismus, Rechthaberei
und Sondertümelei; unsre politische Befähigung ist darum zu allen Zeiten sehr
gering gewesen, oder genauer genommen, sie hat sich fast immer nur in ein¬
zelnen bedeutenden Männern gezeigt. Auf ihnen beruht unsre politische Größe.
Das ist unser Stolz, aber auch unsre Schwäche. Denn die Zukunft einer
Nation wird viel mehr durch eine gleichmäßige politische Tüchtigkeit als durch
einzelne große Männer verbürgt. Das sagt warnend und besorgt der Nach¬
komme eines der größten Feldherren der Befreiungskriege. Graf York von
Wartenburg, der im Dezember vorige" Jahres im fernen China als Vor¬
kämpfer der neuen deutscheu Politik seinen Tod gefunden hat.

Es ziemt sich wohl, an diesem festlichen Tage auch solche Stimmen zu
hören, denn patriotische Feste fordern nicht nur zur Freude und zum Dank,
fondern auch zu innrer Einkehr, zur Selbstprüfung auf. Danken wir heute
Gott, daß an der Spitze unsers jungen Reichs ein Kaiser steht, der ist und


Alte und neue Weltpolitik

Verderben überliefert. Ein großes nationales Ziel wurde ihr erst wieder
gesteckt, als sich das alte, einst so ruhmvolle heilige römische Reich deutscher
Nation ruhmlos aufgelöst hatte: erst die Befreiung von der Fremdherrschaft,
dann die nationale Einheit. Als beide Ziele erreicht waren, da gab es für
uns kein großes, einigendes, begeisterndes Ideal mehr, denn die nunmehr in
den Vordergrund tretende innere Politik, namentlich die Sozialreform, regte
die innern Gegensätze viel mehr auf, als daß sie sie versöhnt und ausgeglichen
hätte, wirkte also mehr spaltend als einigend. Erst die Weltpolitik hat uns
ein neues, großes Ziel gesteckt; möge es dazu wirken, die politisch geeinte Nation
auch innerlich immer mehr zusammenzuschmieden!

Eine Schwäche unsers Volkstums liegt allerdings darin, daß zu großen
Politischen Leistungen fast immer ein Anstoß von oben, eine monarchische
Leitung nötig gewesen ist. Der Eintritt in die mittelalterliche Weltpolitik ist
die persönliche That Ottos I., der Entschluß zur modernen ist die persönliche
That Wilhelms II. Nicht immer den Bedürfnissen, wohl aber der allgemeinen
Erkenntnis der Bedürfnisse ist die monarchische Leitung gewöhnlich vorausgeeilt.
Der Zollverein war das Werk des absoluten preußischen Königtums und ist
in weiten Kreisen des Volks aufs leidenschaftlichste bekämpft worden; die
Grundlagen des neuen Deutschen Reichs sind der einen Hälfte von der andern
mit Waffengewalt aufgezwungen worden, sie sind durchaus nicht seine Schöpfung;
es hat nur am Aufbau und Ausbau geholfen. Kurz, so Großes unser Volk
im einzelnen und in jeder Kulturarbeit geleistet hat, im Großen sind wir meist
sehr klein gewesen, und das politische Elend, ans dem wir uns so mühsam
und so spät erhoben haben, das haben wir lediglich selbst verschuldet. Es
ist nicht überall so. Die englische Verfassung lind das britische Weltreich sind
dick mehr die bewußte Schöpfung des englischen Volks als einzelner großer
Männer, lind die neue nordamerikanische Weltpolitik fließt aus dem Willen
des Volks der Union, dem die Regierung nur folgt. Bei uns ist es fast
immer umgekehrt gewesen, denn die Kehrseite unsers tief innerlichen, idealistisch
gerichteten und selbständigen Volkscharakters sind Doktrinarismus, Rechthaberei
und Sondertümelei; unsre politische Befähigung ist darum zu allen Zeiten sehr
gering gewesen, oder genauer genommen, sie hat sich fast immer nur in ein¬
zelnen bedeutenden Männern gezeigt. Auf ihnen beruht unsre politische Größe.
Das ist unser Stolz, aber auch unsre Schwäche. Denn die Zukunft einer
Nation wird viel mehr durch eine gleichmäßige politische Tüchtigkeit als durch
einzelne große Männer verbürgt. Das sagt warnend und besorgt der Nach¬
komme eines der größten Feldherren der Befreiungskriege. Graf York von
Wartenburg, der im Dezember vorige» Jahres im fernen China als Vor¬
kämpfer der neuen deutscheu Politik seinen Tod gefunden hat.

Es ziemt sich wohl, an diesem festlichen Tage auch solche Stimmen zu
hören, denn patriotische Feste fordern nicht nur zur Freude und zum Dank,
fondern auch zu innrer Einkehr, zur Selbstprüfung auf. Danken wir heute
Gott, daß an der Spitze unsers jungen Reichs ein Kaiser steht, der ist und


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[0315] Alte und neue Weltpolitik Verderben überliefert. Ein großes nationales Ziel wurde ihr erst wieder gesteckt, als sich das alte, einst so ruhmvolle heilige römische Reich deutscher Nation ruhmlos aufgelöst hatte: erst die Befreiung von der Fremdherrschaft, dann die nationale Einheit. Als beide Ziele erreicht waren, da gab es für uns kein großes, einigendes, begeisterndes Ideal mehr, denn die nunmehr in den Vordergrund tretende innere Politik, namentlich die Sozialreform, regte die innern Gegensätze viel mehr auf, als daß sie sie versöhnt und ausgeglichen hätte, wirkte also mehr spaltend als einigend. Erst die Weltpolitik hat uns ein neues, großes Ziel gesteckt; möge es dazu wirken, die politisch geeinte Nation auch innerlich immer mehr zusammenzuschmieden! Eine Schwäche unsers Volkstums liegt allerdings darin, daß zu großen Politischen Leistungen fast immer ein Anstoß von oben, eine monarchische Leitung nötig gewesen ist. Der Eintritt in die mittelalterliche Weltpolitik ist die persönliche That Ottos I., der Entschluß zur modernen ist die persönliche That Wilhelms II. Nicht immer den Bedürfnissen, wohl aber der allgemeinen Erkenntnis der Bedürfnisse ist die monarchische Leitung gewöhnlich vorausgeeilt. Der Zollverein war das Werk des absoluten preußischen Königtums und ist in weiten Kreisen des Volks aufs leidenschaftlichste bekämpft worden; die Grundlagen des neuen Deutschen Reichs sind der einen Hälfte von der andern mit Waffengewalt aufgezwungen worden, sie sind durchaus nicht seine Schöpfung; es hat nur am Aufbau und Ausbau geholfen. Kurz, so Großes unser Volk im einzelnen und in jeder Kulturarbeit geleistet hat, im Großen sind wir meist sehr klein gewesen, und das politische Elend, ans dem wir uns so mühsam und so spät erhoben haben, das haben wir lediglich selbst verschuldet. Es ist nicht überall so. Die englische Verfassung lind das britische Weltreich sind dick mehr die bewußte Schöpfung des englischen Volks als einzelner großer Männer, lind die neue nordamerikanische Weltpolitik fließt aus dem Willen des Volks der Union, dem die Regierung nur folgt. Bei uns ist es fast immer umgekehrt gewesen, denn die Kehrseite unsers tief innerlichen, idealistisch gerichteten und selbständigen Volkscharakters sind Doktrinarismus, Rechthaberei und Sondertümelei; unsre politische Befähigung ist darum zu allen Zeiten sehr gering gewesen, oder genauer genommen, sie hat sich fast immer nur in ein¬ zelnen bedeutenden Männern gezeigt. Auf ihnen beruht unsre politische Größe. Das ist unser Stolz, aber auch unsre Schwäche. Denn die Zukunft einer Nation wird viel mehr durch eine gleichmäßige politische Tüchtigkeit als durch einzelne große Männer verbürgt. Das sagt warnend und besorgt der Nach¬ komme eines der größten Feldherren der Befreiungskriege. Graf York von Wartenburg, der im Dezember vorige» Jahres im fernen China als Vor¬ kämpfer der neuen deutscheu Politik seinen Tod gefunden hat. Es ziemt sich wohl, an diesem festlichen Tage auch solche Stimmen zu hören, denn patriotische Feste fordern nicht nur zur Freude und zum Dank, fondern auch zu innrer Einkehr, zur Selbstprüfung auf. Danken wir heute Gott, daß an der Spitze unsers jungen Reichs ein Kaiser steht, der ist und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/315>, abgerufen am 29.06.2024.