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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

obern Klasse gelangt man zu demselben Ergebnis, da in dieser das Englische als
wahlfreies, aber unter den heutigen Verhältnissen notwendiges Fach hinzutritt. Und
nun die häusliche Arbeit! Auf dem Papier nehmen sich ja die Verordnungen sür
die Beschränkung der häuslichen Arbeiten ganz schön aus, die Wirklichkeit ist aber ganz
anders. Der Schüler einer höhern Klasse hat fast keinen Tag unter zwei Stunden,
sehr hänfig über drei und vier zu arbeiten. Ein paar mathematische Aufgaben nehmen
oft allein diese Zeit in Anspruch. Dazu kommt noch die fortgesetzte Aufregung der
Schüler durch die im Übermaß getriebne Extcmpvralienschreiberei, die zwar ihr sehr
Bequemes für die Lehrer hat, die Jungen aber geradezu aufreibt; und zum Schluß
das Drängen und Treiben der Lehrer vor den Prüfungen. Die sogenannte Abschlnß-
prüfnng nach dem einjährigen Besuch der Untersekunda ist auch in dieser Beziehung
ungemein schädlich, da den Schülern ein ruhiges Fortarbeiten unmöglich gemacht wird;
denn schon von der ersten Stunde des Jahres an ängstigt man sie mit diesem Ge¬
spenst, das hoffentlich recht bald in den Orkus versinkt. Wenn wir Schul- und Arbeits¬
stunden zusammenzählen, so kommen wir ans rund sechzig Stunden wöchentlich, macht
also'für den Tag zehn Stunden. Wer daneben noch Musik oder eine andre Kunst
pflegen will (und schließlich hat ein Mensch doch much das Recht, etwas Kunst zu
üben), der muß seiner Erholung noch mehr Stunden entziehn. "Die Schule, so
lese ich in einem pädagogischen Buch, soll nimmermehr glnnben, daß sie allein bilde
und erziehe. Die freie Arbeit des Einzelnen für sich und an sich thut es mit ihr
in hohem Maße. Darum darf eine jede Schule ihren Schntzbefohluen nicht nur
für sich in Anspruch nehmen, wenn sie freies Interesse und Individualität nicht
geradezu erdrücken will. Die Hingabe an eigne Liebhabereien, der Umgang mit
der Natur, die Pflege der Künste beanspruchen entschiedne Berücksichtigung seitens
der Schule, damit Bedingungen geschaffen werden, unter denen das Gemüt von
mancherlei Mißbehagen, Spannungen, Gedrücktheit oder gar leidenschaftlichen Sire¬
bnn gen abgelenkt werde, die gar zu leicht durch unaufhörlichen Druck überhäufter
Schularbeit eintreten." Das sind goldne Worte, aber sie werden nicht befolgt.

Ich habe es seit meiner eignen Jngend noch nicht erlebt, daß Gymnasiasten
auf eigne Faust hinausgezogen sind in Feld und Wald, um Räuber und Gendarm
oder Soldaten zu spielen; sie können ja gar nicht mehr allein spielen, mindestens
el" Probekandidat muß dabei sein. Unter solchen Umständen fehlt much die rechte
Freudigkeit zum lernen, und mit Leidenschaft sehnt der innge Mann die Zeit herbei,
wo er die Bücher in die Ecke werfen und einmal nach eignem Geschmack und Wohl¬
gefallen leben kann. Je größer während der Schulzeit der Druck gewesen ist, desto
maßloser wird nach dieser der Genuß. Mir ist es nicht zweifelhaft, daß die Ur¬
sachen der kürzlich von zwanzig Universitätsprofessoren beklagten geschlechtlichen Aus¬
schreitungen der Studenten zum Teil ans die Überbürdung der Gymnasiasten zurück¬
zuführen sind. Der zweiundsiebzigste Naturforscher- und Ärztetag hat vierundzwauzig
Unterrichtsstunden wöchentlich als das höchste Maß aufgestellt; er nennt die Ab¬
schlußprüfung in Untersekunda einen Hohn ans die Hygiene und verlangt, daß der
Nachmittag der Erholung gehöre. Und wen" die Lehrer an Gymnasien behaupten,
es gebe keine Überbürdung, so irren sie sich; sie wird verursacht durch die vielen
Fächer und dadurch, daß heutzutage in allen Fächern etwas geleistet werden muß.
Als wir Gymnasiasten waren, genügte es, in Latein und Griechisch etwas zu können
und einen befriedigenden deutschen Aufsatz zu schreiben; die mathematischen Arbeiten
wurden meist von den Lichtern der Klasse abgeschrieben, für die übrigen Fächer
arbeitete man überhaupt "indes. Das ist jetzt ganz anders geworden, und wenn
die Behörde wirklich vorhat, auch das Englische verbindlich zu machen, dann mag
sie neben jedes Gymnasium eine Nerven- oder Jrrenheilauslnlt bauen, es wird ihr
um Insassen nicht fehlen. Schließlich ist ein Schüler doch anch ein Mensch, sozusagen,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

obern Klasse gelangt man zu demselben Ergebnis, da in dieser das Englische als
wahlfreies, aber unter den heutigen Verhältnissen notwendiges Fach hinzutritt. Und
nun die häusliche Arbeit! Auf dem Papier nehmen sich ja die Verordnungen sür
die Beschränkung der häuslichen Arbeiten ganz schön aus, die Wirklichkeit ist aber ganz
anders. Der Schüler einer höhern Klasse hat fast keinen Tag unter zwei Stunden,
sehr hänfig über drei und vier zu arbeiten. Ein paar mathematische Aufgaben nehmen
oft allein diese Zeit in Anspruch. Dazu kommt noch die fortgesetzte Aufregung der
Schüler durch die im Übermaß getriebne Extcmpvralienschreiberei, die zwar ihr sehr
Bequemes für die Lehrer hat, die Jungen aber geradezu aufreibt; und zum Schluß
das Drängen und Treiben der Lehrer vor den Prüfungen. Die sogenannte Abschlnß-
prüfnng nach dem einjährigen Besuch der Untersekunda ist auch in dieser Beziehung
ungemein schädlich, da den Schülern ein ruhiges Fortarbeiten unmöglich gemacht wird;
denn schon von der ersten Stunde des Jahres an ängstigt man sie mit diesem Ge¬
spenst, das hoffentlich recht bald in den Orkus versinkt. Wenn wir Schul- und Arbeits¬
stunden zusammenzählen, so kommen wir ans rund sechzig Stunden wöchentlich, macht
also'für den Tag zehn Stunden. Wer daneben noch Musik oder eine andre Kunst
pflegen will (und schließlich hat ein Mensch doch much das Recht, etwas Kunst zu
üben), der muß seiner Erholung noch mehr Stunden entziehn. „Die Schule, so
lese ich in einem pädagogischen Buch, soll nimmermehr glnnben, daß sie allein bilde
und erziehe. Die freie Arbeit des Einzelnen für sich und an sich thut es mit ihr
in hohem Maße. Darum darf eine jede Schule ihren Schntzbefohluen nicht nur
für sich in Anspruch nehmen, wenn sie freies Interesse und Individualität nicht
geradezu erdrücken will. Die Hingabe an eigne Liebhabereien, der Umgang mit
der Natur, die Pflege der Künste beanspruchen entschiedne Berücksichtigung seitens
der Schule, damit Bedingungen geschaffen werden, unter denen das Gemüt von
mancherlei Mißbehagen, Spannungen, Gedrücktheit oder gar leidenschaftlichen Sire¬
bnn gen abgelenkt werde, die gar zu leicht durch unaufhörlichen Druck überhäufter
Schularbeit eintreten." Das sind goldne Worte, aber sie werden nicht befolgt.

Ich habe es seit meiner eignen Jngend noch nicht erlebt, daß Gymnasiasten
auf eigne Faust hinausgezogen sind in Feld und Wald, um Räuber und Gendarm
oder Soldaten zu spielen; sie können ja gar nicht mehr allein spielen, mindestens
el» Probekandidat muß dabei sein. Unter solchen Umständen fehlt much die rechte
Freudigkeit zum lernen, und mit Leidenschaft sehnt der innge Mann die Zeit herbei,
wo er die Bücher in die Ecke werfen und einmal nach eignem Geschmack und Wohl¬
gefallen leben kann. Je größer während der Schulzeit der Druck gewesen ist, desto
maßloser wird nach dieser der Genuß. Mir ist es nicht zweifelhaft, daß die Ur¬
sachen der kürzlich von zwanzig Universitätsprofessoren beklagten geschlechtlichen Aus¬
schreitungen der Studenten zum Teil ans die Überbürdung der Gymnasiasten zurück¬
zuführen sind. Der zweiundsiebzigste Naturforscher- und Ärztetag hat vierundzwauzig
Unterrichtsstunden wöchentlich als das höchste Maß aufgestellt; er nennt die Ab¬
schlußprüfung in Untersekunda einen Hohn ans die Hygiene und verlangt, daß der
Nachmittag der Erholung gehöre. Und wen» die Lehrer an Gymnasien behaupten,
es gebe keine Überbürdung, so irren sie sich; sie wird verursacht durch die vielen
Fächer und dadurch, daß heutzutage in allen Fächern etwas geleistet werden muß.
Als wir Gymnasiasten waren, genügte es, in Latein und Griechisch etwas zu können
und einen befriedigenden deutschen Aufsatz zu schreiben; die mathematischen Arbeiten
wurden meist von den Lichtern der Klasse abgeschrieben, für die übrigen Fächer
arbeitete man überhaupt «indes. Das ist jetzt ganz anders geworden, und wenn
die Behörde wirklich vorhat, auch das Englische verbindlich zu machen, dann mag
sie neben jedes Gymnasium eine Nerven- oder Jrrenheilauslnlt bauen, es wird ihr
um Insassen nicht fehlen. Schließlich ist ein Schüler doch anch ein Mensch, sozusagen,


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[0154] Maßgebliches und Unmaßgebliches obern Klasse gelangt man zu demselben Ergebnis, da in dieser das Englische als wahlfreies, aber unter den heutigen Verhältnissen notwendiges Fach hinzutritt. Und nun die häusliche Arbeit! Auf dem Papier nehmen sich ja die Verordnungen sür die Beschränkung der häuslichen Arbeiten ganz schön aus, die Wirklichkeit ist aber ganz anders. Der Schüler einer höhern Klasse hat fast keinen Tag unter zwei Stunden, sehr hänfig über drei und vier zu arbeiten. Ein paar mathematische Aufgaben nehmen oft allein diese Zeit in Anspruch. Dazu kommt noch die fortgesetzte Aufregung der Schüler durch die im Übermaß getriebne Extcmpvralienschreiberei, die zwar ihr sehr Bequemes für die Lehrer hat, die Jungen aber geradezu aufreibt; und zum Schluß das Drängen und Treiben der Lehrer vor den Prüfungen. Die sogenannte Abschlnß- prüfnng nach dem einjährigen Besuch der Untersekunda ist auch in dieser Beziehung ungemein schädlich, da den Schülern ein ruhiges Fortarbeiten unmöglich gemacht wird; denn schon von der ersten Stunde des Jahres an ängstigt man sie mit diesem Ge¬ spenst, das hoffentlich recht bald in den Orkus versinkt. Wenn wir Schul- und Arbeits¬ stunden zusammenzählen, so kommen wir ans rund sechzig Stunden wöchentlich, macht also'für den Tag zehn Stunden. Wer daneben noch Musik oder eine andre Kunst pflegen will (und schließlich hat ein Mensch doch much das Recht, etwas Kunst zu üben), der muß seiner Erholung noch mehr Stunden entziehn. „Die Schule, so lese ich in einem pädagogischen Buch, soll nimmermehr glnnben, daß sie allein bilde und erziehe. Die freie Arbeit des Einzelnen für sich und an sich thut es mit ihr in hohem Maße. Darum darf eine jede Schule ihren Schntzbefohluen nicht nur für sich in Anspruch nehmen, wenn sie freies Interesse und Individualität nicht geradezu erdrücken will. Die Hingabe an eigne Liebhabereien, der Umgang mit der Natur, die Pflege der Künste beanspruchen entschiedne Berücksichtigung seitens der Schule, damit Bedingungen geschaffen werden, unter denen das Gemüt von mancherlei Mißbehagen, Spannungen, Gedrücktheit oder gar leidenschaftlichen Sire¬ bnn gen abgelenkt werde, die gar zu leicht durch unaufhörlichen Druck überhäufter Schularbeit eintreten." Das sind goldne Worte, aber sie werden nicht befolgt. Ich habe es seit meiner eignen Jngend noch nicht erlebt, daß Gymnasiasten auf eigne Faust hinausgezogen sind in Feld und Wald, um Räuber und Gendarm oder Soldaten zu spielen; sie können ja gar nicht mehr allein spielen, mindestens el» Probekandidat muß dabei sein. Unter solchen Umständen fehlt much die rechte Freudigkeit zum lernen, und mit Leidenschaft sehnt der innge Mann die Zeit herbei, wo er die Bücher in die Ecke werfen und einmal nach eignem Geschmack und Wohl¬ gefallen leben kann. Je größer während der Schulzeit der Druck gewesen ist, desto maßloser wird nach dieser der Genuß. Mir ist es nicht zweifelhaft, daß die Ur¬ sachen der kürzlich von zwanzig Universitätsprofessoren beklagten geschlechtlichen Aus¬ schreitungen der Studenten zum Teil ans die Überbürdung der Gymnasiasten zurück¬ zuführen sind. Der zweiundsiebzigste Naturforscher- und Ärztetag hat vierundzwauzig Unterrichtsstunden wöchentlich als das höchste Maß aufgestellt; er nennt die Ab¬ schlußprüfung in Untersekunda einen Hohn ans die Hygiene und verlangt, daß der Nachmittag der Erholung gehöre. Und wen» die Lehrer an Gymnasien behaupten, es gebe keine Überbürdung, so irren sie sich; sie wird verursacht durch die vielen Fächer und dadurch, daß heutzutage in allen Fächern etwas geleistet werden muß. Als wir Gymnasiasten waren, genügte es, in Latein und Griechisch etwas zu können und einen befriedigenden deutschen Aufsatz zu schreiben; die mathematischen Arbeiten wurden meist von den Lichtern der Klasse abgeschrieben, für die übrigen Fächer arbeitete man überhaupt «indes. Das ist jetzt ganz anders geworden, und wenn die Behörde wirklich vorhat, auch das Englische verbindlich zu machen, dann mag sie neben jedes Gymnasium eine Nerven- oder Jrrenheilauslnlt bauen, es wird ihr um Insassen nicht fehlen. Schließlich ist ein Schüler doch anch ein Mensch, sozusagen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/154>, abgerufen am 29.06.2024.