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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Christentums, und wenn sie von den großen Kirchen verleugnet wird, so kann das
nicht ohne arge Schädigung des Christentums geschehn; deshalb werden die Bischöfe,
Generalsuperintendenten und Konsistorialräte gut daran thun, auf den Propheten
von Jasnaja Poljcmc, zu hören. Und der Keim des Verderbens, das die Russen
mit Giftblüten und faulen Früchten umbringt, liegt in jeder Zivilisation und in
jedem Staat; darum wird es den Mächtigen nützen, wenn sie die Wirkungen der
anfgegangnen Giftpflanze betrachten, wie Tolstoi sie schildert. Wie nützlich wäre
es z. B. den -- sagen wir italienischen Richtern und Staatsanwälten, wenn
sie die Justiz- und Gefängnisstudien in "Auferstehung" lasen und beherzigten! Und
mag er in der Moral übertreiben -- solche Übertreibung ist manchmal das einzige
Mittel, einen hcirtgesottnen Sünder zu erschüttern; und für solche, die in keine
Kirche mehr gehn, ersehen Tolstois Romane und Schauspiele den Prediger. Zudem
sind die sittlichen, religiösen, ästhetischen und volkswirtschaftlichen Probleme, die
Tolstoi erörtert, noch keineswegs gelöst, und löst er sie selbst auch vielfach falsch,
so regt er doch kräftig zu weiterer Forschung an, und anch seinen Verirrungen,
z. B. seinem Abscheu vor den Städten, einer Naturliebe, die sich bis zur Bevor¬
zugung des Schmutzes steigert, liegen doch berechtigte Empfindungen und dringend
der Lösung bedürftige Probleme zu Grunde. Endlich kann die edle Thorheit des
frommen Tolstoi als Gegengift und Gegengewicht gegen die ruchlose Narrheit des
unfrommen Nietzsche wirken. (Nur objektiv, nicht subjektiv ruchlos, denn seine
spätern Sachen hat Nietzsche ja in einem nicht mehr ganz zurechnungsfähigen Zu¬
stande geschrieben.) Deshalb ist ein Breviarium, das aus Tolstois Werken die
schönsten Predigten zusammenstellt, eine dankenswerte Gabe. Ein solches hat
Dr. Wilhelm Bode verfaßt: Die Lehren Tolstois. Ein Gedankenauszug aus
allen seinen Werken. Mit zwei Bildern (Weimar, W. Bodes Verlag, 1900).
Bode erklärt Tolstois Eigentümlichkeit ganz so wie wir und korrigiert seiue Über¬
treibungen, z. B. auch in der Alkoholfrage, obwohl Bode selbst bekanntlich an der
Spitze der deutschen Mäßigkeitsbeweguug steht. Das Büchlein ist biographisch ge¬
halten und läßt durch Sammlung von Charaktcrzügen (wobei u. a. auch die Skizze
"Ein Tag bei Tolstoi" im letzten Septemberheft des vorigen Jahrgangs der Grenz¬
boten benutzt wird) das deutlich hervortreten, worin sich die Seelengröße des
Mannes offenbart, daß er seine Lehre auch lebt. Wenn man ihn einen wunder¬
lichen Heiligen nennt, wird man den Ton auf das Substantivum legen müssen;
damit macht man sich keiner Übertreibung schuldig. Und mag man sein Dünger¬
laden und seine Schufterei belächeln, daß er kein unpraktischer Narr ist, hat er
durch seine geniale Schulleitung bewiesen, die ebenso des Studiums wert wäre,
wie die des ebenfalls für einen Narren ausgeschrieenen Pestalozzi, sowie durch seine
Thätigkeit in den Hungersnöten. Da Tolstoi vom Almosenspenden nichts hält und
als einziges Radikalmittel gegen soziale Nöte die sittliche Wiedergeburt der Armen
wie der Reichen fordert, hat er, der Warme, Weiche, in der Hungersnot von 1891
sich ganz lundisch benommen: ohne Freudigkeit, "kühl bis ans Herz hinan," nur
eben seine Schuldigkeit gethan. Die aber mit staunenswerter Umsicht und glänzendem
Erfolg. Er hat das Gebiet seiner Thätigkeit streng nach seinen Mitteln abgegrenzt
(die nicht unbedeutend waren; es flössen ihm 142598 Rubel zu), hat zwei Jahre
lang ganz unter den Hungernden gelebt, in 246 Dörfern ebensoviele Volksküchen
und 124 Kinderkrippen eingerichtet, den Lebensmittelverkauf zu billigen Preisen,
die Brotbäckerei zweckmäßig organisiert, 276 Pferde den Winter über in Gegenden
geschickt, wo sie Futter fanden und sie im Frühjahr zur Ackerarbeit zurückholen
lassen, für Brennholz, für Saatgetreide und für Hausindustrie gesorgt und andre
Menschenfreunde zur Nachahmung angeregt; alles das mit dem klaren Bewußtsein,
daß er damit keine dauernde Besserung herbeiführe. "Ich schäme mich dieser Arbeit,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Christentums, und wenn sie von den großen Kirchen verleugnet wird, so kann das
nicht ohne arge Schädigung des Christentums geschehn; deshalb werden die Bischöfe,
Generalsuperintendenten und Konsistorialräte gut daran thun, auf den Propheten
von Jasnaja Poljcmc, zu hören. Und der Keim des Verderbens, das die Russen
mit Giftblüten und faulen Früchten umbringt, liegt in jeder Zivilisation und in
jedem Staat; darum wird es den Mächtigen nützen, wenn sie die Wirkungen der
anfgegangnen Giftpflanze betrachten, wie Tolstoi sie schildert. Wie nützlich wäre
es z. B. den — sagen wir italienischen Richtern und Staatsanwälten, wenn
sie die Justiz- und Gefängnisstudien in „Auferstehung" lasen und beherzigten! Und
mag er in der Moral übertreiben — solche Übertreibung ist manchmal das einzige
Mittel, einen hcirtgesottnen Sünder zu erschüttern; und für solche, die in keine
Kirche mehr gehn, ersehen Tolstois Romane und Schauspiele den Prediger. Zudem
sind die sittlichen, religiösen, ästhetischen und volkswirtschaftlichen Probleme, die
Tolstoi erörtert, noch keineswegs gelöst, und löst er sie selbst auch vielfach falsch,
so regt er doch kräftig zu weiterer Forschung an, und anch seinen Verirrungen,
z. B. seinem Abscheu vor den Städten, einer Naturliebe, die sich bis zur Bevor¬
zugung des Schmutzes steigert, liegen doch berechtigte Empfindungen und dringend
der Lösung bedürftige Probleme zu Grunde. Endlich kann die edle Thorheit des
frommen Tolstoi als Gegengift und Gegengewicht gegen die ruchlose Narrheit des
unfrommen Nietzsche wirken. (Nur objektiv, nicht subjektiv ruchlos, denn seine
spätern Sachen hat Nietzsche ja in einem nicht mehr ganz zurechnungsfähigen Zu¬
stande geschrieben.) Deshalb ist ein Breviarium, das aus Tolstois Werken die
schönsten Predigten zusammenstellt, eine dankenswerte Gabe. Ein solches hat
Dr. Wilhelm Bode verfaßt: Die Lehren Tolstois. Ein Gedankenauszug aus
allen seinen Werken. Mit zwei Bildern (Weimar, W. Bodes Verlag, 1900).
Bode erklärt Tolstois Eigentümlichkeit ganz so wie wir und korrigiert seiue Über¬
treibungen, z. B. auch in der Alkoholfrage, obwohl Bode selbst bekanntlich an der
Spitze der deutschen Mäßigkeitsbeweguug steht. Das Büchlein ist biographisch ge¬
halten und läßt durch Sammlung von Charaktcrzügen (wobei u. a. auch die Skizze
„Ein Tag bei Tolstoi" im letzten Septemberheft des vorigen Jahrgangs der Grenz¬
boten benutzt wird) das deutlich hervortreten, worin sich die Seelengröße des
Mannes offenbart, daß er seine Lehre auch lebt. Wenn man ihn einen wunder¬
lichen Heiligen nennt, wird man den Ton auf das Substantivum legen müssen;
damit macht man sich keiner Übertreibung schuldig. Und mag man sein Dünger¬
laden und seine Schufterei belächeln, daß er kein unpraktischer Narr ist, hat er
durch seine geniale Schulleitung bewiesen, die ebenso des Studiums wert wäre,
wie die des ebenfalls für einen Narren ausgeschrieenen Pestalozzi, sowie durch seine
Thätigkeit in den Hungersnöten. Da Tolstoi vom Almosenspenden nichts hält und
als einziges Radikalmittel gegen soziale Nöte die sittliche Wiedergeburt der Armen
wie der Reichen fordert, hat er, der Warme, Weiche, in der Hungersnot von 1891
sich ganz lundisch benommen: ohne Freudigkeit, „kühl bis ans Herz hinan," nur
eben seine Schuldigkeit gethan. Die aber mit staunenswerter Umsicht und glänzendem
Erfolg. Er hat das Gebiet seiner Thätigkeit streng nach seinen Mitteln abgegrenzt
(die nicht unbedeutend waren; es flössen ihm 142598 Rubel zu), hat zwei Jahre
lang ganz unter den Hungernden gelebt, in 246 Dörfern ebensoviele Volksküchen
und 124 Kinderkrippen eingerichtet, den Lebensmittelverkauf zu billigen Preisen,
die Brotbäckerei zweckmäßig organisiert, 276 Pferde den Winter über in Gegenden
geschickt, wo sie Futter fanden und sie im Frühjahr zur Ackerarbeit zurückholen
lassen, für Brennholz, für Saatgetreide und für Hausindustrie gesorgt und andre
Menschenfreunde zur Nachahmung angeregt; alles das mit dem klaren Bewußtsein,
daß er damit keine dauernde Besserung herbeiführe. „Ich schäme mich dieser Arbeit,


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[0108] Maßgebliches und Unmaßgebliches Christentums, und wenn sie von den großen Kirchen verleugnet wird, so kann das nicht ohne arge Schädigung des Christentums geschehn; deshalb werden die Bischöfe, Generalsuperintendenten und Konsistorialräte gut daran thun, auf den Propheten von Jasnaja Poljcmc, zu hören. Und der Keim des Verderbens, das die Russen mit Giftblüten und faulen Früchten umbringt, liegt in jeder Zivilisation und in jedem Staat; darum wird es den Mächtigen nützen, wenn sie die Wirkungen der anfgegangnen Giftpflanze betrachten, wie Tolstoi sie schildert. Wie nützlich wäre es z. B. den — sagen wir italienischen Richtern und Staatsanwälten, wenn sie die Justiz- und Gefängnisstudien in „Auferstehung" lasen und beherzigten! Und mag er in der Moral übertreiben — solche Übertreibung ist manchmal das einzige Mittel, einen hcirtgesottnen Sünder zu erschüttern; und für solche, die in keine Kirche mehr gehn, ersehen Tolstois Romane und Schauspiele den Prediger. Zudem sind die sittlichen, religiösen, ästhetischen und volkswirtschaftlichen Probleme, die Tolstoi erörtert, noch keineswegs gelöst, und löst er sie selbst auch vielfach falsch, so regt er doch kräftig zu weiterer Forschung an, und anch seinen Verirrungen, z. B. seinem Abscheu vor den Städten, einer Naturliebe, die sich bis zur Bevor¬ zugung des Schmutzes steigert, liegen doch berechtigte Empfindungen und dringend der Lösung bedürftige Probleme zu Grunde. Endlich kann die edle Thorheit des frommen Tolstoi als Gegengift und Gegengewicht gegen die ruchlose Narrheit des unfrommen Nietzsche wirken. (Nur objektiv, nicht subjektiv ruchlos, denn seine spätern Sachen hat Nietzsche ja in einem nicht mehr ganz zurechnungsfähigen Zu¬ stande geschrieben.) Deshalb ist ein Breviarium, das aus Tolstois Werken die schönsten Predigten zusammenstellt, eine dankenswerte Gabe. Ein solches hat Dr. Wilhelm Bode verfaßt: Die Lehren Tolstois. Ein Gedankenauszug aus allen seinen Werken. Mit zwei Bildern (Weimar, W. Bodes Verlag, 1900). Bode erklärt Tolstois Eigentümlichkeit ganz so wie wir und korrigiert seiue Über¬ treibungen, z. B. auch in der Alkoholfrage, obwohl Bode selbst bekanntlich an der Spitze der deutschen Mäßigkeitsbeweguug steht. Das Büchlein ist biographisch ge¬ halten und läßt durch Sammlung von Charaktcrzügen (wobei u. a. auch die Skizze „Ein Tag bei Tolstoi" im letzten Septemberheft des vorigen Jahrgangs der Grenz¬ boten benutzt wird) das deutlich hervortreten, worin sich die Seelengröße des Mannes offenbart, daß er seine Lehre auch lebt. Wenn man ihn einen wunder¬ lichen Heiligen nennt, wird man den Ton auf das Substantivum legen müssen; damit macht man sich keiner Übertreibung schuldig. Und mag man sein Dünger¬ laden und seine Schufterei belächeln, daß er kein unpraktischer Narr ist, hat er durch seine geniale Schulleitung bewiesen, die ebenso des Studiums wert wäre, wie die des ebenfalls für einen Narren ausgeschrieenen Pestalozzi, sowie durch seine Thätigkeit in den Hungersnöten. Da Tolstoi vom Almosenspenden nichts hält und als einziges Radikalmittel gegen soziale Nöte die sittliche Wiedergeburt der Armen wie der Reichen fordert, hat er, der Warme, Weiche, in der Hungersnot von 1891 sich ganz lundisch benommen: ohne Freudigkeit, „kühl bis ans Herz hinan," nur eben seine Schuldigkeit gethan. Die aber mit staunenswerter Umsicht und glänzendem Erfolg. Er hat das Gebiet seiner Thätigkeit streng nach seinen Mitteln abgegrenzt (die nicht unbedeutend waren; es flössen ihm 142598 Rubel zu), hat zwei Jahre lang ganz unter den Hungernden gelebt, in 246 Dörfern ebensoviele Volksküchen und 124 Kinderkrippen eingerichtet, den Lebensmittelverkauf zu billigen Preisen, die Brotbäckerei zweckmäßig organisiert, 276 Pferde den Winter über in Gegenden geschickt, wo sie Futter fanden und sie im Frühjahr zur Ackerarbeit zurückholen lassen, für Brennholz, für Saatgetreide und für Hausindustrie gesorgt und andre Menschenfreunde zur Nachahmung angeregt; alles das mit dem klaren Bewußtsein, daß er damit keine dauernde Besserung herbeiführe. „Ich schäme mich dieser Arbeit,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/108>, abgerufen am 01.07.2024.