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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Briefe eines Zurückgekehrten

lebenslustigen und nachgiebigen Thüringer zu greifen ist. Aber das Über¬
gewicht der breiten Wendengesichter tritt doch für deu, der von Westen kommt,
in Mitteldeutschland erst jenseits der Saale ein. So ist auch für den von
Süden Kommenden die mittlere und untere Pleiße- und Elstergegend der
Grenzstrich, wo er sich von entschieden östlichen Lüften angeweht fühlt. Es ist
in gewissem Sinne auch eine Art Halbasieu, wo schon das sich urdeutsch fühlende
Leipzig liegt, denn in der Rasse und im Volkscharakter beginnen mongolische
Züge stärker hervorzutreten. Hier beginnt die Herrschaft des Breitschädels,
der seine höchste oder vielmehr breiteste Entwicklung bei den Mongolen und
Kirgisen findet, sowie das Tiefland vou hier an keine Unterbrechung mehr hat
bis zum Fuße des zentralasiatischen Hochlandes; und mit ihm beginnt das
breite Gesicht. Nicht auf den Schultern des Westdeutschen sitzt die eigentliche
tßw oiU'rsö, und der obersüchsische Philister, den uns Ludwig Richter als
deutscheu Typus gezeichnet hat, ist das Erzeugnis einer Rassenmischung.

Wenn ich im Kreise biederer Ostdeutscher sitze, bekleide ich im Geiste
manchen mit Zopf, Seidengewmid und korallenknopfgeschinücktem Mandarinen-
Hut, und es schaut mich aus Augen, die uoch an einen geschlitzten Ursprung
erinnern, und über bedeutenden Wulstungen der Backenknochen das Antlitz
eines unverfälschten Li oder Scherg an. Ein berühmter Professor der Leipziger
Universität -- sie sind übrigens alle berühmt -- schien mir hervorragend
mnndarinenhnft zu sei", und als ich mich nach seinen wissenschaftlichen Ver¬
diensten erkundigte, vernahm ich, daß er ungeheuer gelehrt sei, daß aber noch
niemand einen neuen Gedanke" von ihm vernommen habe. Ist das nicht eine
chinesische Art von Gelehrsamkeit? Und wieviele Mandarinen dieser Klasse
sitzen auf deutschen Lehrstühlen und erhitzen sich ihren Ruhm?

Gotha ist eine hübsche Vertreterin der thüringischen Residenzstädte. Das
alte Gotha hat sich in den letzten Jahrzehnten mit ausgedehnten, freundlichen
Villeustraßeu umgeben. Schon früher war es durch die Lage des Schlosses
mit seinem herrlichen Garten inmitten der Stadt begünstigt. Diese enge Ver¬
gesellschaftung von Park und Stadt ist recht bezeichnend für das Verhältnis
dieser Fürsten zu ihren Bürgern. Schloß und Hütte trennt mir ein Garten,
an dem beide Insassen sich erfreuen. Mau durchwandre deu alten engen Kern
von Gotha mit den schmalen Gassen und unscheinbaren Häusern, und mau
wird beim Hinaustreten in die grünen Parkanlagen das Gefühl haben, daß
diese Bürgerschaft ihren Fürsten viel verdankt. Es waren keine Bernharde
und Karl Auguste, diese alten Gothaischen Herzöge, aber so manches Gute
haben sie doch hinterlassen. Manchmal hat sich in ihnen ein freier Geistes¬
funke geregt. Sie haben ihren Anteil an zwei Anstalten, die das kleine
Gotha berühmt gemacht haben, als es uoch im Vergleich zu dem heutigen ein
ärmliches Nest war: an der Sternwarte und an dem Geographischen Institut.
Das gehört auch zu deu Lehren der Geschichte der kleinen deutschen Residenz¬
städte, daß so mancher Keim, den das Bürgertum nicht mehr hegen konnte oder
mochte, in den Fürsten treue und eifrige Pfleger fand. Als Nürnberg und


Briefe eines Zurückgekehrten

lebenslustigen und nachgiebigen Thüringer zu greifen ist. Aber das Über¬
gewicht der breiten Wendengesichter tritt doch für deu, der von Westen kommt,
in Mitteldeutschland erst jenseits der Saale ein. So ist auch für den von
Süden Kommenden die mittlere und untere Pleiße- und Elstergegend der
Grenzstrich, wo er sich von entschieden östlichen Lüften angeweht fühlt. Es ist
in gewissem Sinne auch eine Art Halbasieu, wo schon das sich urdeutsch fühlende
Leipzig liegt, denn in der Rasse und im Volkscharakter beginnen mongolische
Züge stärker hervorzutreten. Hier beginnt die Herrschaft des Breitschädels,
der seine höchste oder vielmehr breiteste Entwicklung bei den Mongolen und
Kirgisen findet, sowie das Tiefland vou hier an keine Unterbrechung mehr hat
bis zum Fuße des zentralasiatischen Hochlandes; und mit ihm beginnt das
breite Gesicht. Nicht auf den Schultern des Westdeutschen sitzt die eigentliche
tßw oiU'rsö, und der obersüchsische Philister, den uns Ludwig Richter als
deutscheu Typus gezeichnet hat, ist das Erzeugnis einer Rassenmischung.

Wenn ich im Kreise biederer Ostdeutscher sitze, bekleide ich im Geiste
manchen mit Zopf, Seidengewmid und korallenknopfgeschinücktem Mandarinen-
Hut, und es schaut mich aus Augen, die uoch an einen geschlitzten Ursprung
erinnern, und über bedeutenden Wulstungen der Backenknochen das Antlitz
eines unverfälschten Li oder Scherg an. Ein berühmter Professor der Leipziger
Universität — sie sind übrigens alle berühmt — schien mir hervorragend
mnndarinenhnft zu sei», und als ich mich nach seinen wissenschaftlichen Ver¬
diensten erkundigte, vernahm ich, daß er ungeheuer gelehrt sei, daß aber noch
niemand einen neuen Gedanke» von ihm vernommen habe. Ist das nicht eine
chinesische Art von Gelehrsamkeit? Und wieviele Mandarinen dieser Klasse
sitzen auf deutschen Lehrstühlen und erhitzen sich ihren Ruhm?

Gotha ist eine hübsche Vertreterin der thüringischen Residenzstädte. Das
alte Gotha hat sich in den letzten Jahrzehnten mit ausgedehnten, freundlichen
Villeustraßeu umgeben. Schon früher war es durch die Lage des Schlosses
mit seinem herrlichen Garten inmitten der Stadt begünstigt. Diese enge Ver¬
gesellschaftung von Park und Stadt ist recht bezeichnend für das Verhältnis
dieser Fürsten zu ihren Bürgern. Schloß und Hütte trennt mir ein Garten,
an dem beide Insassen sich erfreuen. Mau durchwandre deu alten engen Kern
von Gotha mit den schmalen Gassen und unscheinbaren Häusern, und mau
wird beim Hinaustreten in die grünen Parkanlagen das Gefühl haben, daß
diese Bürgerschaft ihren Fürsten viel verdankt. Es waren keine Bernharde
und Karl Auguste, diese alten Gothaischen Herzöge, aber so manches Gute
haben sie doch hinterlassen. Manchmal hat sich in ihnen ein freier Geistes¬
funke geregt. Sie haben ihren Anteil an zwei Anstalten, die das kleine
Gotha berühmt gemacht haben, als es uoch im Vergleich zu dem heutigen ein
ärmliches Nest war: an der Sternwarte und an dem Geographischen Institut.
Das gehört auch zu deu Lehren der Geschichte der kleinen deutschen Residenz¬
städte, daß so mancher Keim, den das Bürgertum nicht mehr hegen konnte oder
mochte, in den Fürsten treue und eifrige Pfleger fand. Als Nürnberg und


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[0093] Briefe eines Zurückgekehrten lebenslustigen und nachgiebigen Thüringer zu greifen ist. Aber das Über¬ gewicht der breiten Wendengesichter tritt doch für deu, der von Westen kommt, in Mitteldeutschland erst jenseits der Saale ein. So ist auch für den von Süden Kommenden die mittlere und untere Pleiße- und Elstergegend der Grenzstrich, wo er sich von entschieden östlichen Lüften angeweht fühlt. Es ist in gewissem Sinne auch eine Art Halbasieu, wo schon das sich urdeutsch fühlende Leipzig liegt, denn in der Rasse und im Volkscharakter beginnen mongolische Züge stärker hervorzutreten. Hier beginnt die Herrschaft des Breitschädels, der seine höchste oder vielmehr breiteste Entwicklung bei den Mongolen und Kirgisen findet, sowie das Tiefland vou hier an keine Unterbrechung mehr hat bis zum Fuße des zentralasiatischen Hochlandes; und mit ihm beginnt das breite Gesicht. Nicht auf den Schultern des Westdeutschen sitzt die eigentliche tßw oiU'rsö, und der obersüchsische Philister, den uns Ludwig Richter als deutscheu Typus gezeichnet hat, ist das Erzeugnis einer Rassenmischung. Wenn ich im Kreise biederer Ostdeutscher sitze, bekleide ich im Geiste manchen mit Zopf, Seidengewmid und korallenknopfgeschinücktem Mandarinen- Hut, und es schaut mich aus Augen, die uoch an einen geschlitzten Ursprung erinnern, und über bedeutenden Wulstungen der Backenknochen das Antlitz eines unverfälschten Li oder Scherg an. Ein berühmter Professor der Leipziger Universität — sie sind übrigens alle berühmt — schien mir hervorragend mnndarinenhnft zu sei», und als ich mich nach seinen wissenschaftlichen Ver¬ diensten erkundigte, vernahm ich, daß er ungeheuer gelehrt sei, daß aber noch niemand einen neuen Gedanke» von ihm vernommen habe. Ist das nicht eine chinesische Art von Gelehrsamkeit? Und wieviele Mandarinen dieser Klasse sitzen auf deutschen Lehrstühlen und erhitzen sich ihren Ruhm? Gotha ist eine hübsche Vertreterin der thüringischen Residenzstädte. Das alte Gotha hat sich in den letzten Jahrzehnten mit ausgedehnten, freundlichen Villeustraßeu umgeben. Schon früher war es durch die Lage des Schlosses mit seinem herrlichen Garten inmitten der Stadt begünstigt. Diese enge Ver¬ gesellschaftung von Park und Stadt ist recht bezeichnend für das Verhältnis dieser Fürsten zu ihren Bürgern. Schloß und Hütte trennt mir ein Garten, an dem beide Insassen sich erfreuen. Mau durchwandre deu alten engen Kern von Gotha mit den schmalen Gassen und unscheinbaren Häusern, und mau wird beim Hinaustreten in die grünen Parkanlagen das Gefühl haben, daß diese Bürgerschaft ihren Fürsten viel verdankt. Es waren keine Bernharde und Karl Auguste, diese alten Gothaischen Herzöge, aber so manches Gute haben sie doch hinterlassen. Manchmal hat sich in ihnen ein freier Geistes¬ funke geregt. Sie haben ihren Anteil an zwei Anstalten, die das kleine Gotha berühmt gemacht haben, als es uoch im Vergleich zu dem heutigen ein ärmliches Nest war: an der Sternwarte und an dem Geographischen Institut. Das gehört auch zu deu Lehren der Geschichte der kleinen deutschen Residenz¬ städte, daß so mancher Keim, den das Bürgertum nicht mehr hegen konnte oder mochte, in den Fürsten treue und eifrige Pfleger fand. Als Nürnberg und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/93>, abgerufen am 26.06.2024.