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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Reformgedanken und Reformansätze im heutigen Italien

Nach unten wird die italienische Volksschule durch zahllose Kindergärten
(AiarZioi ivtautili) in der Weise Fröbels ergänzt, nach oben durch Fort¬
bildungskurse und Abendschulen (seuols ssrAli), die von einzelnen Privatleuten
und Vereinen unterhalten, auch gelegentlich von der Regierung unterstützt
werden und viel Teilnahme finden. Dazu kommen in den größern Städten
zahlreiche Kurse in fremden Sprachen (Französisch, Deutsch, Englisch) für
Handwerker, Arbeiter, junge Kaufleute u. s. f. während des Winters. Aus
alledem ergiebt sich ein sehr lebhaftes Bildungsbedürfnis und das eifrige Be¬
mühen, ihm zu entsprechen.

Über die Erfolge der Schule für das nationale Leben zu urteilen ist
immer eine sehr schwierige Sache. Was ich selbst gelegentlich zwischen Mailand
und Syrakus von italienischen Schulkindern kennen gelernt habe, machte
einen günstigen Eindruck. Aber diese Erfahrung ist sehr beschränkt. Einen
objektiven Maßstab glaubt man in der Zahl der Rekruten, die lesen und
schreiben können, und in der Kriminalstatistik zu haben. Auch vou diesem Stand¬
punkt aus ist in Italien der Fortschritt ganz unleugbar. Denn die Zahl der
arg.1kg,b<ztti (ein unübersetzbares, aber höchst bezeichnendes Wort!) belief sich
bei den Rekruten des Landheeres 1861 auf 64 Prozent, im Jahre 1895
nur noch auf 38,34 Prozent, und dieser Durchschnittssatz wird in einzelnen
Landschaften teils bei weitem nicht erreicht, teils (namentlich im Süden) freilich
auch weit übertroffen (in der Provinz Syrakus 1881 noch 84 Prozent!). Am
schlimmsten scheint es auf der Insel Sardinien, dem Stieskinde aller Regie¬
rungen, auszusehen; hier gesteht ein Korrespondent in Cagliari der republika¬
nischen ItAlia zu, die Unwissenheit sei derart, daß Lesen und Schreiben insraviMs,
etwa: seltene Ausnahmen, seien und das Italienische vom Volke nicht einmal
verstanden werde. Aber einmal ist die Kenntnis dieser Fertigkeiten noch lange
keine Bildung, sodann stehn diesem alten Kulturvolke außerhalb der Schule
in seinen öffentlichen Kunstdenkmälern und seinen Kirchenfesten viele Bildungs¬
mittel zu Gebote, von denen man im Norden keine Ahnung hat. Wie tief
und allgemein das Interesse an der Kunst z. B. ist, sieht man u. a. aus der
Thatsache, daß, als 1899 die beiden neuen von Augusto Pafsaglia und Giu¬
seppe Cassioli in Bronzeguß ausgeführten Thüren an der prachtvollen Marmor-
fafsade des Florentiner Doms (an der sich bekanntlich 1875 bis 1887 die
Stadtgemeinde bankerott gebaut hat!) angebracht wurden, sich die ganze Bevöl¬
kerung bis zum Stiefelputzer hinab leidenschaftlich darüber stritt, an welcher
Thür die Reliefs schöner seien. In Italien ist eben die Kunst wirklich ein
Volksbedürfnis und Volksbildungsmittel, im Norden ein der Masse unverständ¬
licher und gleichgiltiger Luxus.

Noch viel unsichrer ist das Urteil über die Wirkung der Volksschule nach
der Kriminalstatistik. Denn wie viele und wie starke Einflüsse wirken neben
und nach der Schule! Mag die Einsicht in das Gute vorhanden sein, stärker
als diese ist in allen sittlichen Fragen der Wille, und dieser steht überall viel
mehr unter der Herrschaft der Leidenschaft und der Sitte, als der Schule,


Reformgedanken und Reformansätze im heutigen Italien

Nach unten wird die italienische Volksschule durch zahllose Kindergärten
(AiarZioi ivtautili) in der Weise Fröbels ergänzt, nach oben durch Fort¬
bildungskurse und Abendschulen (seuols ssrAli), die von einzelnen Privatleuten
und Vereinen unterhalten, auch gelegentlich von der Regierung unterstützt
werden und viel Teilnahme finden. Dazu kommen in den größern Städten
zahlreiche Kurse in fremden Sprachen (Französisch, Deutsch, Englisch) für
Handwerker, Arbeiter, junge Kaufleute u. s. f. während des Winters. Aus
alledem ergiebt sich ein sehr lebhaftes Bildungsbedürfnis und das eifrige Be¬
mühen, ihm zu entsprechen.

Über die Erfolge der Schule für das nationale Leben zu urteilen ist
immer eine sehr schwierige Sache. Was ich selbst gelegentlich zwischen Mailand
und Syrakus von italienischen Schulkindern kennen gelernt habe, machte
einen günstigen Eindruck. Aber diese Erfahrung ist sehr beschränkt. Einen
objektiven Maßstab glaubt man in der Zahl der Rekruten, die lesen und
schreiben können, und in der Kriminalstatistik zu haben. Auch vou diesem Stand¬
punkt aus ist in Italien der Fortschritt ganz unleugbar. Denn die Zahl der
arg.1kg,b<ztti (ein unübersetzbares, aber höchst bezeichnendes Wort!) belief sich
bei den Rekruten des Landheeres 1861 auf 64 Prozent, im Jahre 1895
nur noch auf 38,34 Prozent, und dieser Durchschnittssatz wird in einzelnen
Landschaften teils bei weitem nicht erreicht, teils (namentlich im Süden) freilich
auch weit übertroffen (in der Provinz Syrakus 1881 noch 84 Prozent!). Am
schlimmsten scheint es auf der Insel Sardinien, dem Stieskinde aller Regie¬
rungen, auszusehen; hier gesteht ein Korrespondent in Cagliari der republika¬
nischen ItAlia zu, die Unwissenheit sei derart, daß Lesen und Schreiben insraviMs,
etwa: seltene Ausnahmen, seien und das Italienische vom Volke nicht einmal
verstanden werde. Aber einmal ist die Kenntnis dieser Fertigkeiten noch lange
keine Bildung, sodann stehn diesem alten Kulturvolke außerhalb der Schule
in seinen öffentlichen Kunstdenkmälern und seinen Kirchenfesten viele Bildungs¬
mittel zu Gebote, von denen man im Norden keine Ahnung hat. Wie tief
und allgemein das Interesse an der Kunst z. B. ist, sieht man u. a. aus der
Thatsache, daß, als 1899 die beiden neuen von Augusto Pafsaglia und Giu¬
seppe Cassioli in Bronzeguß ausgeführten Thüren an der prachtvollen Marmor-
fafsade des Florentiner Doms (an der sich bekanntlich 1875 bis 1887 die
Stadtgemeinde bankerott gebaut hat!) angebracht wurden, sich die ganze Bevöl¬
kerung bis zum Stiefelputzer hinab leidenschaftlich darüber stritt, an welcher
Thür die Reliefs schöner seien. In Italien ist eben die Kunst wirklich ein
Volksbedürfnis und Volksbildungsmittel, im Norden ein der Masse unverständ¬
licher und gleichgiltiger Luxus.

Noch viel unsichrer ist das Urteil über die Wirkung der Volksschule nach
der Kriminalstatistik. Denn wie viele und wie starke Einflüsse wirken neben
und nach der Schule! Mag die Einsicht in das Gute vorhanden sein, stärker
als diese ist in allen sittlichen Fragen der Wille, und dieser steht überall viel
mehr unter der Herrschaft der Leidenschaft und der Sitte, als der Schule,


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[0670] Reformgedanken und Reformansätze im heutigen Italien Nach unten wird die italienische Volksschule durch zahllose Kindergärten (AiarZioi ivtautili) in der Weise Fröbels ergänzt, nach oben durch Fort¬ bildungskurse und Abendschulen (seuols ssrAli), die von einzelnen Privatleuten und Vereinen unterhalten, auch gelegentlich von der Regierung unterstützt werden und viel Teilnahme finden. Dazu kommen in den größern Städten zahlreiche Kurse in fremden Sprachen (Französisch, Deutsch, Englisch) für Handwerker, Arbeiter, junge Kaufleute u. s. f. während des Winters. Aus alledem ergiebt sich ein sehr lebhaftes Bildungsbedürfnis und das eifrige Be¬ mühen, ihm zu entsprechen. Über die Erfolge der Schule für das nationale Leben zu urteilen ist immer eine sehr schwierige Sache. Was ich selbst gelegentlich zwischen Mailand und Syrakus von italienischen Schulkindern kennen gelernt habe, machte einen günstigen Eindruck. Aber diese Erfahrung ist sehr beschränkt. Einen objektiven Maßstab glaubt man in der Zahl der Rekruten, die lesen und schreiben können, und in der Kriminalstatistik zu haben. Auch vou diesem Stand¬ punkt aus ist in Italien der Fortschritt ganz unleugbar. Denn die Zahl der arg.1kg,b<ztti (ein unübersetzbares, aber höchst bezeichnendes Wort!) belief sich bei den Rekruten des Landheeres 1861 auf 64 Prozent, im Jahre 1895 nur noch auf 38,34 Prozent, und dieser Durchschnittssatz wird in einzelnen Landschaften teils bei weitem nicht erreicht, teils (namentlich im Süden) freilich auch weit übertroffen (in der Provinz Syrakus 1881 noch 84 Prozent!). Am schlimmsten scheint es auf der Insel Sardinien, dem Stieskinde aller Regie¬ rungen, auszusehen; hier gesteht ein Korrespondent in Cagliari der republika¬ nischen ItAlia zu, die Unwissenheit sei derart, daß Lesen und Schreiben insraviMs, etwa: seltene Ausnahmen, seien und das Italienische vom Volke nicht einmal verstanden werde. Aber einmal ist die Kenntnis dieser Fertigkeiten noch lange keine Bildung, sodann stehn diesem alten Kulturvolke außerhalb der Schule in seinen öffentlichen Kunstdenkmälern und seinen Kirchenfesten viele Bildungs¬ mittel zu Gebote, von denen man im Norden keine Ahnung hat. Wie tief und allgemein das Interesse an der Kunst z. B. ist, sieht man u. a. aus der Thatsache, daß, als 1899 die beiden neuen von Augusto Pafsaglia und Giu¬ seppe Cassioli in Bronzeguß ausgeführten Thüren an der prachtvollen Marmor- fafsade des Florentiner Doms (an der sich bekanntlich 1875 bis 1887 die Stadtgemeinde bankerott gebaut hat!) angebracht wurden, sich die ganze Bevöl¬ kerung bis zum Stiefelputzer hinab leidenschaftlich darüber stritt, an welcher Thür die Reliefs schöner seien. In Italien ist eben die Kunst wirklich ein Volksbedürfnis und Volksbildungsmittel, im Norden ein der Masse unverständ¬ licher und gleichgiltiger Luxus. Noch viel unsichrer ist das Urteil über die Wirkung der Volksschule nach der Kriminalstatistik. Denn wie viele und wie starke Einflüsse wirken neben und nach der Schule! Mag die Einsicht in das Gute vorhanden sein, stärker als diese ist in allen sittlichen Fragen der Wille, und dieser steht überall viel mehr unter der Herrschaft der Leidenschaft und der Sitte, als der Schule,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/670>, abgerufen am 29.06.2024.