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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Die russischen Hungersnöte

so bleibt nichts übrig als unmittelbare Negierungshilfe, aber diese zu erlangen
ist sehr schwer. Zwar die Scmstwos sind meistens sofort bereit, den Notstand
anzuerkennen. Den erstens spüren sie ihn an den Steuerrückgängen, dnrch die
sie in Verlegenheit geraten, und zweitens ist es für die Mitglieder, die ja
Gutsbesitzer sind, eine bequeme Absatzgclegeuheit, wenn die Regierung Not¬
standsgetreide kauft. Mitunter freilich liegt dem Semstwo weniger an der An¬
erkennung des Notstands, wenn nämlich seine Mitglieder Grund haben zu ver¬
muten, daß die Regierung nicht bei ihnen, sondern in einem andern Gouvernement
kaufen werde. Entsteht nun aber auch kein Konflikt im Schoße des Semstwo,
so ist dafür der Konflikt mit den Regierungsbehörden, zunächst dem Jsprawnik
(Regierungspräsidenten des Bezirks) desto gewisser. Diese Herren sträuben sich
gegen die Anerkennung eines Notstands mit Händen und Füßen, weil sie da¬
durch bekennen müssen, daß etwas in ihrem Bezirk "nicht in Ordnung" ist,
und sie sich damit die Gunst ihrer Vorgesetzten verscherzen; macht sich doch
sogar auch anderwärts, wo keine russischen Zustände herrschen, der Beamte
durch nichts mehr mißliebig, als durch Meldungen und Berichte, die hohen
Ohren unangenehm klingen. Von einer Unterstützung durch die Presse kann
keine Rede sein, da die Zensur so lange alle Notstandsnachrichten streicht, bis
der Notstand von der Negierung amtlich anerkannt ist. Nimmt man nun noch
die Untreue der russische:, Beamten, die allgemeine russische Schlamperei und
die Schwierigkeit der Zufuhr in einem habn- und straßenlosen Lande hinzu,
so kann man sich im voraus denken, daß die nach unzähligen Streitigkeiten,
Verwicklungen lind Schreibereien endlich durchgesetzte Hilfe regelmüßig zu spät
kommt und ungenügend ausfällt. Langt der Transport an der Wolga erst
an, wenn diese schon zugefroren ist, dann muß die ganze Entfernung zwischen
Ankaufsort und Hungerdorf auf der Achse zurückgelegt werden. In der Nähe
von Ssamara z. B. ist eine sieben Werst (nicht ganz acht Kilometer) lange
Strecke zu passieren, die der "Kosakendreck" genannt wird, und zu deren Über¬
windung nach Regenwetter mehrere Tage notwendig sind, wobei noch Menschen
und Vieh unerhört geschunden werden. Die Transportkosten verdoppeln den
Preis des Getreides, und wo es die begnadeten Gemeinden auf weite Ent¬
fernungen selbst holen müssen, setzen sie gewöhnlich die letzten Kräfte ihres
Zugviehs und ihre letzten Futtermittel dran. Dabei versteht es sich von selbst,
daß von der Menge, die ein Semstwo fordert, die verschiednen Regierungs¬
behörden so viel wie möglich herunterhandeln, und daß darum schon die Be¬
willigung zu klein ausfüllt. Noch im Schoße der Regierung selbst setzt es
Kämpfe, denn der Finanzminister bewilligt niemals unverkürzt, was der Minister
des Innern fordert.

Die Künste eines Gouverneurs, der sich lieb Kind zu machen versteht,
beschreiben die Verfasser in einem besondern Kapitel unter der Überschrift:
"Wie ein russischer Gouverneur den Notstand zum Schweigen bringt, aber in
Petersburg nicht genügend gewürdigt wird, dann auf Urlaub geht, während
dessen die Bauern in einen Notstand geraten, bei seiner Rückkehr aber den


Grenzboten IV I9N0 63
Die russischen Hungersnöte

so bleibt nichts übrig als unmittelbare Negierungshilfe, aber diese zu erlangen
ist sehr schwer. Zwar die Scmstwos sind meistens sofort bereit, den Notstand
anzuerkennen. Den erstens spüren sie ihn an den Steuerrückgängen, dnrch die
sie in Verlegenheit geraten, und zweitens ist es für die Mitglieder, die ja
Gutsbesitzer sind, eine bequeme Absatzgclegeuheit, wenn die Regierung Not¬
standsgetreide kauft. Mitunter freilich liegt dem Semstwo weniger an der An¬
erkennung des Notstands, wenn nämlich seine Mitglieder Grund haben zu ver¬
muten, daß die Regierung nicht bei ihnen, sondern in einem andern Gouvernement
kaufen werde. Entsteht nun aber auch kein Konflikt im Schoße des Semstwo,
so ist dafür der Konflikt mit den Regierungsbehörden, zunächst dem Jsprawnik
(Regierungspräsidenten des Bezirks) desto gewisser. Diese Herren sträuben sich
gegen die Anerkennung eines Notstands mit Händen und Füßen, weil sie da¬
durch bekennen müssen, daß etwas in ihrem Bezirk „nicht in Ordnung" ist,
und sie sich damit die Gunst ihrer Vorgesetzten verscherzen; macht sich doch
sogar auch anderwärts, wo keine russischen Zustände herrschen, der Beamte
durch nichts mehr mißliebig, als durch Meldungen und Berichte, die hohen
Ohren unangenehm klingen. Von einer Unterstützung durch die Presse kann
keine Rede sein, da die Zensur so lange alle Notstandsnachrichten streicht, bis
der Notstand von der Negierung amtlich anerkannt ist. Nimmt man nun noch
die Untreue der russische:, Beamten, die allgemeine russische Schlamperei und
die Schwierigkeit der Zufuhr in einem habn- und straßenlosen Lande hinzu,
so kann man sich im voraus denken, daß die nach unzähligen Streitigkeiten,
Verwicklungen lind Schreibereien endlich durchgesetzte Hilfe regelmüßig zu spät
kommt und ungenügend ausfällt. Langt der Transport an der Wolga erst
an, wenn diese schon zugefroren ist, dann muß die ganze Entfernung zwischen
Ankaufsort und Hungerdorf auf der Achse zurückgelegt werden. In der Nähe
von Ssamara z. B. ist eine sieben Werst (nicht ganz acht Kilometer) lange
Strecke zu passieren, die der „Kosakendreck" genannt wird, und zu deren Über¬
windung nach Regenwetter mehrere Tage notwendig sind, wobei noch Menschen
und Vieh unerhört geschunden werden. Die Transportkosten verdoppeln den
Preis des Getreides, und wo es die begnadeten Gemeinden auf weite Ent¬
fernungen selbst holen müssen, setzen sie gewöhnlich die letzten Kräfte ihres
Zugviehs und ihre letzten Futtermittel dran. Dabei versteht es sich von selbst,
daß von der Menge, die ein Semstwo fordert, die verschiednen Regierungs¬
behörden so viel wie möglich herunterhandeln, und daß darum schon die Be¬
willigung zu klein ausfüllt. Noch im Schoße der Regierung selbst setzt es
Kämpfe, denn der Finanzminister bewilligt niemals unverkürzt, was der Minister
des Innern fordert.

Die Künste eines Gouverneurs, der sich lieb Kind zu machen versteht,
beschreiben die Verfasser in einem besondern Kapitel unter der Überschrift:
„Wie ein russischer Gouverneur den Notstand zum Schweigen bringt, aber in
Petersburg nicht genügend gewürdigt wird, dann auf Urlaub geht, während
dessen die Bauern in einen Notstand geraten, bei seiner Rückkehr aber den


Grenzboten IV I9N0 63
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[0547] Die russischen Hungersnöte so bleibt nichts übrig als unmittelbare Negierungshilfe, aber diese zu erlangen ist sehr schwer. Zwar die Scmstwos sind meistens sofort bereit, den Notstand anzuerkennen. Den erstens spüren sie ihn an den Steuerrückgängen, dnrch die sie in Verlegenheit geraten, und zweitens ist es für die Mitglieder, die ja Gutsbesitzer sind, eine bequeme Absatzgclegeuheit, wenn die Regierung Not¬ standsgetreide kauft. Mitunter freilich liegt dem Semstwo weniger an der An¬ erkennung des Notstands, wenn nämlich seine Mitglieder Grund haben zu ver¬ muten, daß die Regierung nicht bei ihnen, sondern in einem andern Gouvernement kaufen werde. Entsteht nun aber auch kein Konflikt im Schoße des Semstwo, so ist dafür der Konflikt mit den Regierungsbehörden, zunächst dem Jsprawnik (Regierungspräsidenten des Bezirks) desto gewisser. Diese Herren sträuben sich gegen die Anerkennung eines Notstands mit Händen und Füßen, weil sie da¬ durch bekennen müssen, daß etwas in ihrem Bezirk „nicht in Ordnung" ist, und sie sich damit die Gunst ihrer Vorgesetzten verscherzen; macht sich doch sogar auch anderwärts, wo keine russischen Zustände herrschen, der Beamte durch nichts mehr mißliebig, als durch Meldungen und Berichte, die hohen Ohren unangenehm klingen. Von einer Unterstützung durch die Presse kann keine Rede sein, da die Zensur so lange alle Notstandsnachrichten streicht, bis der Notstand von der Negierung amtlich anerkannt ist. Nimmt man nun noch die Untreue der russische:, Beamten, die allgemeine russische Schlamperei und die Schwierigkeit der Zufuhr in einem habn- und straßenlosen Lande hinzu, so kann man sich im voraus denken, daß die nach unzähligen Streitigkeiten, Verwicklungen lind Schreibereien endlich durchgesetzte Hilfe regelmüßig zu spät kommt und ungenügend ausfällt. Langt der Transport an der Wolga erst an, wenn diese schon zugefroren ist, dann muß die ganze Entfernung zwischen Ankaufsort und Hungerdorf auf der Achse zurückgelegt werden. In der Nähe von Ssamara z. B. ist eine sieben Werst (nicht ganz acht Kilometer) lange Strecke zu passieren, die der „Kosakendreck" genannt wird, und zu deren Über¬ windung nach Regenwetter mehrere Tage notwendig sind, wobei noch Menschen und Vieh unerhört geschunden werden. Die Transportkosten verdoppeln den Preis des Getreides, und wo es die begnadeten Gemeinden auf weite Ent¬ fernungen selbst holen müssen, setzen sie gewöhnlich die letzten Kräfte ihres Zugviehs und ihre letzten Futtermittel dran. Dabei versteht es sich von selbst, daß von der Menge, die ein Semstwo fordert, die verschiednen Regierungs¬ behörden so viel wie möglich herunterhandeln, und daß darum schon die Be¬ willigung zu klein ausfüllt. Noch im Schoße der Regierung selbst setzt es Kämpfe, denn der Finanzminister bewilligt niemals unverkürzt, was der Minister des Innern fordert. Die Künste eines Gouverneurs, der sich lieb Kind zu machen versteht, beschreiben die Verfasser in einem besondern Kapitel unter der Überschrift: „Wie ein russischer Gouverneur den Notstand zum Schweigen bringt, aber in Petersburg nicht genügend gewürdigt wird, dann auf Urlaub geht, während dessen die Bauern in einen Notstand geraten, bei seiner Rückkehr aber den Grenzboten IV I9N0 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/547>, abgerufen am 21.06.2024.