Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.Die russischen Hungersnöte bleibt jenes aus, so nützen alle Arzneien und Limonaden nichts. Was die Die Hungersnöte haben das Landschaftsbild gefärbt. Ein Wladimir Die russischen Hungersnöte bleibt jenes aus, so nützen alle Arzneien und Limonaden nichts. Was die Die Hungersnöte haben das Landschaftsbild gefärbt. Ein Wladimir <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0500" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/291577"/> <fw type="header" place="top"> Die russischen Hungersnöte</fw><lb/> <p xml:id="ID_1724" prev="#ID_1723"> bleibt jenes aus, so nützen alle Arzneien und Limonaden nichts. Was die<lb/> andern beiden Bedingungen anlangt, so ist die Wohnung des Muschik und die<lb/> Luft darin scheußlich, und gerade in Hungerjahren, wo er in seiner Bude<lb/> liegen bleibt und nicht an die frische Luft kommt, macht sich dieser Übelstand<lb/> ohne Gegengewicht geltend; dagegen wird die Unsauberkeit der Kleidung<lb/> — Leibwäsche kostet Geld, und das hat der Muschik nicht — einigermaßen<lb/> dadurch unschädlich gemacht, daß der Mann jede Woche wenigstens einmal ins<lb/> Dampfbad kriecht; jedes Dorf hat ein solches.</p><lb/> <p xml:id="ID_1725" next="#ID_1726"> Die Hungersnöte haben das Landschaftsbild gefärbt. Ein Wladimir<lb/> Korolenko hat ein Buch über die Hungersnot von 1891/92 geschrieben, worin<lb/> er den Brief eines Popen mitteilt. Dieser ruft aus: „Man glaubt die Stimme<lb/> des Propheten Zephanjci zu hören: »Ich will alles aus dem Lande weg¬<lb/> nehmen, spricht der Herr. Ich will beide, Menschen und Vieh, beide, Vögel<lb/> des Himmels und Fische im Meere wegnehmen, samt den Ärgernissen und den<lb/> Gottlosen.« Verschwunden sind aus unsern Gebieten die Hirsche, der Marder<lb/> flüchtete sich, das Eichhörnchen ging zu Grunde. Der Himmel schloß sich zu¬<lb/> sammen und wurde kupferfarbig, der Tau ist nimmer da, die Dürre kam und<lb/> das Feuer. Die nährenden Gräser und die Blumen gingen zu Grunde, es<lb/> giebt keine Himbeeren, keine Heidelbeeren, überhaupt keine Beeren, alle Torf¬<lb/> plätze und Sümpfe sind ausgebrannt und verloren. Wer jetzt das Land messen<lb/> will, mißt die Wüstenei einer Brandstätte. Wo bist du hin, Grün des Waldes,<lb/> Frische der Luft, balsamisches Aroma des Fichtenholzes, das die Kranken heilte?<lb/> Alles verloren!" Alles weg! war die gewöhnliche Antwort, die die beiden<lb/> Reisenden in den Hütten auf ihre Fragen bekamen. Sie selbst schildern den<lb/> Eindruck, den die Dörfer machen, u. a. auf Seite 130 ff. mit den Worten :<lb/> „Jedes Haus ein Siechenhaus. Erdfahle, geschwollne Gesichter, verrenkte<lb/> Glieder, Schmutz und Wunden, und so von einem Hause zum andern durch<lb/> zahllose Dörfer auf einem Gebiete, das beinahe die Größe des Königreichs<lb/> Preußen erreicht. In der Nähe der Dörfer sehen wir magere Herden. Auf<lb/> den weiten Weideplätze!,, wo sonst zahlreiche Pferde grasten und sich muntere<lb/> Füllen tummelten, die Kuhherdcn langsamen Schritts weideten und sich große<lb/> Herden wolliger Schafe drängten, sehen wir jetzt hie und da etliche bis zum<lb/> Gerippe abgemagerte Gäule und zwei oder drei Kühe, deren um spitze Knochen<lb/> stramm gespanntes Fell eiternde Wunden zeigt. Keine Spur von Jungvieh,<lb/> von Schafen. Nur einmal sahen wir — es war an den Ausläufern des Ural,<lb/> wo sich, eine Oase in der Wüste, ein halbes Dutzend noch wohlhabende Dörfer<lb/> zusammendrängte — am Abend die heimkehrende Kuhherde die Dorfstraße<lb/> füllen, und dazwischen das bunte Gewirr der Bäuerinnen in farbigen Tüchern.<lb/> Sonst überall morgens, mittags und abends dieselbe Grabesstille und Leere.<lb/> Hie und da sahen wir einen Bauern auf dem Felde — zerlumpt, zerzaust,<lb/> verschlafen und matt, der in letzter Stunde mit ungelenken Urvütergerät die<lb/> schwere Scholle zu heben sich abmühte. Verstummt sind die Lieder. Mädchen<lb/> und Burschen drehen sich nicht mehr im fröhlichen Reigen. Man tanzt nicht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0500]
Die russischen Hungersnöte
bleibt jenes aus, so nützen alle Arzneien und Limonaden nichts. Was die
andern beiden Bedingungen anlangt, so ist die Wohnung des Muschik und die
Luft darin scheußlich, und gerade in Hungerjahren, wo er in seiner Bude
liegen bleibt und nicht an die frische Luft kommt, macht sich dieser Übelstand
ohne Gegengewicht geltend; dagegen wird die Unsauberkeit der Kleidung
— Leibwäsche kostet Geld, und das hat der Muschik nicht — einigermaßen
dadurch unschädlich gemacht, daß der Mann jede Woche wenigstens einmal ins
Dampfbad kriecht; jedes Dorf hat ein solches.
Die Hungersnöte haben das Landschaftsbild gefärbt. Ein Wladimir
Korolenko hat ein Buch über die Hungersnot von 1891/92 geschrieben, worin
er den Brief eines Popen mitteilt. Dieser ruft aus: „Man glaubt die Stimme
des Propheten Zephanjci zu hören: »Ich will alles aus dem Lande weg¬
nehmen, spricht der Herr. Ich will beide, Menschen und Vieh, beide, Vögel
des Himmels und Fische im Meere wegnehmen, samt den Ärgernissen und den
Gottlosen.« Verschwunden sind aus unsern Gebieten die Hirsche, der Marder
flüchtete sich, das Eichhörnchen ging zu Grunde. Der Himmel schloß sich zu¬
sammen und wurde kupferfarbig, der Tau ist nimmer da, die Dürre kam und
das Feuer. Die nährenden Gräser und die Blumen gingen zu Grunde, es
giebt keine Himbeeren, keine Heidelbeeren, überhaupt keine Beeren, alle Torf¬
plätze und Sümpfe sind ausgebrannt und verloren. Wer jetzt das Land messen
will, mißt die Wüstenei einer Brandstätte. Wo bist du hin, Grün des Waldes,
Frische der Luft, balsamisches Aroma des Fichtenholzes, das die Kranken heilte?
Alles verloren!" Alles weg! war die gewöhnliche Antwort, die die beiden
Reisenden in den Hütten auf ihre Fragen bekamen. Sie selbst schildern den
Eindruck, den die Dörfer machen, u. a. auf Seite 130 ff. mit den Worten :
„Jedes Haus ein Siechenhaus. Erdfahle, geschwollne Gesichter, verrenkte
Glieder, Schmutz und Wunden, und so von einem Hause zum andern durch
zahllose Dörfer auf einem Gebiete, das beinahe die Größe des Königreichs
Preußen erreicht. In der Nähe der Dörfer sehen wir magere Herden. Auf
den weiten Weideplätze!,, wo sonst zahlreiche Pferde grasten und sich muntere
Füllen tummelten, die Kuhherdcn langsamen Schritts weideten und sich große
Herden wolliger Schafe drängten, sehen wir jetzt hie und da etliche bis zum
Gerippe abgemagerte Gäule und zwei oder drei Kühe, deren um spitze Knochen
stramm gespanntes Fell eiternde Wunden zeigt. Keine Spur von Jungvieh,
von Schafen. Nur einmal sahen wir — es war an den Ausläufern des Ural,
wo sich, eine Oase in der Wüste, ein halbes Dutzend noch wohlhabende Dörfer
zusammendrängte — am Abend die heimkehrende Kuhherde die Dorfstraße
füllen, und dazwischen das bunte Gewirr der Bäuerinnen in farbigen Tüchern.
Sonst überall morgens, mittags und abends dieselbe Grabesstille und Leere.
Hie und da sahen wir einen Bauern auf dem Felde — zerlumpt, zerzaust,
verschlafen und matt, der in letzter Stunde mit ungelenken Urvütergerät die
schwere Scholle zu heben sich abmühte. Verstummt sind die Lieder. Mädchen
und Burschen drehen sich nicht mehr im fröhlichen Reigen. Man tanzt nicht
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