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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Wo die Not eintritt, sind die Leute zunächst darauf bedacht, das Vieh
durchzubringen; sie verwenden einen Teil ihres Brotkorns als Viehfutter, er¬
reichen dabei aber oft weiter nichts, als daß sie ihrem Vieh -- Tiere sind
weniger widerstandsfähig als Menschen -- im Tode rasch nachfolgen. Giebt
es kein andres Viehfutter mehr, so wird das Stroh der Dächer, das freilich
so gut wie gar keinen Nährwert hat, verfüttert, und die ohnehin elenden
russischen Bauernhütten sehen deshalb in den Hungergebieten noch elender als
sonst aus. Wer klug ist, verkauft sein Vieh beizeiten, wo es noch einigen
Wert hat; von den verhungerten Tieren kann höchstens noch die Haut ver¬
wertet werden. Am längsten sträuben sich die Bauern gegen den Verkauf der
Pferde, denn ohne Pferd können sie im nächsten Frühjahr den Acker nicht be¬
stellen; die Hungersnot von 1891 hat den Pferdebestand der Bauern um eine
Million Stück vermindert. Von Rindern, Schafen, Schweinen ist im Hunger¬
gebiet keine Rede mehr, auch alle Hunde und Katzen sind verschwunden; von
Geflügel sprechen die Verfasser nicht, die russischen Bauern mögen wohl über¬
haupt keins halten. Ist nach längerer Unterernährung das letzte Brotkorn
verzehrt, so wird zu elenden Surrogaten gegriffen, bis die von der Negierung
geschickten und die freiwilligen Helfer kommen, Speiseanstalten, Spitäler ein¬
richten und Brotkoru verteilen. Die Hilfe ist jedoch überall so unzulänglich,
daß nur der eigentliche Hungertod, nicht das aus langer Unterernährung und
dem Genuß schlechter Nahrungsmittel hervorgehende Siechtum verhindert wird.
Sind die Abzehrung und die Sästeverschlechterung an sich schon eine Krankheit,
so rauben sie außerdem dem Körper die Widerstandsfähigkeit gegen gesundheit¬
schädliche Einflüsse, und es wüten daher Seuchen aller Art im Hungergebiet.
Merkwürdigerweise ist nicht der Flecktyphus oder Hungertyphus die verbreitetste,
sondern der Skorbut, wodurch die hergebrachte Meinung widerlegt wird, daß
diese Krankheit nur die Folge ausschließlicher Fleischnahrung, namentlich von
Rauchfleisch oder Pökelfleisch sei; denn die Russen im Huugergebiet genießen
so gut wie gar kein Fleisch. Der Vezirksarzt von Tfchistopol berichtete den
Verfassern, daß man in seinem Regierungsbezirk zur Zeit 10000 Skorbutkranke
zähle, daß aber die amtliche Registrierung sehr viel zu wünschen übrig lasse;
sie selbst haben überall solche Leidende in großer Anzahl und in allen Stadien
der scheußlichen Krankheit getroffen, von deren Verlauf und ekelhaften Symptomen
Dr. Lehmann die genauste Beschreibung giebt. Er berichtet außerdem über
alle andern Krankheiten, die er vertreten gefunden hat; auch die Syphilis ist
unter dem Landvolk viel verbreitet. Ob der Jahresdurchschnitt von 3410845 Er¬
krankungen in Rußland Lehmann zu der Behauptung berechtigt, daß der russische
Bauernstand durch und durch verseucht sei, mögen Leute entscheiden, die sich
auf die Medizinalstatistik verstehn. Mehr Gewicht scheint uns ein Ausspruch
Nowikows zu haben, den Lehmann anführt. Nowikow, ein angesehener So-
ziolog, der als Gutsbesitzer und Landeshauptmann die Bauern genau kennen
gelernt hat, schreibt, es sei ein Vorurteil, daß die russischen Bauern gesund
und kräftig seien; nur ihre bewundrungswürdige moralische Widerstandsfähig-


Wo die Not eintritt, sind die Leute zunächst darauf bedacht, das Vieh
durchzubringen; sie verwenden einen Teil ihres Brotkorns als Viehfutter, er¬
reichen dabei aber oft weiter nichts, als daß sie ihrem Vieh — Tiere sind
weniger widerstandsfähig als Menschen — im Tode rasch nachfolgen. Giebt
es kein andres Viehfutter mehr, so wird das Stroh der Dächer, das freilich
so gut wie gar keinen Nährwert hat, verfüttert, und die ohnehin elenden
russischen Bauernhütten sehen deshalb in den Hungergebieten noch elender als
sonst aus. Wer klug ist, verkauft sein Vieh beizeiten, wo es noch einigen
Wert hat; von den verhungerten Tieren kann höchstens noch die Haut ver¬
wertet werden. Am längsten sträuben sich die Bauern gegen den Verkauf der
Pferde, denn ohne Pferd können sie im nächsten Frühjahr den Acker nicht be¬
stellen; die Hungersnot von 1891 hat den Pferdebestand der Bauern um eine
Million Stück vermindert. Von Rindern, Schafen, Schweinen ist im Hunger¬
gebiet keine Rede mehr, auch alle Hunde und Katzen sind verschwunden; von
Geflügel sprechen die Verfasser nicht, die russischen Bauern mögen wohl über¬
haupt keins halten. Ist nach längerer Unterernährung das letzte Brotkorn
verzehrt, so wird zu elenden Surrogaten gegriffen, bis die von der Negierung
geschickten und die freiwilligen Helfer kommen, Speiseanstalten, Spitäler ein¬
richten und Brotkoru verteilen. Die Hilfe ist jedoch überall so unzulänglich,
daß nur der eigentliche Hungertod, nicht das aus langer Unterernährung und
dem Genuß schlechter Nahrungsmittel hervorgehende Siechtum verhindert wird.
Sind die Abzehrung und die Sästeverschlechterung an sich schon eine Krankheit,
so rauben sie außerdem dem Körper die Widerstandsfähigkeit gegen gesundheit¬
schädliche Einflüsse, und es wüten daher Seuchen aller Art im Hungergebiet.
Merkwürdigerweise ist nicht der Flecktyphus oder Hungertyphus die verbreitetste,
sondern der Skorbut, wodurch die hergebrachte Meinung widerlegt wird, daß
diese Krankheit nur die Folge ausschließlicher Fleischnahrung, namentlich von
Rauchfleisch oder Pökelfleisch sei; denn die Russen im Huugergebiet genießen
so gut wie gar kein Fleisch. Der Vezirksarzt von Tfchistopol berichtete den
Verfassern, daß man in seinem Regierungsbezirk zur Zeit 10000 Skorbutkranke
zähle, daß aber die amtliche Registrierung sehr viel zu wünschen übrig lasse;
sie selbst haben überall solche Leidende in großer Anzahl und in allen Stadien
der scheußlichen Krankheit getroffen, von deren Verlauf und ekelhaften Symptomen
Dr. Lehmann die genauste Beschreibung giebt. Er berichtet außerdem über
alle andern Krankheiten, die er vertreten gefunden hat; auch die Syphilis ist
unter dem Landvolk viel verbreitet. Ob der Jahresdurchschnitt von 3410845 Er¬
krankungen in Rußland Lehmann zu der Behauptung berechtigt, daß der russische
Bauernstand durch und durch verseucht sei, mögen Leute entscheiden, die sich
auf die Medizinalstatistik verstehn. Mehr Gewicht scheint uns ein Ausspruch
Nowikows zu haben, den Lehmann anführt. Nowikow, ein angesehener So-
ziolog, der als Gutsbesitzer und Landeshauptmann die Bauern genau kennen
gelernt hat, schreibt, es sei ein Vorurteil, daß die russischen Bauern gesund
und kräftig seien; nur ihre bewundrungswürdige moralische Widerstandsfähig-


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[0498] Wo die Not eintritt, sind die Leute zunächst darauf bedacht, das Vieh durchzubringen; sie verwenden einen Teil ihres Brotkorns als Viehfutter, er¬ reichen dabei aber oft weiter nichts, als daß sie ihrem Vieh — Tiere sind weniger widerstandsfähig als Menschen — im Tode rasch nachfolgen. Giebt es kein andres Viehfutter mehr, so wird das Stroh der Dächer, das freilich so gut wie gar keinen Nährwert hat, verfüttert, und die ohnehin elenden russischen Bauernhütten sehen deshalb in den Hungergebieten noch elender als sonst aus. Wer klug ist, verkauft sein Vieh beizeiten, wo es noch einigen Wert hat; von den verhungerten Tieren kann höchstens noch die Haut ver¬ wertet werden. Am längsten sträuben sich die Bauern gegen den Verkauf der Pferde, denn ohne Pferd können sie im nächsten Frühjahr den Acker nicht be¬ stellen; die Hungersnot von 1891 hat den Pferdebestand der Bauern um eine Million Stück vermindert. Von Rindern, Schafen, Schweinen ist im Hunger¬ gebiet keine Rede mehr, auch alle Hunde und Katzen sind verschwunden; von Geflügel sprechen die Verfasser nicht, die russischen Bauern mögen wohl über¬ haupt keins halten. Ist nach längerer Unterernährung das letzte Brotkorn verzehrt, so wird zu elenden Surrogaten gegriffen, bis die von der Negierung geschickten und die freiwilligen Helfer kommen, Speiseanstalten, Spitäler ein¬ richten und Brotkoru verteilen. Die Hilfe ist jedoch überall so unzulänglich, daß nur der eigentliche Hungertod, nicht das aus langer Unterernährung und dem Genuß schlechter Nahrungsmittel hervorgehende Siechtum verhindert wird. Sind die Abzehrung und die Sästeverschlechterung an sich schon eine Krankheit, so rauben sie außerdem dem Körper die Widerstandsfähigkeit gegen gesundheit¬ schädliche Einflüsse, und es wüten daher Seuchen aller Art im Hungergebiet. Merkwürdigerweise ist nicht der Flecktyphus oder Hungertyphus die verbreitetste, sondern der Skorbut, wodurch die hergebrachte Meinung widerlegt wird, daß diese Krankheit nur die Folge ausschließlicher Fleischnahrung, namentlich von Rauchfleisch oder Pökelfleisch sei; denn die Russen im Huugergebiet genießen so gut wie gar kein Fleisch. Der Vezirksarzt von Tfchistopol berichtete den Verfassern, daß man in seinem Regierungsbezirk zur Zeit 10000 Skorbutkranke zähle, daß aber die amtliche Registrierung sehr viel zu wünschen übrig lasse; sie selbst haben überall solche Leidende in großer Anzahl und in allen Stadien der scheußlichen Krankheit getroffen, von deren Verlauf und ekelhaften Symptomen Dr. Lehmann die genauste Beschreibung giebt. Er berichtet außerdem über alle andern Krankheiten, die er vertreten gefunden hat; auch die Syphilis ist unter dem Landvolk viel verbreitet. Ob der Jahresdurchschnitt von 3410845 Er¬ krankungen in Rußland Lehmann zu der Behauptung berechtigt, daß der russische Bauernstand durch und durch verseucht sei, mögen Leute entscheiden, die sich auf die Medizinalstatistik verstehn. Mehr Gewicht scheint uns ein Ausspruch Nowikows zu haben, den Lehmann anführt. Nowikow, ein angesehener So- ziolog, der als Gutsbesitzer und Landeshauptmann die Bauern genau kennen gelernt hat, schreibt, es sei ein Vorurteil, daß die russischen Bauern gesund und kräftig seien; nur ihre bewundrungswürdige moralische Widerstandsfähig-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/498>, abgerufen am 23.06.2024.