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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Reichskanzler und Reichstag

Anspruch nehmen könnten, und deshalb "vollen wir in China nicht ohne
zwingendste Veranlassung Annexionspolitik treiben, weil wir gar kein Interesse
daran haben, uus in China auf ein bestimmtes Lnudergebiet festnageln zu
lasse". Wir haben in Kiciutschou den notwendigen Stützpunkt gefunden für
unsre Schiffahrt, für unsre Marine. Wir haben in Schenkung ein weites
Feld für kommerzielle und industrielle Thätigkeit. Aber lange bevor wir nach
Kiautschou gingen, hatte sich der deutsche Kaufmann angesiedelt in Harlan,
Tientsin, Shanghai, am Golf von Petschili, im weiten Stromgebiet des
Uangtse, Dieser weiten Ausbreitung unsers .Handels in allen Teilen des
chinesischen Reichs und dem friedlichen Wettbewerb aller Völker in China im
Zeichen von "Leben und Lebenlassen", dem wollen wir nicht prüjudizieren. --
Das war das Motiv, und das ist die Tendenz des deutsch-englischen Ab¬
kommens vom 16. Oktober dieses Jahres, mit dessen leitenden Grundsätzen sich
inzwischen die andern Kabinette einverstanden erklärt haben."

Die unmittelbaren Ziele des militärischen Einschreitens in China hat
Graf Bülow in dem Rundschreiben an die deutschen verbündeten Regierungen
vom 11. Juli dargelegt. Davon ist bis jetzt nur erreicht die Befreiung der
in Peking eingeschlossenen Europäer. Die Sicherstellung von Leben, Person,
Eigentum und Besitz der in China lebenden Fremden, Garantien für die Zu¬
kunft, angemessene Genugthuung für die verübten Unthaten, Entschädigung für
die Auflagen und Kosten, die Sicherung unsers eignen Besitzes, diese Ziele
sind, wie der Kanzler sagt, noch unerledigt. Ein wichtiger Schritt zum Ziel
ist die Einigung der Gesandte" über die bekannten elf Artikel einer von allen
Mächten gemeinsam an die chinesische Regierung zu richtenden Note.

Die weitere Entwicklung der Dinge im einzelnen vorauszusehen, ist nach
des Kanzlers Meinung heute nicht möglich. Aber "desinteressieren" könnten
wir uns in China nicht. Es stünden für uns "zu wesentliche ethische und
materielle Werte" auf dem Spiel, als daß wir ohne weiteres beiseite treten
könnten. "Wenn wir das thäten, fügte er hinzu -- ich sage das mit der
höchsten Überlegung --, so würdet? wir in wirtschaftlicher und politischer Hin¬
sicht die Zukunft des deutschen Volks in unverantwortlicher Weise preisgeben,
in einer Weise, die uns die Geschichte nicht verzeihen würde." Wir hätten
deshalb gerade so viel Schiffe und genau so viel Mannschaften nach China
geschickt, wie notwendig seien, unsre Stelle im Rahmen der internationalen
Aktion anständig auszufüllen, für die uns widcrfahrne Unthat entsprechende
Genugthuung zu erlangen und unsre vertragsmäßige Position gegen weitere
Beeinträchtigungen zu sichern.

Wir würden aber deshalb niemals vergessen, daß unser Zentrum in
Europa lüge; wir würden nichts unternehmen, wodurch die Sicherheit der
Heimat, die Wehrkraft des deutschen Volks irgendwie geschwächt werden könnte.
Diese Wehrkraft sei auch heute völlig intakt. Durch die Truppensendungen nach
China sei unsre Aktionsfähigkeit in Europa in keiner Weise beeinträchtigt worden.
Das sage er nicht nur für dieses hohe Haus, das sage er pro urd<z et ordo.


Reichskanzler und Reichstag

Anspruch nehmen könnten, und deshalb »vollen wir in China nicht ohne
zwingendste Veranlassung Annexionspolitik treiben, weil wir gar kein Interesse
daran haben, uus in China auf ein bestimmtes Lnudergebiet festnageln zu
lasse». Wir haben in Kiciutschou den notwendigen Stützpunkt gefunden für
unsre Schiffahrt, für unsre Marine. Wir haben in Schenkung ein weites
Feld für kommerzielle und industrielle Thätigkeit. Aber lange bevor wir nach
Kiautschou gingen, hatte sich der deutsche Kaufmann angesiedelt in Harlan,
Tientsin, Shanghai, am Golf von Petschili, im weiten Stromgebiet des
Uangtse, Dieser weiten Ausbreitung unsers .Handels in allen Teilen des
chinesischen Reichs und dem friedlichen Wettbewerb aller Völker in China im
Zeichen von »Leben und Lebenlassen», dem wollen wir nicht prüjudizieren. —
Das war das Motiv, und das ist die Tendenz des deutsch-englischen Ab¬
kommens vom 16. Oktober dieses Jahres, mit dessen leitenden Grundsätzen sich
inzwischen die andern Kabinette einverstanden erklärt haben."

Die unmittelbaren Ziele des militärischen Einschreitens in China hat
Graf Bülow in dem Rundschreiben an die deutschen verbündeten Regierungen
vom 11. Juli dargelegt. Davon ist bis jetzt nur erreicht die Befreiung der
in Peking eingeschlossenen Europäer. Die Sicherstellung von Leben, Person,
Eigentum und Besitz der in China lebenden Fremden, Garantien für die Zu¬
kunft, angemessene Genugthuung für die verübten Unthaten, Entschädigung für
die Auflagen und Kosten, die Sicherung unsers eignen Besitzes, diese Ziele
sind, wie der Kanzler sagt, noch unerledigt. Ein wichtiger Schritt zum Ziel
ist die Einigung der Gesandte» über die bekannten elf Artikel einer von allen
Mächten gemeinsam an die chinesische Regierung zu richtenden Note.

Die weitere Entwicklung der Dinge im einzelnen vorauszusehen, ist nach
des Kanzlers Meinung heute nicht möglich. Aber „desinteressieren" könnten
wir uns in China nicht. Es stünden für uns „zu wesentliche ethische und
materielle Werte" auf dem Spiel, als daß wir ohne weiteres beiseite treten
könnten. „Wenn wir das thäten, fügte er hinzu — ich sage das mit der
höchsten Überlegung —, so würdet? wir in wirtschaftlicher und politischer Hin¬
sicht die Zukunft des deutschen Volks in unverantwortlicher Weise preisgeben,
in einer Weise, die uns die Geschichte nicht verzeihen würde." Wir hätten
deshalb gerade so viel Schiffe und genau so viel Mannschaften nach China
geschickt, wie notwendig seien, unsre Stelle im Rahmen der internationalen
Aktion anständig auszufüllen, für die uns widcrfahrne Unthat entsprechende
Genugthuung zu erlangen und unsre vertragsmäßige Position gegen weitere
Beeinträchtigungen zu sichern.

Wir würden aber deshalb niemals vergessen, daß unser Zentrum in
Europa lüge; wir würden nichts unternehmen, wodurch die Sicherheit der
Heimat, die Wehrkraft des deutschen Volks irgendwie geschwächt werden könnte.
Diese Wehrkraft sei auch heute völlig intakt. Durch die Truppensendungen nach
China sei unsre Aktionsfähigkeit in Europa in keiner Weise beeinträchtigt worden.
Das sage er nicht nur für dieses hohe Haus, das sage er pro urd<z et ordo.


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[0466] Reichskanzler und Reichstag Anspruch nehmen könnten, und deshalb »vollen wir in China nicht ohne zwingendste Veranlassung Annexionspolitik treiben, weil wir gar kein Interesse daran haben, uus in China auf ein bestimmtes Lnudergebiet festnageln zu lasse». Wir haben in Kiciutschou den notwendigen Stützpunkt gefunden für unsre Schiffahrt, für unsre Marine. Wir haben in Schenkung ein weites Feld für kommerzielle und industrielle Thätigkeit. Aber lange bevor wir nach Kiautschou gingen, hatte sich der deutsche Kaufmann angesiedelt in Harlan, Tientsin, Shanghai, am Golf von Petschili, im weiten Stromgebiet des Uangtse, Dieser weiten Ausbreitung unsers .Handels in allen Teilen des chinesischen Reichs und dem friedlichen Wettbewerb aller Völker in China im Zeichen von »Leben und Lebenlassen», dem wollen wir nicht prüjudizieren. — Das war das Motiv, und das ist die Tendenz des deutsch-englischen Ab¬ kommens vom 16. Oktober dieses Jahres, mit dessen leitenden Grundsätzen sich inzwischen die andern Kabinette einverstanden erklärt haben." Die unmittelbaren Ziele des militärischen Einschreitens in China hat Graf Bülow in dem Rundschreiben an die deutschen verbündeten Regierungen vom 11. Juli dargelegt. Davon ist bis jetzt nur erreicht die Befreiung der in Peking eingeschlossenen Europäer. Die Sicherstellung von Leben, Person, Eigentum und Besitz der in China lebenden Fremden, Garantien für die Zu¬ kunft, angemessene Genugthuung für die verübten Unthaten, Entschädigung für die Auflagen und Kosten, die Sicherung unsers eignen Besitzes, diese Ziele sind, wie der Kanzler sagt, noch unerledigt. Ein wichtiger Schritt zum Ziel ist die Einigung der Gesandte» über die bekannten elf Artikel einer von allen Mächten gemeinsam an die chinesische Regierung zu richtenden Note. Die weitere Entwicklung der Dinge im einzelnen vorauszusehen, ist nach des Kanzlers Meinung heute nicht möglich. Aber „desinteressieren" könnten wir uns in China nicht. Es stünden für uns „zu wesentliche ethische und materielle Werte" auf dem Spiel, als daß wir ohne weiteres beiseite treten könnten. „Wenn wir das thäten, fügte er hinzu — ich sage das mit der höchsten Überlegung —, so würdet? wir in wirtschaftlicher und politischer Hin¬ sicht die Zukunft des deutschen Volks in unverantwortlicher Weise preisgeben, in einer Weise, die uns die Geschichte nicht verzeihen würde." Wir hätten deshalb gerade so viel Schiffe und genau so viel Mannschaften nach China geschickt, wie notwendig seien, unsre Stelle im Rahmen der internationalen Aktion anständig auszufüllen, für die uns widcrfahrne Unthat entsprechende Genugthuung zu erlangen und unsre vertragsmäßige Position gegen weitere Beeinträchtigungen zu sichern. Wir würden aber deshalb niemals vergessen, daß unser Zentrum in Europa lüge; wir würden nichts unternehmen, wodurch die Sicherheit der Heimat, die Wehrkraft des deutschen Volks irgendwie geschwächt werden könnte. Diese Wehrkraft sei auch heute völlig intakt. Durch die Truppensendungen nach China sei unsre Aktionsfähigkeit in Europa in keiner Weise beeinträchtigt worden. Das sage er nicht nur für dieses hohe Haus, das sage er pro urd<z et ordo.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/466>, abgerufen am 26.06.2024.