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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Aus der lVertherzeit

seien. Das Wort: "Der Mann hat zwei Seelen, eine gute, eine böse,"
scheint nicht unzutreffend gewesen zu sein. Schon am Hochzeitstage hatte er
eine deutliche Vorstellung davon, wie es kommen werde, und er war im Be¬
griff gewesen, im letzten Augenblick vor der Trauung wegzufahren. "Die neu¬
modische Welt hätte mich zwar ausgelacht, so schrieb er ihr einmal, du aber
wärst glücklicher, als du jetzt bist, du hättest einen Mann bekommen, der mehr
für dich paßt, und ich hätte nicht das Unglück, durch den Gedanken gepeinigt
zu werde", daß ich eine Frau habe, über die ich keine Klage als die führen
truü, daß sie durchaus nicht für mich paßt, obzwar ich es einsehe, daß hundert
Männer dnrch sie glücklich sein könnten." Er hatte sich eine tüchtige Wirt¬
schafterin gewünscht, und sie war in seineu Augen eine "Mode- und Tanz¬
puppe," eine "gelehrte Närrin." Das ging nicht zusammen und wurde immer
schlimmer. Jede Aussprache, jeder Versuch einer Heilung führte nur zu einer
größern Entfremdung.

Die Geschichte dieser unseligen Ehe nun ist in den Blättern, die Elihu
ihrer Freundin Karoline Stolz schrieb, aufs umständlichste erzählt, mit allen
Auftritten und Szenen, Vorsätzen und Anklagen, immer erneuten und immer
getäuschten Hoffnungen. Ein einförmiges und trauriges Gemälde, in das aber
eine anziehende Episode eingefügt ist: ein kurzer Herzensroman, der charakte¬
ristisch ist für die Zeit, in der der Werther entstand, und der, obwohl erlebt
und heiß empfunden, sein Kostüm selbst der Goethischen Dichtung entlehnte,
kurz eine wirkliche Werthergeschichte.

Unter deu vom Herzog an seine Akademie Berufnen war auch ein junger
Schwabe, Gottlob David Hartmann. Als Sohn eines Schullehrers war er
durch die württembergischen Klosterschulen gegangen und hatte schon im Tübinger
Stift, voll von Ehrgeiz und Selbstgefühl, litterarische Verbindungen nach allen
Seiten angeknüpft, mit Lavater in Zürich einen Herzensbnnd geschlossen und
sich durch eine Reihe poetischer und prosaischer Schriften einen Platz in der
deutschen Schriftstellerwelt zu erobern gesucht. Ein Neider lind Verächter
Goethes, hielt er sich zu großen Dingen berufen; er steckte voll ungemessener
Entwürfe, und in diesem Stadium unfertiger Gärung erhielt er den Ruf nach
Mitau, wo er im Sommer 1774, noch nicht zweiundzwanzig Jahre alt, ein¬
traf. Hier sah sich der unbärtige Professor der Philosophie aufs entgegen¬
kommendste aufgenommen, von dem Herzog, von den Kollegen, von der Gesell¬
schaft! man lud ihn auf die nahen Güter der Adlichen, überall war er wohlgelitten,
und da die Akademie noch nicht in Gang kommen wollte, genoß er inzwischen
in vollen Zügen diese ihm fremde Art einer vornehmen Geselligkeit. Es war
am 2. Februar 1775, daß ihn Herr von der Recke selbst von Mitau nach
seinem Gut Neuenburg brachte und als einen "liebenswürdigen und inter¬
essanten Mann" seiner Gattin zuführte, die damals einundzwanzig Jahre alt
war. Gleich der erste Abend war entscheidend für den feurigen Jüngling und
die liebebedürftige, nach einem gleichgestimmten Herzen verlangende Frau.
Hartmann war äußerst begierig gewesen, die Vielbewunderte kennen zu lernen,


Gronzboten IV 1900 53
Aus der lVertherzeit

seien. Das Wort: „Der Mann hat zwei Seelen, eine gute, eine böse,"
scheint nicht unzutreffend gewesen zu sein. Schon am Hochzeitstage hatte er
eine deutliche Vorstellung davon, wie es kommen werde, und er war im Be¬
griff gewesen, im letzten Augenblick vor der Trauung wegzufahren. „Die neu¬
modische Welt hätte mich zwar ausgelacht, so schrieb er ihr einmal, du aber
wärst glücklicher, als du jetzt bist, du hättest einen Mann bekommen, der mehr
für dich paßt, und ich hätte nicht das Unglück, durch den Gedanken gepeinigt
zu werde», daß ich eine Frau habe, über die ich keine Klage als die führen
truü, daß sie durchaus nicht für mich paßt, obzwar ich es einsehe, daß hundert
Männer dnrch sie glücklich sein könnten." Er hatte sich eine tüchtige Wirt¬
schafterin gewünscht, und sie war in seineu Augen eine „Mode- und Tanz¬
puppe," eine „gelehrte Närrin." Das ging nicht zusammen und wurde immer
schlimmer. Jede Aussprache, jeder Versuch einer Heilung führte nur zu einer
größern Entfremdung.

Die Geschichte dieser unseligen Ehe nun ist in den Blättern, die Elihu
ihrer Freundin Karoline Stolz schrieb, aufs umständlichste erzählt, mit allen
Auftritten und Szenen, Vorsätzen und Anklagen, immer erneuten und immer
getäuschten Hoffnungen. Ein einförmiges und trauriges Gemälde, in das aber
eine anziehende Episode eingefügt ist: ein kurzer Herzensroman, der charakte¬
ristisch ist für die Zeit, in der der Werther entstand, und der, obwohl erlebt
und heiß empfunden, sein Kostüm selbst der Goethischen Dichtung entlehnte,
kurz eine wirkliche Werthergeschichte.

Unter deu vom Herzog an seine Akademie Berufnen war auch ein junger
Schwabe, Gottlob David Hartmann. Als Sohn eines Schullehrers war er
durch die württembergischen Klosterschulen gegangen und hatte schon im Tübinger
Stift, voll von Ehrgeiz und Selbstgefühl, litterarische Verbindungen nach allen
Seiten angeknüpft, mit Lavater in Zürich einen Herzensbnnd geschlossen und
sich durch eine Reihe poetischer und prosaischer Schriften einen Platz in der
deutschen Schriftstellerwelt zu erobern gesucht. Ein Neider lind Verächter
Goethes, hielt er sich zu großen Dingen berufen; er steckte voll ungemessener
Entwürfe, und in diesem Stadium unfertiger Gärung erhielt er den Ruf nach
Mitau, wo er im Sommer 1774, noch nicht zweiundzwanzig Jahre alt, ein¬
traf. Hier sah sich der unbärtige Professor der Philosophie aufs entgegen¬
kommendste aufgenommen, von dem Herzog, von den Kollegen, von der Gesell¬
schaft! man lud ihn auf die nahen Güter der Adlichen, überall war er wohlgelitten,
und da die Akademie noch nicht in Gang kommen wollte, genoß er inzwischen
in vollen Zügen diese ihm fremde Art einer vornehmen Geselligkeit. Es war
am 2. Februar 1775, daß ihn Herr von der Recke selbst von Mitau nach
seinem Gut Neuenburg brachte und als einen „liebenswürdigen und inter¬
essanten Mann" seiner Gattin zuführte, die damals einundzwanzig Jahre alt
war. Gleich der erste Abend war entscheidend für den feurigen Jüngling und
die liebebedürftige, nach einem gleichgestimmten Herzen verlangende Frau.
Hartmann war äußerst begierig gewesen, die Vielbewunderte kennen zu lernen,


Gronzboten IV 1900 53
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[0459] Aus der lVertherzeit seien. Das Wort: „Der Mann hat zwei Seelen, eine gute, eine böse," scheint nicht unzutreffend gewesen zu sein. Schon am Hochzeitstage hatte er eine deutliche Vorstellung davon, wie es kommen werde, und er war im Be¬ griff gewesen, im letzten Augenblick vor der Trauung wegzufahren. „Die neu¬ modische Welt hätte mich zwar ausgelacht, so schrieb er ihr einmal, du aber wärst glücklicher, als du jetzt bist, du hättest einen Mann bekommen, der mehr für dich paßt, und ich hätte nicht das Unglück, durch den Gedanken gepeinigt zu werde», daß ich eine Frau habe, über die ich keine Klage als die führen truü, daß sie durchaus nicht für mich paßt, obzwar ich es einsehe, daß hundert Männer dnrch sie glücklich sein könnten." Er hatte sich eine tüchtige Wirt¬ schafterin gewünscht, und sie war in seineu Augen eine „Mode- und Tanz¬ puppe," eine „gelehrte Närrin." Das ging nicht zusammen und wurde immer schlimmer. Jede Aussprache, jeder Versuch einer Heilung führte nur zu einer größern Entfremdung. Die Geschichte dieser unseligen Ehe nun ist in den Blättern, die Elihu ihrer Freundin Karoline Stolz schrieb, aufs umständlichste erzählt, mit allen Auftritten und Szenen, Vorsätzen und Anklagen, immer erneuten und immer getäuschten Hoffnungen. Ein einförmiges und trauriges Gemälde, in das aber eine anziehende Episode eingefügt ist: ein kurzer Herzensroman, der charakte¬ ristisch ist für die Zeit, in der der Werther entstand, und der, obwohl erlebt und heiß empfunden, sein Kostüm selbst der Goethischen Dichtung entlehnte, kurz eine wirkliche Werthergeschichte. Unter deu vom Herzog an seine Akademie Berufnen war auch ein junger Schwabe, Gottlob David Hartmann. Als Sohn eines Schullehrers war er durch die württembergischen Klosterschulen gegangen und hatte schon im Tübinger Stift, voll von Ehrgeiz und Selbstgefühl, litterarische Verbindungen nach allen Seiten angeknüpft, mit Lavater in Zürich einen Herzensbnnd geschlossen und sich durch eine Reihe poetischer und prosaischer Schriften einen Platz in der deutschen Schriftstellerwelt zu erobern gesucht. Ein Neider lind Verächter Goethes, hielt er sich zu großen Dingen berufen; er steckte voll ungemessener Entwürfe, und in diesem Stadium unfertiger Gärung erhielt er den Ruf nach Mitau, wo er im Sommer 1774, noch nicht zweiundzwanzig Jahre alt, ein¬ traf. Hier sah sich der unbärtige Professor der Philosophie aufs entgegen¬ kommendste aufgenommen, von dem Herzog, von den Kollegen, von der Gesell¬ schaft! man lud ihn auf die nahen Güter der Adlichen, überall war er wohlgelitten, und da die Akademie noch nicht in Gang kommen wollte, genoß er inzwischen in vollen Zügen diese ihm fremde Art einer vornehmen Geselligkeit. Es war am 2. Februar 1775, daß ihn Herr von der Recke selbst von Mitau nach seinem Gut Neuenburg brachte und als einen „liebenswürdigen und inter¬ essanten Mann" seiner Gattin zuführte, die damals einundzwanzig Jahre alt war. Gleich der erste Abend war entscheidend für den feurigen Jüngling und die liebebedürftige, nach einem gleichgestimmten Herzen verlangende Frau. Hartmann war äußerst begierig gewesen, die Vielbewunderte kennen zu lernen, Gronzboten IV 1900 53

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/459>, abgerufen am 26.06.2024.