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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist

dem Lande, das sich seiner Freiheit rühmt, ihr fühlt und trauert, daß ihr
Sklaven seid." Und in einer Zeitung ruft Oastler 1831 den Arbeitern zu:
"Bringt alle diese Thatsachen vor die Öffentlichkeit und zeigt das scheußliche
Untier in seiner vollen Nntnr, Dann fragt: Soll es so fortgehn, bis daß
das ganze Gewerbe des Reichs nnter einem großen Dache vereint ist, und die
ganze Welt von einer Niesenfirma versorgt wird, bis daß die menschliche Natur
körperlich und sittlich beinahe zerstört ist, und alle Einwohner dieser Länder
die Sklaven des einen großen gewerbtreibenden Nabobs sind?" Und Alfred
sagt in seiner Geschichte der Bewegung für Arbeiterschutz: "Es ist unmöglich,
sich einen großem Fluch für ein Volk zu denken, als eine Art des Gewerbe¬
betriebes, wodurch menschliche Wesen ius Leben gerufen und zu einer frühen
Geschlechtsreife herangezüchtet werden, um übermüßig lange Stunden unter
Verhältnissen zu arbeiten, die der Gesundheit von Leib und Seele widersprechen,
wahrend der ganze Sinn und Zweck ihres Daseins auf eine Berechnung
hinausläuft, mit wie wenig das Leben und die Bewegung ihrer Hände er¬
halten werden kann; diese Erniedrigung menschlicher Wesen auf die Stufe der
unterstell Fabriklverkzeuge ist die größte Blasphemie. Unter dein ungeregelten
Fabrikshstem wurden Männer, Frauen und Kinder als persönliches Eigentum
weniger Bevorzugten auf die Stufe von Mitteln und voll Dingen herab¬
gewürdigt."

Das "Heranzüchten" bei Alfred erinnert daran, daß sich die Arbeiter
selbst zu Mitschuldigen der Unternehmer gemacht haben. Die Mittel, mit denen
sie sich anfänglich, wo sie noch verarmte Handwerker waren, gegen die Ver¬
schlechterung ihrer Lage wehrten, waren größtenteils, wie die Zerstörung von
Maschine", unverständig und thöricht. Als dann das Werk im Gange war,
haben sich viele darein gefunden, sich ganz gern durch die Arbeit ihrer Weiber
und Kinder ernähren zu lassen, und zu dem ausgesprochnen Zwecke Kinder ge¬
zeugt, daß sie Fabriksklaveu zu Ernährern hätten. Solche haben sich dann
später ebenso wie die Unternehmer gegen die Durchführung der Kinderschutz-
gesetze gesträubt und haben das Alter ihrer Kinder falsch angegeben, um sie
nach wie vor in die Fabriken zu bringen. Der Seelenzustand dieser Arbeiter
wie dieser Unternehmer wäre ein würdiger und lohnender Gegenstand für ein
eignes psychologisches Studium, für das ja Novellisten wie Dickens,- Kingsley
und Disraeli schou wertvolle Vorarbeiten geliefert haben. Hier müssen wir
uns auf die Bemerkung beschränken, daß in diesem Falle die relative Berech¬
tigung der materialistischen Geschichtskonstruktion zur Geltung kommt. Wenn
wir nicht annähmen, daß gewisse wirtschaftliche und soziale Zustände und Ver¬
hältnisse das Denken und Fühlen ganzer Gesellschaftsschichten zwingend be¬
stimmen und die moralische Freiheit ganz oder beinahe ganz aufheben, müßten
wir die damalige" englischen Fabrik- und Grubenbesitzer und die andern Vor¬
nehmen, die ihr Treiben duldeten, für Teufel erklären, für Verbrecher, die die
Todesstrafe verdient hätten. Selbstverständlich aber kommt diese Auffassung
den Lastern des Proletariats in noch höherm Grade zu gute, da ja in einer


wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist

dem Lande, das sich seiner Freiheit rühmt, ihr fühlt und trauert, daß ihr
Sklaven seid." Und in einer Zeitung ruft Oastler 1831 den Arbeitern zu:
„Bringt alle diese Thatsachen vor die Öffentlichkeit und zeigt das scheußliche
Untier in seiner vollen Nntnr, Dann fragt: Soll es so fortgehn, bis daß
das ganze Gewerbe des Reichs nnter einem großen Dache vereint ist, und die
ganze Welt von einer Niesenfirma versorgt wird, bis daß die menschliche Natur
körperlich und sittlich beinahe zerstört ist, und alle Einwohner dieser Länder
die Sklaven des einen großen gewerbtreibenden Nabobs sind?" Und Alfred
sagt in seiner Geschichte der Bewegung für Arbeiterschutz: „Es ist unmöglich,
sich einen großem Fluch für ein Volk zu denken, als eine Art des Gewerbe¬
betriebes, wodurch menschliche Wesen ius Leben gerufen und zu einer frühen
Geschlechtsreife herangezüchtet werden, um übermüßig lange Stunden unter
Verhältnissen zu arbeiten, die der Gesundheit von Leib und Seele widersprechen,
wahrend der ganze Sinn und Zweck ihres Daseins auf eine Berechnung
hinausläuft, mit wie wenig das Leben und die Bewegung ihrer Hände er¬
halten werden kann; diese Erniedrigung menschlicher Wesen auf die Stufe der
unterstell Fabriklverkzeuge ist die größte Blasphemie. Unter dein ungeregelten
Fabrikshstem wurden Männer, Frauen und Kinder als persönliches Eigentum
weniger Bevorzugten auf die Stufe von Mitteln und voll Dingen herab¬
gewürdigt."

Das „Heranzüchten" bei Alfred erinnert daran, daß sich die Arbeiter
selbst zu Mitschuldigen der Unternehmer gemacht haben. Die Mittel, mit denen
sie sich anfänglich, wo sie noch verarmte Handwerker waren, gegen die Ver¬
schlechterung ihrer Lage wehrten, waren größtenteils, wie die Zerstörung von
Maschine», unverständig und thöricht. Als dann das Werk im Gange war,
haben sich viele darein gefunden, sich ganz gern durch die Arbeit ihrer Weiber
und Kinder ernähren zu lassen, und zu dem ausgesprochnen Zwecke Kinder ge¬
zeugt, daß sie Fabriksklaveu zu Ernährern hätten. Solche haben sich dann
später ebenso wie die Unternehmer gegen die Durchführung der Kinderschutz-
gesetze gesträubt und haben das Alter ihrer Kinder falsch angegeben, um sie
nach wie vor in die Fabriken zu bringen. Der Seelenzustand dieser Arbeiter
wie dieser Unternehmer wäre ein würdiger und lohnender Gegenstand für ein
eignes psychologisches Studium, für das ja Novellisten wie Dickens,- Kingsley
und Disraeli schou wertvolle Vorarbeiten geliefert haben. Hier müssen wir
uns auf die Bemerkung beschränken, daß in diesem Falle die relative Berech¬
tigung der materialistischen Geschichtskonstruktion zur Geltung kommt. Wenn
wir nicht annähmen, daß gewisse wirtschaftliche und soziale Zustände und Ver¬
hältnisse das Denken und Fühlen ganzer Gesellschaftsschichten zwingend be¬
stimmen und die moralische Freiheit ganz oder beinahe ganz aufheben, müßten
wir die damalige» englischen Fabrik- und Grubenbesitzer und die andern Vor¬
nehmen, die ihr Treiben duldeten, für Teufel erklären, für Verbrecher, die die
Todesstrafe verdient hätten. Selbstverständlich aber kommt diese Auffassung
den Lastern des Proletariats in noch höherm Grade zu gute, da ja in einer


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[0452] wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist dem Lande, das sich seiner Freiheit rühmt, ihr fühlt und trauert, daß ihr Sklaven seid." Und in einer Zeitung ruft Oastler 1831 den Arbeitern zu: „Bringt alle diese Thatsachen vor die Öffentlichkeit und zeigt das scheußliche Untier in seiner vollen Nntnr, Dann fragt: Soll es so fortgehn, bis daß das ganze Gewerbe des Reichs nnter einem großen Dache vereint ist, und die ganze Welt von einer Niesenfirma versorgt wird, bis daß die menschliche Natur körperlich und sittlich beinahe zerstört ist, und alle Einwohner dieser Länder die Sklaven des einen großen gewerbtreibenden Nabobs sind?" Und Alfred sagt in seiner Geschichte der Bewegung für Arbeiterschutz: „Es ist unmöglich, sich einen großem Fluch für ein Volk zu denken, als eine Art des Gewerbe¬ betriebes, wodurch menschliche Wesen ius Leben gerufen und zu einer frühen Geschlechtsreife herangezüchtet werden, um übermüßig lange Stunden unter Verhältnissen zu arbeiten, die der Gesundheit von Leib und Seele widersprechen, wahrend der ganze Sinn und Zweck ihres Daseins auf eine Berechnung hinausläuft, mit wie wenig das Leben und die Bewegung ihrer Hände er¬ halten werden kann; diese Erniedrigung menschlicher Wesen auf die Stufe der unterstell Fabriklverkzeuge ist die größte Blasphemie. Unter dein ungeregelten Fabrikshstem wurden Männer, Frauen und Kinder als persönliches Eigentum weniger Bevorzugten auf die Stufe von Mitteln und voll Dingen herab¬ gewürdigt." Das „Heranzüchten" bei Alfred erinnert daran, daß sich die Arbeiter selbst zu Mitschuldigen der Unternehmer gemacht haben. Die Mittel, mit denen sie sich anfänglich, wo sie noch verarmte Handwerker waren, gegen die Ver¬ schlechterung ihrer Lage wehrten, waren größtenteils, wie die Zerstörung von Maschine», unverständig und thöricht. Als dann das Werk im Gange war, haben sich viele darein gefunden, sich ganz gern durch die Arbeit ihrer Weiber und Kinder ernähren zu lassen, und zu dem ausgesprochnen Zwecke Kinder ge¬ zeugt, daß sie Fabriksklaveu zu Ernährern hätten. Solche haben sich dann später ebenso wie die Unternehmer gegen die Durchführung der Kinderschutz- gesetze gesträubt und haben das Alter ihrer Kinder falsch angegeben, um sie nach wie vor in die Fabriken zu bringen. Der Seelenzustand dieser Arbeiter wie dieser Unternehmer wäre ein würdiger und lohnender Gegenstand für ein eignes psychologisches Studium, für das ja Novellisten wie Dickens,- Kingsley und Disraeli schou wertvolle Vorarbeiten geliefert haben. Hier müssen wir uns auf die Bemerkung beschränken, daß in diesem Falle die relative Berech¬ tigung der materialistischen Geschichtskonstruktion zur Geltung kommt. Wenn wir nicht annähmen, daß gewisse wirtschaftliche und soziale Zustände und Ver¬ hältnisse das Denken und Fühlen ganzer Gesellschaftsschichten zwingend be¬ stimmen und die moralische Freiheit ganz oder beinahe ganz aufheben, müßten wir die damalige» englischen Fabrik- und Grubenbesitzer und die andern Vor¬ nehmen, die ihr Treiben duldeten, für Teufel erklären, für Verbrecher, die die Todesstrafe verdient hätten. Selbstverständlich aber kommt diese Auffassung den Lastern des Proletariats in noch höherm Grade zu gute, da ja in einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/452>, abgerufen am 21.10.2024.