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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist

anstalten, Vereine und Zusammenkünfte, wohlthätigen und gemeinnützigen Be¬
strebungen zu entnehmen und zu bemessen. Sein letztes Endziel und größter
Erfolg ist, den Geist wahren Bürgertums und echter Menschlichkeit zu erwecken,
und dadurch, daß an Stelle des erkaltenden Gefühls der Vereinsamung das
Bewußtsein der Gemeinschaft tritt, die Kraft zu stärke",, mit reinem Herzen
dem Guten zu leben. Zwar sind in Ostlondon Löhne und Wohnungen besser,
Volksbäder und Bibliotheken zahlreicher geworden, die öffentliche Ordnung
und die Lebenshaltung gestiegen. Aber die Zukunft ist größer als die Ver¬
gangenheit, und nach dem Maß des Möglichen gemessen ist die Not so groß
wie immer. Die Bevölkerung ist durchgängig noch ohne Wissen und Bildung,
unfähig, das Gute vom Bösen zu scheiden, ohne Freude und Hoffnung. Und
gering muß bei Männern, welche die Lebens- und Sinnesweise ihrer Arbeit¬
geber nur vom Hörensagen kennen, die unmittelbare Erfahrung sein, daß auch
der Reiche ein Mensch ist und ihnen oft wohl will. Soziale Reformen, welche
bloß die äußern Umstände ändern, berühren daher ebensowenig die tiefste Not
Ostlondons, als Prediger, welche bloß auf die Empfindung wirken. Alle Arten
von Vortrügen und Stunden, Vereinen, Versammlungen und Vergnügungen
sollten daher in erster Reihe reich und arm wieder vereinigen. Weder Schule
noch Kirche, weder Wohlthätigkeit noch Gesetz kaun so viel thun wie ein Freund
für einen Freund, ein Mensch für den andern, wenn er sein Wissen und Wollen,
sich selbst hingiebt. Wenn nur erst einige Reiche und Arme einander wieder
versteh", Freude und Leid miteinander empfinden, so werden sie das Salz der
Zeit sein."

Der Geist, worin hier alles geschieht, sagt Nostitz selbst, "ist der echter
Menschen- und Nächstenliebe, nicht im Sinne wohlthuender Güte, die nur zu
geben, aber nicht zu nehmen hat, sondern brüderlicher Freundlichkeit, die
freundlich ist, weil sie Freundschaft sucht. Sich Freunde zu machen, Freund
zu werden, ist der Grundgedanke bei jeder Art gemeinnütziger und sozialer
Thätigkeit der "Nesidents", wie es in den Berichten heißt. Toynbcehall kämpft
mit Bewußtsein gegen die Vereinsamung, die Verlassen- und Verlorenheit der
einzelnen Menschenseele in der Großstadt, welche nicht bloß Arme und Reiche
trennt, sondern wo so viele "für sich" bleiben und auch den nächsten Nachbar
nicht kennen." Wenn man den Abstand zwischen dem architektonische, Natur¬
schönheit und vornehmen Komfort zu einen: Paradiese verschmelzenden Oxford
und den Ratten- und Schinutzhöhlen Ostlondons erwägt, den Abstand zwischen
einem englischen Gentleman und dem Halbtier, das in diesen Höhlen herum¬
kriecht, den physischen Ekel, den jener vor diesem empfinden muß (schreckt er
doch vor der Ehe mit einer Russin zurück, weil diese möglicherweise nicht täglich
badet), erwägt man demnach den Grad von Selbstüberwindung, der beim ersten
drzu gehört, sich als des zweiten Freund zu fühlen und seine Freundschaft zu
suchen, so steht man vor einer Erscheinung, die ohne Christus kaum denkbar
wäre, also vor einem wirklichen Stück lebendigen Christentums. Und wenn
much in mindern: Grade, werden wir dieselbe Kraft als wirksam anerkennen


Wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist

anstalten, Vereine und Zusammenkünfte, wohlthätigen und gemeinnützigen Be¬
strebungen zu entnehmen und zu bemessen. Sein letztes Endziel und größter
Erfolg ist, den Geist wahren Bürgertums und echter Menschlichkeit zu erwecken,
und dadurch, daß an Stelle des erkaltenden Gefühls der Vereinsamung das
Bewußtsein der Gemeinschaft tritt, die Kraft zu stärke»,, mit reinem Herzen
dem Guten zu leben. Zwar sind in Ostlondon Löhne und Wohnungen besser,
Volksbäder und Bibliotheken zahlreicher geworden, die öffentliche Ordnung
und die Lebenshaltung gestiegen. Aber die Zukunft ist größer als die Ver¬
gangenheit, und nach dem Maß des Möglichen gemessen ist die Not so groß
wie immer. Die Bevölkerung ist durchgängig noch ohne Wissen und Bildung,
unfähig, das Gute vom Bösen zu scheiden, ohne Freude und Hoffnung. Und
gering muß bei Männern, welche die Lebens- und Sinnesweise ihrer Arbeit¬
geber nur vom Hörensagen kennen, die unmittelbare Erfahrung sein, daß auch
der Reiche ein Mensch ist und ihnen oft wohl will. Soziale Reformen, welche
bloß die äußern Umstände ändern, berühren daher ebensowenig die tiefste Not
Ostlondons, als Prediger, welche bloß auf die Empfindung wirken. Alle Arten
von Vortrügen und Stunden, Vereinen, Versammlungen und Vergnügungen
sollten daher in erster Reihe reich und arm wieder vereinigen. Weder Schule
noch Kirche, weder Wohlthätigkeit noch Gesetz kaun so viel thun wie ein Freund
für einen Freund, ein Mensch für den andern, wenn er sein Wissen und Wollen,
sich selbst hingiebt. Wenn nur erst einige Reiche und Arme einander wieder
versteh«, Freude und Leid miteinander empfinden, so werden sie das Salz der
Zeit sein."

Der Geist, worin hier alles geschieht, sagt Nostitz selbst, „ist der echter
Menschen- und Nächstenliebe, nicht im Sinne wohlthuender Güte, die nur zu
geben, aber nicht zu nehmen hat, sondern brüderlicher Freundlichkeit, die
freundlich ist, weil sie Freundschaft sucht. Sich Freunde zu machen, Freund
zu werden, ist der Grundgedanke bei jeder Art gemeinnütziger und sozialer
Thätigkeit der »Nesidents«, wie es in den Berichten heißt. Toynbcehall kämpft
mit Bewußtsein gegen die Vereinsamung, die Verlassen- und Verlorenheit der
einzelnen Menschenseele in der Großstadt, welche nicht bloß Arme und Reiche
trennt, sondern wo so viele »für sich« bleiben und auch den nächsten Nachbar
nicht kennen." Wenn man den Abstand zwischen dem architektonische, Natur¬
schönheit und vornehmen Komfort zu einen: Paradiese verschmelzenden Oxford
und den Ratten- und Schinutzhöhlen Ostlondons erwägt, den Abstand zwischen
einem englischen Gentleman und dem Halbtier, das in diesen Höhlen herum¬
kriecht, den physischen Ekel, den jener vor diesem empfinden muß (schreckt er
doch vor der Ehe mit einer Russin zurück, weil diese möglicherweise nicht täglich
badet), erwägt man demnach den Grad von Selbstüberwindung, der beim ersten
drzu gehört, sich als des zweiten Freund zu fühlen und seine Freundschaft zu
suchen, so steht man vor einer Erscheinung, die ohne Christus kaum denkbar
wäre, also vor einem wirklichen Stück lebendigen Christentums. Und wenn
much in mindern: Grade, werden wir dieselbe Kraft als wirksam anerkennen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/401>, abgerufen am 28.09.2024.