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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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!vie der volksgcist des heutige" Englands geworden ist

Weniger eigne Ansichten auf. Sie wählen nur, aber sie wählen doch zwischen
den von den obersten Zehntausend*) Aufgestellten. Und so kann man England
gegenwärtig als eine aristokratische Demokratie bezeichnen."

Als zweites Gebiet, auf dem sich die Wiederherstellung des Volksgeistes
vollzogen hat und noch täglich vollzieht, behandelt Nostitz das Unterrichtswesen.
Es giebt nichts, was für den Staat und das Volk von England so charakte¬
ristisch wäre als die Geschichte seiner Schulen. Auch hierin war im Mittel¬
alter das Volk geeint. Seine Ritter waren selbstverständlich keine Gelehrten,
aber was es an Bildungsmitteln gab, das war allen zugänglich: die vor¬
nehmen Stiftsschulen der heutigen Zeit sind für die Söhne der Armen ge¬
gründet worden. Aber wie sah es dann in der Zeit der zwei Nationen ans!
Drei Fünftel aller Kinder wuchsen ohne allen Unterricht auf; von rund
750000 Personen, die sich in der Zeit von 1839 bis 1841 verehelichten, konnten
über 300000 nicht einmal ihren Namen schreiben. Und nach einem halben
Jahrhundert Reformthütigkeit, in: Jahre 1861, war man noch nicht sehr weit
gekommen: von 2^ Millionen Kindern erhielten nur 1^/z irgend welchen
Unterricht. Die beiden Männer, die die Bewegung für Volkserziehung in
Fluß gebracht haben, hießen Joseph Lancaster und Thomas Bell. Jener
gründete mit Unterstützung des Herzogs von Bedford in London Armenschulen,
die er so einrichtete, daß der Lehrer nur die begabtesten Schüler unterrichtete,
diese dann Lehrer der großen Masse wurden; man nannte das das Monitoren¬
system. Dann stiftete er die LritisK ana I'oreiAn Sobool 8o<zist^. Aus Eifer¬
sucht gegen die Erfolge des Quäkers Lancaster gründete der Stnntskirchler
Bell 1811 die National Looikt^, deren Schulen ähnlich eingerichtet waren.
Im Jahre 1832 wurde zum erstenmale ein Jahresposten -- nur 20000
Pfund Sterling -- "für Zwecke des öffentlichen Unterrichts" ins Staats¬
budget eingestellt und in der Weise verwandt, daß sie der Schatzsekretär als
Unterstützung zum Bau von Elementarschulen an die beiden einander feind¬
lichen Gesellschaften verteilte.

Mittlerweile hatte die Arbeiterbewegung die Einsetzung von Kommissionen
veranlaßt, die den Zustand der Fabriken und Gruben zu untersuchen hatten, und
diese förderten Jahr für Jahr neue schlimme Thatsachen zu Tage. Im Jahre 1843
berichtete der Königliche Ausschuß, in allen Bezirken wüchsen große Kinder¬
scharen ohne die geringste religiöse, sittliche oder geistige Zucht auf; es werde
nichts gethan, um sie an Ordnung, Mäßigkeit, Ehrlichkeit und Vorbedacht zu
gewöhnen, oder nur. um sie dem Laster und Verbrechen fernzuhalten. Unter¬
nehmer fingen damals an zu begreisen, daß die unterrichteten Arbeiter die ge¬
schicktem, willigem und zuverlässigem seien. Anträge auf ein förmliches
Schulgesetz scheiterten jedoch anfänglich an dem Widerstande sowohl der Staats¬
kirche als der Dissenters, und es wurde nur der Staatsbeitrag erhöht und
seine Verwendung auf Lehrmittel, Schulgeräte, Lehrerwohnungen und Stipendien



Sollte man jetzt nicht "Hunderttausend" sagen müssen?
!vie der volksgcist des heutige» Englands geworden ist

Weniger eigne Ansichten auf. Sie wählen nur, aber sie wählen doch zwischen
den von den obersten Zehntausend*) Aufgestellten. Und so kann man England
gegenwärtig als eine aristokratische Demokratie bezeichnen."

Als zweites Gebiet, auf dem sich die Wiederherstellung des Volksgeistes
vollzogen hat und noch täglich vollzieht, behandelt Nostitz das Unterrichtswesen.
Es giebt nichts, was für den Staat und das Volk von England so charakte¬
ristisch wäre als die Geschichte seiner Schulen. Auch hierin war im Mittel¬
alter das Volk geeint. Seine Ritter waren selbstverständlich keine Gelehrten,
aber was es an Bildungsmitteln gab, das war allen zugänglich: die vor¬
nehmen Stiftsschulen der heutigen Zeit sind für die Söhne der Armen ge¬
gründet worden. Aber wie sah es dann in der Zeit der zwei Nationen ans!
Drei Fünftel aller Kinder wuchsen ohne allen Unterricht auf; von rund
750000 Personen, die sich in der Zeit von 1839 bis 1841 verehelichten, konnten
über 300000 nicht einmal ihren Namen schreiben. Und nach einem halben
Jahrhundert Reformthütigkeit, in: Jahre 1861, war man noch nicht sehr weit
gekommen: von 2^ Millionen Kindern erhielten nur 1^/z irgend welchen
Unterricht. Die beiden Männer, die die Bewegung für Volkserziehung in
Fluß gebracht haben, hießen Joseph Lancaster und Thomas Bell. Jener
gründete mit Unterstützung des Herzogs von Bedford in London Armenschulen,
die er so einrichtete, daß der Lehrer nur die begabtesten Schüler unterrichtete,
diese dann Lehrer der großen Masse wurden; man nannte das das Monitoren¬
system. Dann stiftete er die LritisK ana I'oreiAn Sobool 8o<zist^. Aus Eifer¬
sucht gegen die Erfolge des Quäkers Lancaster gründete der Stnntskirchler
Bell 1811 die National Looikt^, deren Schulen ähnlich eingerichtet waren.
Im Jahre 1832 wurde zum erstenmale ein Jahresposten — nur 20000
Pfund Sterling — „für Zwecke des öffentlichen Unterrichts" ins Staats¬
budget eingestellt und in der Weise verwandt, daß sie der Schatzsekretär als
Unterstützung zum Bau von Elementarschulen an die beiden einander feind¬
lichen Gesellschaften verteilte.

Mittlerweile hatte die Arbeiterbewegung die Einsetzung von Kommissionen
veranlaßt, die den Zustand der Fabriken und Gruben zu untersuchen hatten, und
diese förderten Jahr für Jahr neue schlimme Thatsachen zu Tage. Im Jahre 1843
berichtete der Königliche Ausschuß, in allen Bezirken wüchsen große Kinder¬
scharen ohne die geringste religiöse, sittliche oder geistige Zucht auf; es werde
nichts gethan, um sie an Ordnung, Mäßigkeit, Ehrlichkeit und Vorbedacht zu
gewöhnen, oder nur. um sie dem Laster und Verbrechen fernzuhalten. Unter¬
nehmer fingen damals an zu begreisen, daß die unterrichteten Arbeiter die ge¬
schicktem, willigem und zuverlässigem seien. Anträge auf ein förmliches
Schulgesetz scheiterten jedoch anfänglich an dem Widerstande sowohl der Staats¬
kirche als der Dissenters, und es wurde nur der Staatsbeitrag erhöht und
seine Verwendung auf Lehrmittel, Schulgeräte, Lehrerwohnungen und Stipendien



Sollte man jetzt nicht „Hunderttausend" sagen müssen?
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/395>, abgerufen am 26.06.2024.