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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Rinderarbeit

Verordnungen im Sinne des Absatz 4 des § 154 gemeint sind, oder ob man
einen Novellenentwurf zur Gewerbeordnung ausgearbeitet hat, ist nicht klar,
und auch darüber schwebt Dunkel, ob man noch an der Idee von 1897 fest¬
hält, die Kommission für Arbeiterstatistik zu Rate zu ziehn und der vorläufigen
allgemeinen Erhebung noch eine eingehende Enquete, soweit Eingriffe geplant
sind, folgen zu lassen. Die Sache würde sicher nicht darunter leiden, wenn
man die Kommission für Arbeiterstatistik ganz in Ruhe ließe, wenn auch ihr
dekorativer Wert vielleicht noch etwas bedeutet. Jedenfalls wäre es zu wünschen,
daß die Negierungsvorschläge recht bald veröffentlicht würden, und daß man
nicht etwa wieder Überraschungen brächte.

So wie die Sachen jetzt liegen, dürfen sie nicht länger liegen bleiben.
Im Gewerbe ist die Fabrik jetzt geradezu das Ideal im Vergleich mit der
Werkstatt des Handwerks sowohl wie der Hausindustrie. Nicht nnr die Kinder,
sondern auch die jungen Arbeiter und die Arbeiterinnen und sogar die männ¬
lichen erwachsenen Arbeiter sind hier kläglicher daran, als sie vor dem Ausbau
des Arbeiterschutzes für die Fabriken dran waren. Natürlich sind die Kinder
in der übelsten Lage als die völlig Wehrlosen. Das gilt keineswegs nur oder
auch hauptsächlich für die "Werkstätten" der Kleider- und Wüschekonfektion, die
bekannten Zwischenmeisterbctriebe, sondern für sehr viele Zweige des selbständigen
Kleingewerbes, von der übrigen Hausindustrie gar nicht zu reden.

Die Schwierigkeit der Abhilfe sollte unsers Erachtens zur Zeit nicht mehr in
der Rücksicht auf die selbständigen und hansindustriellen Meister oder sonstigen
Unternehmer, die, um zu bestehn, angeblich fremder Leute Kinder ausbeuten
müssen, gefunden werden, sondern nur noch in der Rücksicht auf die Notlage der
Eltern, die ihre Kinder dazu hergeben oder selbst mißbrauchen, und in der Rück¬
sicht, die überhaupt bei Eingriffen in das Recht der Eltern über ihre Kinder und
in das Familienleben in besondern: Grade genommen werden muß. Es kommt
das so ziemlich auf das Umgekehrte der Ansicht von Schönberg*) hinaus, der
von dem gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit in erster Linie dann eine Aus¬
nahme erlaubt wissen will, "wenn die Betriebs- und Konkurrenzverhältnisse
für einzelne Industriezweige die vollständige Beseitigung der bisher üblichen
Kinderarbeit nicht gestatten, ohne die Existenz der Unternehmungen zu ge¬
fährden," und erst in zweiter Linie -- und besser, wie er meint, überhaupt
nicht -- dann, "wenn die Familie ohne den Erwerb der Kinder nicht existieren
kann." In welchen Industriezweigen und Unternehmungen die erste Aus¬
nahme gemacht werden solle, sei im Verwaltungswege zu bestimmen, wolle man
auch die zweite zulassen, so bleibe nichts übrig, als die Entscheidung im ein¬
zelnen Falle einer "kommunalen Behörde" oder der "Arbeitsinspektion" zu
übertragen. In beiden Füllen, fügt er hinzu, bedarf es aber "weiterer gene¬
reller gesetzlicher Vorschriften und administrativer Maßregeln, um die Übel¬
stände der ausnahmsweise gestatteten Kinderarbeit möglichst zu verringern und



Handbuch 2. 2. S. 78.
Grenzboten IV 190045
Rinderarbeit

Verordnungen im Sinne des Absatz 4 des § 154 gemeint sind, oder ob man
einen Novellenentwurf zur Gewerbeordnung ausgearbeitet hat, ist nicht klar,
und auch darüber schwebt Dunkel, ob man noch an der Idee von 1897 fest¬
hält, die Kommission für Arbeiterstatistik zu Rate zu ziehn und der vorläufigen
allgemeinen Erhebung noch eine eingehende Enquete, soweit Eingriffe geplant
sind, folgen zu lassen. Die Sache würde sicher nicht darunter leiden, wenn
man die Kommission für Arbeiterstatistik ganz in Ruhe ließe, wenn auch ihr
dekorativer Wert vielleicht noch etwas bedeutet. Jedenfalls wäre es zu wünschen,
daß die Negierungsvorschläge recht bald veröffentlicht würden, und daß man
nicht etwa wieder Überraschungen brächte.

So wie die Sachen jetzt liegen, dürfen sie nicht länger liegen bleiben.
Im Gewerbe ist die Fabrik jetzt geradezu das Ideal im Vergleich mit der
Werkstatt des Handwerks sowohl wie der Hausindustrie. Nicht nnr die Kinder,
sondern auch die jungen Arbeiter und die Arbeiterinnen und sogar die männ¬
lichen erwachsenen Arbeiter sind hier kläglicher daran, als sie vor dem Ausbau
des Arbeiterschutzes für die Fabriken dran waren. Natürlich sind die Kinder
in der übelsten Lage als die völlig Wehrlosen. Das gilt keineswegs nur oder
auch hauptsächlich für die „Werkstätten" der Kleider- und Wüschekonfektion, die
bekannten Zwischenmeisterbctriebe, sondern für sehr viele Zweige des selbständigen
Kleingewerbes, von der übrigen Hausindustrie gar nicht zu reden.

Die Schwierigkeit der Abhilfe sollte unsers Erachtens zur Zeit nicht mehr in
der Rücksicht auf die selbständigen und hansindustriellen Meister oder sonstigen
Unternehmer, die, um zu bestehn, angeblich fremder Leute Kinder ausbeuten
müssen, gefunden werden, sondern nur noch in der Rücksicht auf die Notlage der
Eltern, die ihre Kinder dazu hergeben oder selbst mißbrauchen, und in der Rück¬
sicht, die überhaupt bei Eingriffen in das Recht der Eltern über ihre Kinder und
in das Familienleben in besondern: Grade genommen werden muß. Es kommt
das so ziemlich auf das Umgekehrte der Ansicht von Schönberg*) hinaus, der
von dem gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit in erster Linie dann eine Aus¬
nahme erlaubt wissen will, „wenn die Betriebs- und Konkurrenzverhältnisse
für einzelne Industriezweige die vollständige Beseitigung der bisher üblichen
Kinderarbeit nicht gestatten, ohne die Existenz der Unternehmungen zu ge¬
fährden," und erst in zweiter Linie — und besser, wie er meint, überhaupt
nicht — dann, „wenn die Familie ohne den Erwerb der Kinder nicht existieren
kann." In welchen Industriezweigen und Unternehmungen die erste Aus¬
nahme gemacht werden solle, sei im Verwaltungswege zu bestimmen, wolle man
auch die zweite zulassen, so bleibe nichts übrig, als die Entscheidung im ein¬
zelnen Falle einer „kommunalen Behörde" oder der „Arbeitsinspektion" zu
übertragen. In beiden Füllen, fügt er hinzu, bedarf es aber „weiterer gene¬
reller gesetzlicher Vorschriften und administrativer Maßregeln, um die Übel¬
stände der ausnahmsweise gestatteten Kinderarbeit möglichst zu verringern und



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Grenzboten IV 190045
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[0391] Rinderarbeit Verordnungen im Sinne des Absatz 4 des § 154 gemeint sind, oder ob man einen Novellenentwurf zur Gewerbeordnung ausgearbeitet hat, ist nicht klar, und auch darüber schwebt Dunkel, ob man noch an der Idee von 1897 fest¬ hält, die Kommission für Arbeiterstatistik zu Rate zu ziehn und der vorläufigen allgemeinen Erhebung noch eine eingehende Enquete, soweit Eingriffe geplant sind, folgen zu lassen. Die Sache würde sicher nicht darunter leiden, wenn man die Kommission für Arbeiterstatistik ganz in Ruhe ließe, wenn auch ihr dekorativer Wert vielleicht noch etwas bedeutet. Jedenfalls wäre es zu wünschen, daß die Negierungsvorschläge recht bald veröffentlicht würden, und daß man nicht etwa wieder Überraschungen brächte. So wie die Sachen jetzt liegen, dürfen sie nicht länger liegen bleiben. Im Gewerbe ist die Fabrik jetzt geradezu das Ideal im Vergleich mit der Werkstatt des Handwerks sowohl wie der Hausindustrie. Nicht nnr die Kinder, sondern auch die jungen Arbeiter und die Arbeiterinnen und sogar die männ¬ lichen erwachsenen Arbeiter sind hier kläglicher daran, als sie vor dem Ausbau des Arbeiterschutzes für die Fabriken dran waren. Natürlich sind die Kinder in der übelsten Lage als die völlig Wehrlosen. Das gilt keineswegs nur oder auch hauptsächlich für die „Werkstätten" der Kleider- und Wüschekonfektion, die bekannten Zwischenmeisterbctriebe, sondern für sehr viele Zweige des selbständigen Kleingewerbes, von der übrigen Hausindustrie gar nicht zu reden. Die Schwierigkeit der Abhilfe sollte unsers Erachtens zur Zeit nicht mehr in der Rücksicht auf die selbständigen und hansindustriellen Meister oder sonstigen Unternehmer, die, um zu bestehn, angeblich fremder Leute Kinder ausbeuten müssen, gefunden werden, sondern nur noch in der Rücksicht auf die Notlage der Eltern, die ihre Kinder dazu hergeben oder selbst mißbrauchen, und in der Rück¬ sicht, die überhaupt bei Eingriffen in das Recht der Eltern über ihre Kinder und in das Familienleben in besondern: Grade genommen werden muß. Es kommt das so ziemlich auf das Umgekehrte der Ansicht von Schönberg*) hinaus, der von dem gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit in erster Linie dann eine Aus¬ nahme erlaubt wissen will, „wenn die Betriebs- und Konkurrenzverhältnisse für einzelne Industriezweige die vollständige Beseitigung der bisher üblichen Kinderarbeit nicht gestatten, ohne die Existenz der Unternehmungen zu ge¬ fährden," und erst in zweiter Linie — und besser, wie er meint, überhaupt nicht — dann, „wenn die Familie ohne den Erwerb der Kinder nicht existieren kann." In welchen Industriezweigen und Unternehmungen die erste Aus¬ nahme gemacht werden solle, sei im Verwaltungswege zu bestimmen, wolle man auch die zweite zulassen, so bleibe nichts übrig, als die Entscheidung im ein¬ zelnen Falle einer „kommunalen Behörde" oder der „Arbeitsinspektion" zu übertragen. In beiden Füllen, fügt er hinzu, bedarf es aber „weiterer gene¬ reller gesetzlicher Vorschriften und administrativer Maßregeln, um die Übel¬ stände der ausnahmsweise gestatteten Kinderarbeit möglichst zu verringern und Handbuch 2. 2. S. 78. Grenzboten IV 190045

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/391>, abgerufen am 26.06.2024.