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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Über die Bemannung der deutschen Kauffahrteischiffe

wird kein Ersatz geschaffen, da Neubauten fast nicht mehr geschehen. Nach
dem Handbuch für die deutsche Handelsmarine gab es am 1. Januar 1875
4426 Segelschiffe, davon waren 2244 unter 150 Registertons, d. h. Schisse
für kleine Fahrt und für Küstenfahrt, und unter diesen so gut wie keine
Schleppkühne, somit rund 2200 Segelschiffe über 150 Registertons, die zur
großen Fahrt dienten und mit einem Schiffer für große Fahrt und einem oder
zwei Steuerleuten fuhren. Am 1. Januar 1899 gab es nur noch 2489 Segel¬
schiffe, davon waren 1800 unter und nur 689 über 150 Negistertons. Unter
den letzten ist indessen noch eine größere Zahl sogenannter Seeleichter oder
Schleppkähne mitgezählt, Schisse ohne Masten und Maschine, die nur von
Schleppern über See gebracht werden. Ihre Zahl dürfte 150 überschreiten,
sodaß die Zahl der Segelschiffe in großer Fahrt nicht 539 betragen wird. Die
Zahl dieser Segelschiffe ist in fünfundzwanzig Jahren demnach von 2200 auf
539, also um 1661 zurückgegangen. Für jedes nicht ersetzte Segelschiff sind
ein Kapitän und ein oder zwei Steuerleute disponibel geworden, jedenfalls
über viertausend.

Diese und die in diesen fünfundzwanzig Jahren neugeprüften rund
8700 Steuerleute und 5200 Schiffer auf großer Fahrt konnten keine ange¬
messene Beschäftigung finden, die Reeber hatten für diese Stellungen mehr
Menschen zur Verfügung, als sie gebrauchen konnten, und ein starker Nieder¬
gang der Heuern und der Anstellungsbedingungen war die manchesterliche
Folge. Die weitere Folge war dann, daß ein allgemeiner, fluchtartiger Rück¬
zug der Offiziere von der Seefahrt zu Beschäftigungen am Lande eintrat
und noch geschieht, und so stehn wir jetzt anscheinend vor einem Mangel an
Offizieren für Segelschiffe. Junge Leute mit einem halben bis einem Jahr
Fahrzeit als Steuermann oder gar solche ohne diese müssen schon als Ober¬
steuerleute auf großen eisernen Segelschiffen augemustert werden, denn die in¬
telligenten, tüchtigen Steuerleute drängen sich alle auf die Dampfer. Die Ursache
liegt außer in dem Rückgange der Schiffszahl darin, daß Steuerleute ohne
beträchtliches Vermögen, mit dem sie in ein Segelschiff einspringen können,
nur geringe Aussicht haben, jemals Kapitän eines solchen zu werden. Steuer¬
leute mit dazu hinlangendem Vermögen giebt es heutzutage wohl noch kaum,
denn die Eltern oder die Vormünder halten die Söhne von der Seefahrt zurück.
Diese erstreben zunächst die Berechtigung zum Einjährig- Freiwilligendienst,
und wenn sie die haben, gehn sie nicht mehr zur See. Vor vierzig Jahren
bestand in den preußischen Navigationsschulen an der Ostsee mitunter die Hälfte
der Schüler aus Sekundanern mit dem Einjährigenzengnis und Primanern,
sogar solche mit dem Maturum fanden sich nicht selten, denn als Kapitän
verdienten alle damals schönes Geld und hatten eine geachtete Stellung. Jetzt
ist ihre Zahl verschwindend klein, und die Navigationslehrer klagen darüber
sehr. An der Nordseeküste gab es damals die Institution der Einjährigen noch
nicht, deshalb kann sie nicht zum Vergleich herangezogen werden.

Wenn ein Steuermann endlich nach langer Fahrzeit -- einer wie langen


Über die Bemannung der deutschen Kauffahrteischiffe

wird kein Ersatz geschaffen, da Neubauten fast nicht mehr geschehen. Nach
dem Handbuch für die deutsche Handelsmarine gab es am 1. Januar 1875
4426 Segelschiffe, davon waren 2244 unter 150 Registertons, d. h. Schisse
für kleine Fahrt und für Küstenfahrt, und unter diesen so gut wie keine
Schleppkühne, somit rund 2200 Segelschiffe über 150 Registertons, die zur
großen Fahrt dienten und mit einem Schiffer für große Fahrt und einem oder
zwei Steuerleuten fuhren. Am 1. Januar 1899 gab es nur noch 2489 Segel¬
schiffe, davon waren 1800 unter und nur 689 über 150 Negistertons. Unter
den letzten ist indessen noch eine größere Zahl sogenannter Seeleichter oder
Schleppkähne mitgezählt, Schisse ohne Masten und Maschine, die nur von
Schleppern über See gebracht werden. Ihre Zahl dürfte 150 überschreiten,
sodaß die Zahl der Segelschiffe in großer Fahrt nicht 539 betragen wird. Die
Zahl dieser Segelschiffe ist in fünfundzwanzig Jahren demnach von 2200 auf
539, also um 1661 zurückgegangen. Für jedes nicht ersetzte Segelschiff sind
ein Kapitän und ein oder zwei Steuerleute disponibel geworden, jedenfalls
über viertausend.

Diese und die in diesen fünfundzwanzig Jahren neugeprüften rund
8700 Steuerleute und 5200 Schiffer auf großer Fahrt konnten keine ange¬
messene Beschäftigung finden, die Reeber hatten für diese Stellungen mehr
Menschen zur Verfügung, als sie gebrauchen konnten, und ein starker Nieder¬
gang der Heuern und der Anstellungsbedingungen war die manchesterliche
Folge. Die weitere Folge war dann, daß ein allgemeiner, fluchtartiger Rück¬
zug der Offiziere von der Seefahrt zu Beschäftigungen am Lande eintrat
und noch geschieht, und so stehn wir jetzt anscheinend vor einem Mangel an
Offizieren für Segelschiffe. Junge Leute mit einem halben bis einem Jahr
Fahrzeit als Steuermann oder gar solche ohne diese müssen schon als Ober¬
steuerleute auf großen eisernen Segelschiffen augemustert werden, denn die in¬
telligenten, tüchtigen Steuerleute drängen sich alle auf die Dampfer. Die Ursache
liegt außer in dem Rückgange der Schiffszahl darin, daß Steuerleute ohne
beträchtliches Vermögen, mit dem sie in ein Segelschiff einspringen können,
nur geringe Aussicht haben, jemals Kapitän eines solchen zu werden. Steuer¬
leute mit dazu hinlangendem Vermögen giebt es heutzutage wohl noch kaum,
denn die Eltern oder die Vormünder halten die Söhne von der Seefahrt zurück.
Diese erstreben zunächst die Berechtigung zum Einjährig- Freiwilligendienst,
und wenn sie die haben, gehn sie nicht mehr zur See. Vor vierzig Jahren
bestand in den preußischen Navigationsschulen an der Ostsee mitunter die Hälfte
der Schüler aus Sekundanern mit dem Einjährigenzengnis und Primanern,
sogar solche mit dem Maturum fanden sich nicht selten, denn als Kapitän
verdienten alle damals schönes Geld und hatten eine geachtete Stellung. Jetzt
ist ihre Zahl verschwindend klein, und die Navigationslehrer klagen darüber
sehr. An der Nordseeküste gab es damals die Institution der Einjährigen noch
nicht, deshalb kann sie nicht zum Vergleich herangezogen werden.

Wenn ein Steuermann endlich nach langer Fahrzeit — einer wie langen


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[0358] Über die Bemannung der deutschen Kauffahrteischiffe wird kein Ersatz geschaffen, da Neubauten fast nicht mehr geschehen. Nach dem Handbuch für die deutsche Handelsmarine gab es am 1. Januar 1875 4426 Segelschiffe, davon waren 2244 unter 150 Registertons, d. h. Schisse für kleine Fahrt und für Küstenfahrt, und unter diesen so gut wie keine Schleppkühne, somit rund 2200 Segelschiffe über 150 Registertons, die zur großen Fahrt dienten und mit einem Schiffer für große Fahrt und einem oder zwei Steuerleuten fuhren. Am 1. Januar 1899 gab es nur noch 2489 Segel¬ schiffe, davon waren 1800 unter und nur 689 über 150 Negistertons. Unter den letzten ist indessen noch eine größere Zahl sogenannter Seeleichter oder Schleppkähne mitgezählt, Schisse ohne Masten und Maschine, die nur von Schleppern über See gebracht werden. Ihre Zahl dürfte 150 überschreiten, sodaß die Zahl der Segelschiffe in großer Fahrt nicht 539 betragen wird. Die Zahl dieser Segelschiffe ist in fünfundzwanzig Jahren demnach von 2200 auf 539, also um 1661 zurückgegangen. Für jedes nicht ersetzte Segelschiff sind ein Kapitän und ein oder zwei Steuerleute disponibel geworden, jedenfalls über viertausend. Diese und die in diesen fünfundzwanzig Jahren neugeprüften rund 8700 Steuerleute und 5200 Schiffer auf großer Fahrt konnten keine ange¬ messene Beschäftigung finden, die Reeber hatten für diese Stellungen mehr Menschen zur Verfügung, als sie gebrauchen konnten, und ein starker Nieder¬ gang der Heuern und der Anstellungsbedingungen war die manchesterliche Folge. Die weitere Folge war dann, daß ein allgemeiner, fluchtartiger Rück¬ zug der Offiziere von der Seefahrt zu Beschäftigungen am Lande eintrat und noch geschieht, und so stehn wir jetzt anscheinend vor einem Mangel an Offizieren für Segelschiffe. Junge Leute mit einem halben bis einem Jahr Fahrzeit als Steuermann oder gar solche ohne diese müssen schon als Ober¬ steuerleute auf großen eisernen Segelschiffen augemustert werden, denn die in¬ telligenten, tüchtigen Steuerleute drängen sich alle auf die Dampfer. Die Ursache liegt außer in dem Rückgange der Schiffszahl darin, daß Steuerleute ohne beträchtliches Vermögen, mit dem sie in ein Segelschiff einspringen können, nur geringe Aussicht haben, jemals Kapitän eines solchen zu werden. Steuer¬ leute mit dazu hinlangendem Vermögen giebt es heutzutage wohl noch kaum, denn die Eltern oder die Vormünder halten die Söhne von der Seefahrt zurück. Diese erstreben zunächst die Berechtigung zum Einjährig- Freiwilligendienst, und wenn sie die haben, gehn sie nicht mehr zur See. Vor vierzig Jahren bestand in den preußischen Navigationsschulen an der Ostsee mitunter die Hälfte der Schüler aus Sekundanern mit dem Einjährigenzengnis und Primanern, sogar solche mit dem Maturum fanden sich nicht selten, denn als Kapitän verdienten alle damals schönes Geld und hatten eine geachtete Stellung. Jetzt ist ihre Zahl verschwindend klein, und die Navigationslehrer klagen darüber sehr. An der Nordseeküste gab es damals die Institution der Einjährigen noch nicht, deshalb kann sie nicht zum Vergleich herangezogen werden. Wenn ein Steuermann endlich nach langer Fahrzeit — einer wie langen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/358>, abgerufen am 22.07.2024.