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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Lernjcchre eines Theologen

und als Zerstörer verrufen, weil er den Zwiespalt der mittelalterlichen Form
des Christentums mit dem modernen Denken besonders scharf gefühlt hatte
und von der beliebten unwahrhaftigen Art der Verheimlichung und Umdeutung
möglichst weit entfernt war. Seine Religionsphilosophie bot mir das, was
ich bei andern Dozenten vergeblich gesucht hatte, ein klares Eingehn auf die
Gedankenwelt des modernen Menschen, ein scharfes Herausstellen des christ¬
lichen Prinzips der Gotteskindschaft, ein ehrfürchtiges Durchwandern durch die
Religionsgeschichte in der Grundstimmung: Gott hat sich nicht bloß am Sinai
und in Galiläa offenbart, sondern überall, wo Menschen nach oben schauen und
von dorther Heil und Hilfe erwarten, schließt sich ihnen Gott auf, am voll¬
kommensten in Jesus von Nazareth, dessen Leben ganz göttlich und menschlich
zugleich war.

Freilich sich eine den Menschen befriedigende Weltanschauung aufbauen
heißt noch nicht in ihr leben. Die Welt richtig anfassen ist noch etwas
Höheres, als sie richtig auffassen. Das letzte lernt man doch schließlich nur
in einem praktischen, thätigen Lebensberuf. Während viele meiner Alters¬
genossen frühzeitig die Welt des Denkens, der Wissenschaft verzagend oder
resignierend verließen, beschritt ich zunächst den entgegengesetzten Weg. Ich
verachtete die Welt des praktischen Handelns, die thätige Einwirkung auf
Menschenseelen. Ich suchte ausschließlich und einseitig im Denken, im wissen¬
schaftlichen Forschen mein Lebenselement. Ich lernte die Freuden und Leiden
des wissenschaftlichen Arbeiters kennen; jede gefundne Wahrheit, jede neue
Erkenntnis gab mir ein unendliches Gefühl der Freude, einen Zuwachs an
innerer Kraft. Aber daneben fehlten auch nicht die Stunden des Ermattens,
des Verzagens, das Gefühl des Ausgedörrtseins an Leib und Seele. Ich lernte
nicht bloß die großen, die anregenden Gedanken der Denker kennen, sondern
anch ihre kleinen; ich lernte die Methode des Forschens, die minutiöse Klein¬
arbeit, die Maulwurfsarbeit des Gelehrten kennen. Bücher schienen mir eine
Zeit lang mehr Lebensweisheit zu geben als Menschen. Doch kamen anch
wieder Stunden, wo ich zu mir selber sagte, was Faust von Wagner sagt:

Ich lernte die Mängel des wissenschaftlichen Handwerks kennen, wie sie
Nietzsche") beschreibt: "Der wissenschaftliche Mensch ist nun nenerdings in
Deutschland in eine Hast geraten. . . . Jetzt arbeitet er so hart wie der vierte
Stand, der Sklavenstand, arbeitet, sein Studium ist nicht mehr eine Beschäf¬
tigung, sondern eine Not." "Was soll da aus einer Kultur werden, die ver¬
urteilt ist, gerade angesichts einer solchen aufgeregten, atemloser, hin- und
herreuuenden, ja zappelnden Wissenschaftlichkeit auf die Stunde ihrer Geburt



") Unzeitgemäße Betrachtungen I, 1873, S. 54 f.
Lernjcchre eines Theologen

und als Zerstörer verrufen, weil er den Zwiespalt der mittelalterlichen Form
des Christentums mit dem modernen Denken besonders scharf gefühlt hatte
und von der beliebten unwahrhaftigen Art der Verheimlichung und Umdeutung
möglichst weit entfernt war. Seine Religionsphilosophie bot mir das, was
ich bei andern Dozenten vergeblich gesucht hatte, ein klares Eingehn auf die
Gedankenwelt des modernen Menschen, ein scharfes Herausstellen des christ¬
lichen Prinzips der Gotteskindschaft, ein ehrfürchtiges Durchwandern durch die
Religionsgeschichte in der Grundstimmung: Gott hat sich nicht bloß am Sinai
und in Galiläa offenbart, sondern überall, wo Menschen nach oben schauen und
von dorther Heil und Hilfe erwarten, schließt sich ihnen Gott auf, am voll¬
kommensten in Jesus von Nazareth, dessen Leben ganz göttlich und menschlich
zugleich war.

Freilich sich eine den Menschen befriedigende Weltanschauung aufbauen
heißt noch nicht in ihr leben. Die Welt richtig anfassen ist noch etwas
Höheres, als sie richtig auffassen. Das letzte lernt man doch schließlich nur
in einem praktischen, thätigen Lebensberuf. Während viele meiner Alters¬
genossen frühzeitig die Welt des Denkens, der Wissenschaft verzagend oder
resignierend verließen, beschritt ich zunächst den entgegengesetzten Weg. Ich
verachtete die Welt des praktischen Handelns, die thätige Einwirkung auf
Menschenseelen. Ich suchte ausschließlich und einseitig im Denken, im wissen¬
schaftlichen Forschen mein Lebenselement. Ich lernte die Freuden und Leiden
des wissenschaftlichen Arbeiters kennen; jede gefundne Wahrheit, jede neue
Erkenntnis gab mir ein unendliches Gefühl der Freude, einen Zuwachs an
innerer Kraft. Aber daneben fehlten auch nicht die Stunden des Ermattens,
des Verzagens, das Gefühl des Ausgedörrtseins an Leib und Seele. Ich lernte
nicht bloß die großen, die anregenden Gedanken der Denker kennen, sondern
anch ihre kleinen; ich lernte die Methode des Forschens, die minutiöse Klein¬
arbeit, die Maulwurfsarbeit des Gelehrten kennen. Bücher schienen mir eine
Zeit lang mehr Lebensweisheit zu geben als Menschen. Doch kamen anch
wieder Stunden, wo ich zu mir selber sagte, was Faust von Wagner sagt:

Ich lernte die Mängel des wissenschaftlichen Handwerks kennen, wie sie
Nietzsche") beschreibt: „Der wissenschaftliche Mensch ist nun nenerdings in
Deutschland in eine Hast geraten. . . . Jetzt arbeitet er so hart wie der vierte
Stand, der Sklavenstand, arbeitet, sein Studium ist nicht mehr eine Beschäf¬
tigung, sondern eine Not." „Was soll da aus einer Kultur werden, die ver¬
urteilt ist, gerade angesichts einer solchen aufgeregten, atemloser, hin- und
herreuuenden, ja zappelnden Wissenschaftlichkeit auf die Stunde ihrer Geburt



") Unzeitgemäße Betrachtungen I, 1873, S. 54 f.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/300>, abgerufen am 28.09.2024.