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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Bessere Erzählungen

in Wien Dialekt und österreichischen Schliff lernen wollen, alles das und noch
viel mehr ist köstlich unterhaltend und ganz echt in der Farbe, Neben diesem
weltlichen finden wir noch ein geistliches Theater, auf dem der hohe Klerus
spielt mit den: Bischof, der in goldner Kutsche durch die dunkeln Quartiere
der Armut führt, während sein Vikar von Haus zu Haus geht und zu helfen
sucht, bis er in sein Heimathdorf geschickt wird, wo er zu Grunde geht,
Einst hatte ihn seine Mutter der Kirche gelobt, der Vater ist darüber mit ihn,
zerfallen, nun ist der selbständige Manu seinen Obern eine Gefahr geworden;
mag er fallen, sein "Golgatha" finden, das ihm hier nicht die Juden bereiten,
sondern die gegen ihn aufgesetzten Klerikale", So ist der Titel gemeint, der
also nur auf die eine Person paßt. Auch diese Szenen haben volle Wahrheit,
und die Verfasserin setzt darin ihre Kraft für etwas noch ernsteres ein als auf
der weltlichen Bühne, aber hier sind uus dennoch ihre Leistungen einstweilen
lieber. Wie sie das angefaulte, genießende, lustige Österreich schildert, das ist
einfach nicht nachzuahmen, und es ist doch von Wichtigkeit, daß wir es nach
seinein wahren Werte kennen lernen. Sie erfüllt eine Aufgabe, und wir
möchten ihr darin noch recht oft begegnen.

Etwas ganz modernes und ebenfalls weiblichen Ursprungs ist "Der
Meisterfahrer" von C. E. Nies (München, Beck). Die Geschichte trägt sich
in einer großen elsässischen Stadt, etwa Mülhausen, zu. Die Jndustrieschul-
lehrerin Hvrtensc van Merken aus Brüssel, die sich bei Frau Jungmanu in
Pension gegeben hat, liebt einen reichen jungen Mann aus einer einheimischen
Fabriknntenfamilie, den Meisterfahrcr Ernest Chuquet, einen anständigen biedern
Kerl, der sie auch heiraten will, nur nicht gleich, weil seine Familie es nicht
zugeben würde. Diese hat gegen ein "Verhältnis" nichts einzuwenden und
wird sich mit der Zeit auch in eine Mesalliance finden müssen, aber es kann
noch lange dauern, und der junge Elefant, der ganz in seiner Radelei nnfgeht,
fängt es möglichst ungeschickt an, seiner Geliebten das klar zu macheu. Nun
glaubt sie, er spiele mit ihr, und so erschießt sie ihn ans dein Rennplatze bei
einem Fest, was doch um solches Mißverständnisses willen ein wenig grausam
ist und mit einem Miniaturrevolver nebenbei auch recht gewagt, um nicht zu
sagen unmöglich sein dürfte. Sie Hütten sich, wenn die Verfasserin nur ein
wenig gewollt Hütte, ebensogut kriegen können. Zweierlei ist gut, das El-
süssische im Gegensatz zu dem Deutschtum der Eingewanderten in Anschauung,
ünßerer Sitte und Dialekt, sodann alles, was mit der Nadelei zusammenhangt,
auch die enorme Wichtigkeit, mit der diese Leute sich der Sache hingeben, sodaß
sogar ein ernsthafter praktischer Arzt großen norddeutschen Zeitungen, mit
denen er "in schriftstellerischen Beziehungen stand," einen Gefallen thun und
ihrem Leserkreis eine Abwechslung bieten zu können meint, wenn er über ein
Nennfest aus Mülhausen berichtet. Alles andre ist Nebensache, vor allein
Fran Jungmann und ihre Töchter, deren eine sich inzwischen verheiratet, die
andre sich verlobt, natürlich auch mit einem Radfahrer, Chuquets Freund
-- sie vertreten das deutsche Element --, nichts als Hintergrnndstaffage für


Bessere Erzählungen

in Wien Dialekt und österreichischen Schliff lernen wollen, alles das und noch
viel mehr ist köstlich unterhaltend und ganz echt in der Farbe, Neben diesem
weltlichen finden wir noch ein geistliches Theater, auf dem der hohe Klerus
spielt mit den: Bischof, der in goldner Kutsche durch die dunkeln Quartiere
der Armut führt, während sein Vikar von Haus zu Haus geht und zu helfen
sucht, bis er in sein Heimathdorf geschickt wird, wo er zu Grunde geht,
Einst hatte ihn seine Mutter der Kirche gelobt, der Vater ist darüber mit ihn,
zerfallen, nun ist der selbständige Manu seinen Obern eine Gefahr geworden;
mag er fallen, sein „Golgatha" finden, das ihm hier nicht die Juden bereiten,
sondern die gegen ihn aufgesetzten Klerikale», So ist der Titel gemeint, der
also nur auf die eine Person paßt. Auch diese Szenen haben volle Wahrheit,
und die Verfasserin setzt darin ihre Kraft für etwas noch ernsteres ein als auf
der weltlichen Bühne, aber hier sind uus dennoch ihre Leistungen einstweilen
lieber. Wie sie das angefaulte, genießende, lustige Österreich schildert, das ist
einfach nicht nachzuahmen, und es ist doch von Wichtigkeit, daß wir es nach
seinein wahren Werte kennen lernen. Sie erfüllt eine Aufgabe, und wir
möchten ihr darin noch recht oft begegnen.

Etwas ganz modernes und ebenfalls weiblichen Ursprungs ist „Der
Meisterfahrer" von C. E. Nies (München, Beck). Die Geschichte trägt sich
in einer großen elsässischen Stadt, etwa Mülhausen, zu. Die Jndustrieschul-
lehrerin Hvrtensc van Merken aus Brüssel, die sich bei Frau Jungmanu in
Pension gegeben hat, liebt einen reichen jungen Mann aus einer einheimischen
Fabriknntenfamilie, den Meisterfahrcr Ernest Chuquet, einen anständigen biedern
Kerl, der sie auch heiraten will, nur nicht gleich, weil seine Familie es nicht
zugeben würde. Diese hat gegen ein „Verhältnis" nichts einzuwenden und
wird sich mit der Zeit auch in eine Mesalliance finden müssen, aber es kann
noch lange dauern, und der junge Elefant, der ganz in seiner Radelei nnfgeht,
fängt es möglichst ungeschickt an, seiner Geliebten das klar zu macheu. Nun
glaubt sie, er spiele mit ihr, und so erschießt sie ihn ans dein Rennplatze bei
einem Fest, was doch um solches Mißverständnisses willen ein wenig grausam
ist und mit einem Miniaturrevolver nebenbei auch recht gewagt, um nicht zu
sagen unmöglich sein dürfte. Sie Hütten sich, wenn die Verfasserin nur ein
wenig gewollt Hütte, ebensogut kriegen können. Zweierlei ist gut, das El-
süssische im Gegensatz zu dem Deutschtum der Eingewanderten in Anschauung,
ünßerer Sitte und Dialekt, sodann alles, was mit der Nadelei zusammenhangt,
auch die enorme Wichtigkeit, mit der diese Leute sich der Sache hingeben, sodaß
sogar ein ernsthafter praktischer Arzt großen norddeutschen Zeitungen, mit
denen er „in schriftstellerischen Beziehungen stand," einen Gefallen thun und
ihrem Leserkreis eine Abwechslung bieten zu können meint, wenn er über ein
Nennfest aus Mülhausen berichtet. Alles andre ist Nebensache, vor allein
Fran Jungmann und ihre Töchter, deren eine sich inzwischen verheiratet, die
andre sich verlobt, natürlich auch mit einem Radfahrer, Chuquets Freund
— sie vertreten das deutsche Element —, nichts als Hintergrnndstaffage für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/202>, abgerufen am 23.06.2024.