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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Politik und Selbstverwaltung

städtische Selbstverwaltung zu besondrer Unabhängigkeit nach oben befähigt.
Je mehr aber diese nach unter unabhängige Aristokratie von der Stadtver¬
waltung abgedrängt ist, je mehr die "Väter der Stadt" nach unten, nach den
Partei- und Sonderinteresscu der Wählermassen zu schielen genötigt sind und
sich gewöhnt haben, um so schärfer muß uuter allen Umständen die Staats¬
aufsicht die Zügel anziehn. Und wenn die vorhandnen Zügel nicht ausreichen,
so muß das Gesetz eben für gehörige Ergänzung sorgen.

Diese Verhältnisse haben sich seit der Städteordnung von 1853 und anch
seit dem Zuständigkeitsgcsetz von 1883 verschoben. So sehr, daß es wahr¬
haftig nicht zu verwundern wäre, wenn sich die Gesetzgebung als dringend
revisionsbedürftig herausstellte. Schon das Anwachsen der großstädtischen Be¬
völkerung im Verhältnis zu der des platten Landes verleiht der Selbstver¬
waltung in ihnen jetzt eine viel höhere Bedeutung für das Staats- und Ge¬
meinwohl als früher. Und da dieses Anwachsen ganz vorwiegend durch das
Zuströmen ungebildeter Handarbeiter, und noch dazu aus dem Osten, verur¬
sacht wird, so wird Wohl auch die Aristokratie der Bildung jetzt in unsern
Großstädten sehr viel dünner gesät sein als vor zwanzig und fünfzig Jahre".
Gegen diese Zunahme der Unbildung -- man darf sich nicht scheuen, die Sache
beim rechten Namen zu nennen -- vermögen alle Vvlkshochschulkurse und
sonstigen Halbbilduugspftcgstätten, so verdienstlich sie sonst sein mögen, doch
herzlich wenig auszurichten. Aber diese Verschiebungen sind doch immer nnr
von sehr untergeordneter Bedeutung im Vergleich mit den Veränderungen in
den politischen Parteiverhültnissen und dem ganzen politischen Leben. Das
politische Leben ist nicht nur viel demokratischer, sondern vor allem viel dema¬
gogischer geworden. Das gilt für reaktionäre Parteien gerade so wie für fort¬
schrittliche, für die Agrarier, Ultramontanen, Mittelstandsleute, Antisemiten wie
für die "Freisinnigen" und die Sozialisten. Dadurch erst ist der Boden für
die Selbstverwaltung in den Großstädten so völlig verändert worden, daß sich
die Frage nach der Politik in der Selbstverwaltung zu einer brennenden hat
nuswachsen können.

Bei weitem am meisten fällt natürlich die svzialdemokrntische Bewegung
ins Gewicht. Vorläufig tritt dagegen in den preußischen Großstädten alles
andre weit in den Hintergrund. Die sozialen und wirtschaftlichen Utopien der
Sozialdemokratie kommen dabei nur soweit in Betracht, als sie das wirksamste
Agitationsmittel waren und, wenn es angebracht erscheint, immer wieder sind
und sein werden, die neu zuströmenden Arbeitermassen und die sich in den
Großstädten rapid vermehrenden proletarischen Unternehmerexistenzen an die
Partei zu fesseln. Hauptsächlich interessiert die Sozialdemokratie in den
Großstädten als politische Partei, als die rücksichtslose, leidenschaftliche, über¬
aus geschickt agitierende Vertreterin der extremsten Demokratie, die jede in
der heutigen Staatsordnung begründete Autorität unausgesetzt bekämpft und
mit ihren "oberflächlichen demokratischen Vorstellungen über Voltssouverünität
und ungeschichtlichen Monarchenhaß," wie Schmoller sich gelehrt ausdrückt,


Politik und Selbstverwaltung

städtische Selbstverwaltung zu besondrer Unabhängigkeit nach oben befähigt.
Je mehr aber diese nach unter unabhängige Aristokratie von der Stadtver¬
waltung abgedrängt ist, je mehr die „Väter der Stadt" nach unten, nach den
Partei- und Sonderinteresscu der Wählermassen zu schielen genötigt sind und
sich gewöhnt haben, um so schärfer muß uuter allen Umständen die Staats¬
aufsicht die Zügel anziehn. Und wenn die vorhandnen Zügel nicht ausreichen,
so muß das Gesetz eben für gehörige Ergänzung sorgen.

Diese Verhältnisse haben sich seit der Städteordnung von 1853 und anch
seit dem Zuständigkeitsgcsetz von 1883 verschoben. So sehr, daß es wahr¬
haftig nicht zu verwundern wäre, wenn sich die Gesetzgebung als dringend
revisionsbedürftig herausstellte. Schon das Anwachsen der großstädtischen Be¬
völkerung im Verhältnis zu der des platten Landes verleiht der Selbstver¬
waltung in ihnen jetzt eine viel höhere Bedeutung für das Staats- und Ge¬
meinwohl als früher. Und da dieses Anwachsen ganz vorwiegend durch das
Zuströmen ungebildeter Handarbeiter, und noch dazu aus dem Osten, verur¬
sacht wird, so wird Wohl auch die Aristokratie der Bildung jetzt in unsern
Großstädten sehr viel dünner gesät sein als vor zwanzig und fünfzig Jahre».
Gegen diese Zunahme der Unbildung — man darf sich nicht scheuen, die Sache
beim rechten Namen zu nennen — vermögen alle Vvlkshochschulkurse und
sonstigen Halbbilduugspftcgstätten, so verdienstlich sie sonst sein mögen, doch
herzlich wenig auszurichten. Aber diese Verschiebungen sind doch immer nnr
von sehr untergeordneter Bedeutung im Vergleich mit den Veränderungen in
den politischen Parteiverhültnissen und dem ganzen politischen Leben. Das
politische Leben ist nicht nur viel demokratischer, sondern vor allem viel dema¬
gogischer geworden. Das gilt für reaktionäre Parteien gerade so wie für fort¬
schrittliche, für die Agrarier, Ultramontanen, Mittelstandsleute, Antisemiten wie
für die „Freisinnigen" und die Sozialisten. Dadurch erst ist der Boden für
die Selbstverwaltung in den Großstädten so völlig verändert worden, daß sich
die Frage nach der Politik in der Selbstverwaltung zu einer brennenden hat
nuswachsen können.

Bei weitem am meisten fällt natürlich die svzialdemokrntische Bewegung
ins Gewicht. Vorläufig tritt dagegen in den preußischen Großstädten alles
andre weit in den Hintergrund. Die sozialen und wirtschaftlichen Utopien der
Sozialdemokratie kommen dabei nur soweit in Betracht, als sie das wirksamste
Agitationsmittel waren und, wenn es angebracht erscheint, immer wieder sind
und sein werden, die neu zuströmenden Arbeitermassen und die sich in den
Großstädten rapid vermehrenden proletarischen Unternehmerexistenzen an die
Partei zu fesseln. Hauptsächlich interessiert die Sozialdemokratie in den
Großstädten als politische Partei, als die rücksichtslose, leidenschaftliche, über¬
aus geschickt agitierende Vertreterin der extremsten Demokratie, die jede in
der heutigen Staatsordnung begründete Autorität unausgesetzt bekämpft und
mit ihren „oberflächlichen demokratischen Vorstellungen über Voltssouverünität
und ungeschichtlichen Monarchenhaß," wie Schmoller sich gelehrt ausdrückt,


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[0132] Politik und Selbstverwaltung städtische Selbstverwaltung zu besondrer Unabhängigkeit nach oben befähigt. Je mehr aber diese nach unter unabhängige Aristokratie von der Stadtver¬ waltung abgedrängt ist, je mehr die „Väter der Stadt" nach unten, nach den Partei- und Sonderinteresscu der Wählermassen zu schielen genötigt sind und sich gewöhnt haben, um so schärfer muß uuter allen Umständen die Staats¬ aufsicht die Zügel anziehn. Und wenn die vorhandnen Zügel nicht ausreichen, so muß das Gesetz eben für gehörige Ergänzung sorgen. Diese Verhältnisse haben sich seit der Städteordnung von 1853 und anch seit dem Zuständigkeitsgcsetz von 1883 verschoben. So sehr, daß es wahr¬ haftig nicht zu verwundern wäre, wenn sich die Gesetzgebung als dringend revisionsbedürftig herausstellte. Schon das Anwachsen der großstädtischen Be¬ völkerung im Verhältnis zu der des platten Landes verleiht der Selbstver¬ waltung in ihnen jetzt eine viel höhere Bedeutung für das Staats- und Ge¬ meinwohl als früher. Und da dieses Anwachsen ganz vorwiegend durch das Zuströmen ungebildeter Handarbeiter, und noch dazu aus dem Osten, verur¬ sacht wird, so wird Wohl auch die Aristokratie der Bildung jetzt in unsern Großstädten sehr viel dünner gesät sein als vor zwanzig und fünfzig Jahre». Gegen diese Zunahme der Unbildung — man darf sich nicht scheuen, die Sache beim rechten Namen zu nennen — vermögen alle Vvlkshochschulkurse und sonstigen Halbbilduugspftcgstätten, so verdienstlich sie sonst sein mögen, doch herzlich wenig auszurichten. Aber diese Verschiebungen sind doch immer nnr von sehr untergeordneter Bedeutung im Vergleich mit den Veränderungen in den politischen Parteiverhültnissen und dem ganzen politischen Leben. Das politische Leben ist nicht nur viel demokratischer, sondern vor allem viel dema¬ gogischer geworden. Das gilt für reaktionäre Parteien gerade so wie für fort¬ schrittliche, für die Agrarier, Ultramontanen, Mittelstandsleute, Antisemiten wie für die „Freisinnigen" und die Sozialisten. Dadurch erst ist der Boden für die Selbstverwaltung in den Großstädten so völlig verändert worden, daß sich die Frage nach der Politik in der Selbstverwaltung zu einer brennenden hat nuswachsen können. Bei weitem am meisten fällt natürlich die svzialdemokrntische Bewegung ins Gewicht. Vorläufig tritt dagegen in den preußischen Großstädten alles andre weit in den Hintergrund. Die sozialen und wirtschaftlichen Utopien der Sozialdemokratie kommen dabei nur soweit in Betracht, als sie das wirksamste Agitationsmittel waren und, wenn es angebracht erscheint, immer wieder sind und sein werden, die neu zuströmenden Arbeitermassen und die sich in den Großstädten rapid vermehrenden proletarischen Unternehmerexistenzen an die Partei zu fesseln. Hauptsächlich interessiert die Sozialdemokratie in den Großstädten als politische Partei, als die rücksichtslose, leidenschaftliche, über¬ aus geschickt agitierende Vertreterin der extremsten Demokratie, die jede in der heutigen Staatsordnung begründete Autorität unausgesetzt bekämpft und mit ihren „oberflächlichen demokratischen Vorstellungen über Voltssouverünität und ungeschichtlichen Monarchenhaß," wie Schmoller sich gelehrt ausdrückt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/132>, abgerufen am 26.06.2024.