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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Erinnerungen an den ungarischen Feldzug im Jahre

Oberflächliche, leichtsinnige Leute, die den Ereignissen, über die sie
urteilen, gänzlich fernstehn, haben behauptet und behaupten vielleicht noch,
Görgei hätte bis zum äußersten kämpfen müssen; aber wenn auch jeder auf
den Tod gefaßt sein mußte, durste doch der Befehlshaber nicht leichtsinnig
mit dem Leben seiner Untergebnen spielen. Mögen doch diese strengen Richter
bedenken, daß nicht ein Mann vom Heere Görgeis in eine solche Fort¬
setzung des Kriegs eingewilligt hätte, und daß die Überbleibsel seiner Armee
noch schneller als sonst auseinandergelaufen wären, dn allgemeine Nieder¬
geschlagenheit und Verzweiflung herrschten. Mit der Armee in die Türkei zu
flüchten, wäre eine Thorheit gewesen, an deren Folgen man gar nicht denken
mag! Bem, der nur an seine Rettung dachte und sich um die andern gar
nicht kümmerte, that diesen Schritt. Und was waren die Folgen? Görgei
hatte Befehl erhalten, sich mit der Südarmee zu vereinigen; wir haben gesehen,
wie umsichtig und überlegen er diesen Befehl auszuführen sich bemühte; bei
Waitzen verlegte man ihm den Weg, aber er verzweifelte nicht und unternahm
seinen wunderbaren Seitenmarsch über Lossoncz und Miskolcz nach Tokaj vor
den Augen unsrer ganzen Armee. Ihm wurde gesagt, daß in Großwardein
Kossuth, das Ministerium, Geld und Munition auf ihn warteten. Ungeachtet
aller Schwierigkeiten und Hindernisse erreichte er diesen Punkt. Da war aber
nichts von alledem zu finden! Nur Graf Batthyany und Szemere, beide in
Unruhe und Verzweiflung, riefen ihn im Namen Kossuths zum Höchstkomman¬
dierenden aus. Doch Görgei wußte, daß Kossuth insgeheim Bein für diesen
Posten bestimmt hatte; er lehnte die Ernennung durch Batthyany und Szemere
ab, forderte, daß Kossuth und das Ministerium ihre Macht als Feinde des
Vaterlands sofort niederlegen sollten, und ernannte sich selbst zum Diktator mit
unbeschränkter Macht, die er nicht als Verräter, sondern als Werkzeug der
Vorsehung und kraft der äußern Umstände wunderbar benutzte. Als Kossuth
von der Diktatur Görgeis erfuhr, begriff er sofort alles; Vorwürfe und Neid
zernagten sein Inneres; er erließ ein Manifest über seine Abdankung, worin
es hieß, daß er trotz der Einsetzung all seines Patriotismus das Vaterland
nicht habe retten können und deshalb alle Macht Görgei überließe, den er vor
Gott und seinem Gewissen für die Zukunft Ungarns verantwortlich mache.
Allein diese tönenden Worte verwandelten sich in Kossnths Munde in Phari¬
säerreden und in einen Fluch. Mit dem Gelde des Volks -- wie es hieß, auch
mit der Krone Ungarns -- eilte er in die Türkei, insgeheim ganz Europa Rache
schwörend und den haltlosen, wenn auch für ihn vielleicht tröstenden Gedanken
an eine Revolution aller gegen alle monarchischen Staaten, besonders gegen
Nußland nährend -- ein Gedanke, den er später auch in Amerika verkündete,
wo man ihn inmitten lauter Demokraten einfach als Hanswurst ansah.

Görgei schrieb aus diesem Anlaß an den General Klapkcu


Lieber Freund!

Seit wir uns nicht gesehen haben, sind, wenn auch nicht unerwartete, aber
doch entscheidende Dinge geschehn.


Erinnerungen an den ungarischen Feldzug im Jahre

Oberflächliche, leichtsinnige Leute, die den Ereignissen, über die sie
urteilen, gänzlich fernstehn, haben behauptet und behaupten vielleicht noch,
Görgei hätte bis zum äußersten kämpfen müssen; aber wenn auch jeder auf
den Tod gefaßt sein mußte, durste doch der Befehlshaber nicht leichtsinnig
mit dem Leben seiner Untergebnen spielen. Mögen doch diese strengen Richter
bedenken, daß nicht ein Mann vom Heere Görgeis in eine solche Fort¬
setzung des Kriegs eingewilligt hätte, und daß die Überbleibsel seiner Armee
noch schneller als sonst auseinandergelaufen wären, dn allgemeine Nieder¬
geschlagenheit und Verzweiflung herrschten. Mit der Armee in die Türkei zu
flüchten, wäre eine Thorheit gewesen, an deren Folgen man gar nicht denken
mag! Bem, der nur an seine Rettung dachte und sich um die andern gar
nicht kümmerte, that diesen Schritt. Und was waren die Folgen? Görgei
hatte Befehl erhalten, sich mit der Südarmee zu vereinigen; wir haben gesehen,
wie umsichtig und überlegen er diesen Befehl auszuführen sich bemühte; bei
Waitzen verlegte man ihm den Weg, aber er verzweifelte nicht und unternahm
seinen wunderbaren Seitenmarsch über Lossoncz und Miskolcz nach Tokaj vor
den Augen unsrer ganzen Armee. Ihm wurde gesagt, daß in Großwardein
Kossuth, das Ministerium, Geld und Munition auf ihn warteten. Ungeachtet
aller Schwierigkeiten und Hindernisse erreichte er diesen Punkt. Da war aber
nichts von alledem zu finden! Nur Graf Batthyany und Szemere, beide in
Unruhe und Verzweiflung, riefen ihn im Namen Kossuths zum Höchstkomman¬
dierenden aus. Doch Görgei wußte, daß Kossuth insgeheim Bein für diesen
Posten bestimmt hatte; er lehnte die Ernennung durch Batthyany und Szemere
ab, forderte, daß Kossuth und das Ministerium ihre Macht als Feinde des
Vaterlands sofort niederlegen sollten, und ernannte sich selbst zum Diktator mit
unbeschränkter Macht, die er nicht als Verräter, sondern als Werkzeug der
Vorsehung und kraft der äußern Umstände wunderbar benutzte. Als Kossuth
von der Diktatur Görgeis erfuhr, begriff er sofort alles; Vorwürfe und Neid
zernagten sein Inneres; er erließ ein Manifest über seine Abdankung, worin
es hieß, daß er trotz der Einsetzung all seines Patriotismus das Vaterland
nicht habe retten können und deshalb alle Macht Görgei überließe, den er vor
Gott und seinem Gewissen für die Zukunft Ungarns verantwortlich mache.
Allein diese tönenden Worte verwandelten sich in Kossnths Munde in Phari¬
säerreden und in einen Fluch. Mit dem Gelde des Volks — wie es hieß, auch
mit der Krone Ungarns — eilte er in die Türkei, insgeheim ganz Europa Rache
schwörend und den haltlosen, wenn auch für ihn vielleicht tröstenden Gedanken
an eine Revolution aller gegen alle monarchischen Staaten, besonders gegen
Nußland nährend — ein Gedanke, den er später auch in Amerika verkündete,
wo man ihn inmitten lauter Demokraten einfach als Hanswurst ansah.

Görgei schrieb aus diesem Anlaß an den General Klapkcu


Lieber Freund!

Seit wir uns nicht gesehen haben, sind, wenn auch nicht unerwartete, aber
doch entscheidende Dinge geschehn.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/91>, abgerufen am 03.07.2024.