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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Die deutsche Weltpolitik

radezu zu einer Politik der Mäßigung und Zurückhaltung unter Verzicht auf
den Flitter der Prestigesucht, umso mehr, als zu den Mächten, mit denen der
erste Staatsmann des Reichs zu rechnen hatte, noch neue hinzugekommen sind,
die die einstige politische Konstellation gewaltig verschoben haben und auch das
deutsche Volk vor die Notwendigkeit gestellt haben, der kontinentalen Politik
die überseeische zuzugefellen und nun mit zwei verschiednen Gewichten zu han¬
tieren. Es bleibt für den deutschen Diplomaten, dessen Sorgen immer ernster
werden, nichts weiter übrig, als eine sorgfältige Abwägung des av ut ctss.
Die ruhige und unbefangne Lebensklugheit, die in diesem Grundsatz liegt, ist
das ganze Geheimnis eines zufriedner Zusammenlebens auch der Völker. Aber
wir sehen, daß auch im privaten Leben dieser Grundsatz von vielen zu ihrem
eignen Schaden nicht befolgt wird: immer noch glauben viele einzelne, wie
ganze soziale Klassen, daß sie am besten fahren, wenn sie ihr eignes Interesse
ohne Beachtung andrer rücksichtslos betreiben, während sie doch wissen sollten,
daß der Stoß Gegenstoß erzeugt und schließlich der Satz Recht behält: "Der
Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht." Auch im politischen Leben und
im internationalen Verkehr bekennen sich manche noch zu dem Grundsatz
schrankenloser Rücksichtslosigkeit und des brutalen Egoismus. Im allgemeinen
aber, das ist unverkennbar, geht die Tendenz der Zeit dahin, aus dein Kampf
der Interessen, der privaten wie der internationalen, einen Weg des Ausgleichs
zu finden, auf dem alle vorwärts können. Die noch auf der alten holprigen
Straße der politischen und wirtschaftlichen Brutalität wandeln, mögen wohl
zuweilen Glück haben, aber niemals einen dauernden Erfolg.

Wenn nun einige Kreise bei uns versuchen, die jetzige Leitung unsrer
auswärtigen Politik, die die Bismarckischen Grundsätze mit der durch die Zeit-
verhältnisse gebotnen Erweiterung fortführt, in die Bahnen der Prestige- und
Gefühlspolitik zu drängen, so handeln sie weder im Bismarckischen noch im
deutschen Sinne. Es möge hier für die, die ihrem Verstände nur trauen,
wenn er von einer Autorität ermutigt wird, eine Mitteilung Platz finden, die
Fürst Bismarck einem Vertreter der "Hamburger Nachrichten" zu Anfang des
Jahres 1896 über seine Anschauungen von den Aufgaben der deutschen Politik
gemacht hat. Er hat dem genannten Blatte zufolge wörtlich gesagt: "Die
Thätigkeit einer französischen Regierung, auch mancher andern, setzt sich aus
einer Reihe von Unternehmungen zusammen, die geeignet sind, entweder das
Selbstgefühl der Nation oder die Herrschsucht der Regierung zu befriedigen.
Frankreich ist aus solchen Gründen nach Algier und Tunis, nach Mexiko und
Madagaskar gegangen, und andre Staaten haben andre Unternehmungen ge¬
macht, von deren Gelingen sie irgend etwas für ihre eigne Sicherheit erwarteten.
In germanischen Staaten und namentlich im Deutschen Reiche wird die Re¬
gierung, wenn richtig, in einem andern Sinne aufgefaßt. Sie kann unter
Umständen eine zu positiven Thaten zwingende sein, wie die Herstellung der
deutschen Nationalität es war, wo die preußische Negierung aus eigner Ini¬
tiative die Führung der Nation übernehmen mußte. Nachdem die Lösung dieser


Grenzboten II Is00 9
Die deutsche Weltpolitik

radezu zu einer Politik der Mäßigung und Zurückhaltung unter Verzicht auf
den Flitter der Prestigesucht, umso mehr, als zu den Mächten, mit denen der
erste Staatsmann des Reichs zu rechnen hatte, noch neue hinzugekommen sind,
die die einstige politische Konstellation gewaltig verschoben haben und auch das
deutsche Volk vor die Notwendigkeit gestellt haben, der kontinentalen Politik
die überseeische zuzugefellen und nun mit zwei verschiednen Gewichten zu han¬
tieren. Es bleibt für den deutschen Diplomaten, dessen Sorgen immer ernster
werden, nichts weiter übrig, als eine sorgfältige Abwägung des av ut ctss.
Die ruhige und unbefangne Lebensklugheit, die in diesem Grundsatz liegt, ist
das ganze Geheimnis eines zufriedner Zusammenlebens auch der Völker. Aber
wir sehen, daß auch im privaten Leben dieser Grundsatz von vielen zu ihrem
eignen Schaden nicht befolgt wird: immer noch glauben viele einzelne, wie
ganze soziale Klassen, daß sie am besten fahren, wenn sie ihr eignes Interesse
ohne Beachtung andrer rücksichtslos betreiben, während sie doch wissen sollten,
daß der Stoß Gegenstoß erzeugt und schließlich der Satz Recht behält: „Der
Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht." Auch im politischen Leben und
im internationalen Verkehr bekennen sich manche noch zu dem Grundsatz
schrankenloser Rücksichtslosigkeit und des brutalen Egoismus. Im allgemeinen
aber, das ist unverkennbar, geht die Tendenz der Zeit dahin, aus dein Kampf
der Interessen, der privaten wie der internationalen, einen Weg des Ausgleichs
zu finden, auf dem alle vorwärts können. Die noch auf der alten holprigen
Straße der politischen und wirtschaftlichen Brutalität wandeln, mögen wohl
zuweilen Glück haben, aber niemals einen dauernden Erfolg.

Wenn nun einige Kreise bei uns versuchen, die jetzige Leitung unsrer
auswärtigen Politik, die die Bismarckischen Grundsätze mit der durch die Zeit-
verhältnisse gebotnen Erweiterung fortführt, in die Bahnen der Prestige- und
Gefühlspolitik zu drängen, so handeln sie weder im Bismarckischen noch im
deutschen Sinne. Es möge hier für die, die ihrem Verstände nur trauen,
wenn er von einer Autorität ermutigt wird, eine Mitteilung Platz finden, die
Fürst Bismarck einem Vertreter der „Hamburger Nachrichten" zu Anfang des
Jahres 1896 über seine Anschauungen von den Aufgaben der deutschen Politik
gemacht hat. Er hat dem genannten Blatte zufolge wörtlich gesagt: „Die
Thätigkeit einer französischen Regierung, auch mancher andern, setzt sich aus
einer Reihe von Unternehmungen zusammen, die geeignet sind, entweder das
Selbstgefühl der Nation oder die Herrschsucht der Regierung zu befriedigen.
Frankreich ist aus solchen Gründen nach Algier und Tunis, nach Mexiko und
Madagaskar gegangen, und andre Staaten haben andre Unternehmungen ge¬
macht, von deren Gelingen sie irgend etwas für ihre eigne Sicherheit erwarteten.
In germanischen Staaten und namentlich im Deutschen Reiche wird die Re¬
gierung, wenn richtig, in einem andern Sinne aufgefaßt. Sie kann unter
Umständen eine zu positiven Thaten zwingende sein, wie die Herstellung der
deutschen Nationalität es war, wo die preußische Negierung aus eigner Ini¬
tiative die Führung der Nation übernehmen mußte. Nachdem die Lösung dieser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/73>, abgerufen am 01.07.2024.