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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Kontinentales und maritimes Gleichgewicht

Umschwung in der englischen Politik und für einen Wiederanschlnß an Europa
wirksam werden. Die Ansprüche des Onkel Sam wachsen ebenso ins Riesen¬
hafte wie die von John Bull, Das Selbstvertrauen des Amerikaners ist un¬
begrenzt, die Mittel zu gewaltsamen Unternehmungen sind vorhanden, der
kviumerziell-rücksichtslose Sinn ist stark entwickelt. Die Behandlung Spaniens
und seiner Kolonien hat schon in Mittel- und Südamerika die Sorge wieder
vermehrt, daß die Union eines Tngs den ganzen Kontinent von Amerika für
ihre wirtschaftliche Einflußsphäre, wie der heutige zarte Ausdruck lautet, halten
könnte, auf deren Benutzung sie ein Vorrecht vor allen nicht amerikanischen
Mächten habe, Wenn die Gefahr solcher Ansprüche festere Formen annähme,
so wäre England vielleicht geneigt, das Gleichgewicht unter den Weltmächten
für bedroht zu halten und sich zu erinnern, daß das alte Europa bisher die
amerikanische Monroedoktrin nicht anerkannt hat, England, und nicht bloß
England, sondern andre wirtschaftlich expansive Staaten auch, werden in neuer
Zeit von der dritten Weltmacht Rußland immer wieder daran erinnert, daß
dieses Reich begonnen hat, für Asien eine russische Übersetzung der Monroe¬
doktrin zu verbreiten. Im Osten Korea und die Mandschurei, in Mittelasien
Afghanistan und Persien, im Westen Anatolien bis an die Dardanellen her --
das ist das heute schon von Nußland für sich als Einflußsphäre beanspruchte
Gebiet, Wie England in Südafrika, so geht Rußland in Mittelasien vor.
Immer hört man von den "alten und berechtigten Interessen," die Nußland
in Persien, in Kleinasien, bis nach Bagdad und Smhrna und an den persischen
Golf hin zu verteidigen habe. Freilich hat uns noch niemand den historischen
Nachweis dafür liefern können, daß Nußland auf diese Gebiete irgend ein
besseres Recht als ein andrer Staat habe. In Kleinasien z. B., um Euphrat,
am persischen Meerbusen hat es bisher weder Russen noch russische Waren
gegeben. Die Ansprüche auf eine Suprematie in diesen Ländern sind völlig
aus der Luft gegriffen. Aber indem man sie immer wiederholt, wird daraus
eine Doktrin wie die des Präsidenten Monrve, und die Doktrin gebiert das
Recht in dem Bewußtsein des fordernden Volkes. So tritt der englischen
Weltmacht hier eine russische Weltmacht mit einer Doktrin entgegen, die durch¬
aus aggressiv gegen die englischen Interessen in Asien vorgeht. Nußland thut
in Asien, was England in Afrika, was in engern Grenzen die Union in
Amerika thut. Was sollte Rußland hindern, unter bessern Vorwänden, als
sich England in Transvaal verschaffen konnte, seine Suprematie bis an den
persischen Golf und bis in die Nähe von Peschawer ebenso nachdrücklich aus¬
zudehnen, wie es England in Südafrika thut? Wenn das geschieht, dann
könnte der Traum des Herrn Stead von einer Union europäischer Staaten
mit Einschluß des britischen Weltreiches vielleicht Aussicht auf Verwirklichung
finden.




Kontinentales und maritimes Gleichgewicht

Umschwung in der englischen Politik und für einen Wiederanschlnß an Europa
wirksam werden. Die Ansprüche des Onkel Sam wachsen ebenso ins Riesen¬
hafte wie die von John Bull, Das Selbstvertrauen des Amerikaners ist un¬
begrenzt, die Mittel zu gewaltsamen Unternehmungen sind vorhanden, der
kviumerziell-rücksichtslose Sinn ist stark entwickelt. Die Behandlung Spaniens
und seiner Kolonien hat schon in Mittel- und Südamerika die Sorge wieder
vermehrt, daß die Union eines Tngs den ganzen Kontinent von Amerika für
ihre wirtschaftliche Einflußsphäre, wie der heutige zarte Ausdruck lautet, halten
könnte, auf deren Benutzung sie ein Vorrecht vor allen nicht amerikanischen
Mächten habe, Wenn die Gefahr solcher Ansprüche festere Formen annähme,
so wäre England vielleicht geneigt, das Gleichgewicht unter den Weltmächten
für bedroht zu halten und sich zu erinnern, daß das alte Europa bisher die
amerikanische Monroedoktrin nicht anerkannt hat, England, und nicht bloß
England, sondern andre wirtschaftlich expansive Staaten auch, werden in neuer
Zeit von der dritten Weltmacht Rußland immer wieder daran erinnert, daß
dieses Reich begonnen hat, für Asien eine russische Übersetzung der Monroe¬
doktrin zu verbreiten. Im Osten Korea und die Mandschurei, in Mittelasien
Afghanistan und Persien, im Westen Anatolien bis an die Dardanellen her —
das ist das heute schon von Nußland für sich als Einflußsphäre beanspruchte
Gebiet, Wie England in Südafrika, so geht Rußland in Mittelasien vor.
Immer hört man von den „alten und berechtigten Interessen," die Nußland
in Persien, in Kleinasien, bis nach Bagdad und Smhrna und an den persischen
Golf hin zu verteidigen habe. Freilich hat uns noch niemand den historischen
Nachweis dafür liefern können, daß Nußland auf diese Gebiete irgend ein
besseres Recht als ein andrer Staat habe. In Kleinasien z. B., um Euphrat,
am persischen Meerbusen hat es bisher weder Russen noch russische Waren
gegeben. Die Ansprüche auf eine Suprematie in diesen Ländern sind völlig
aus der Luft gegriffen. Aber indem man sie immer wiederholt, wird daraus
eine Doktrin wie die des Präsidenten Monrve, und die Doktrin gebiert das
Recht in dem Bewußtsein des fordernden Volkes. So tritt der englischen
Weltmacht hier eine russische Weltmacht mit einer Doktrin entgegen, die durch¬
aus aggressiv gegen die englischen Interessen in Asien vorgeht. Nußland thut
in Asien, was England in Afrika, was in engern Grenzen die Union in
Amerika thut. Was sollte Rußland hindern, unter bessern Vorwänden, als
sich England in Transvaal verschaffen konnte, seine Suprematie bis an den
persischen Golf und bis in die Nähe von Peschawer ebenso nachdrücklich aus¬
zudehnen, wie es England in Südafrika thut? Wenn das geschieht, dann
könnte der Traum des Herrn Stead von einer Union europäischer Staaten
mit Einschluß des britischen Weltreiches vielleicht Aussicht auf Verwirklichung
finden.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/616>, abgerufen am 01.07.2024.