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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Kontinentales und maritimes Gleichgewicht

fähig, uns der 2^ Millionen Polen oder der Franzosen oder der Dänen zu
erwehren, dann sind wir sicherlich auch nicht reif für eine Wcltpolitik; glauben
wir aber diese Reife zu haben, dann sollten wir nicht danach streben, einige
Zwangsgermanen mehr zu schaffen, sondern uns damit begnüge", Ordnung
und Frieden zwischen Deutsche!, und nichtdeutschen zu erhalten.

Ob wir nun Weltmacht werden oder nicht, wir werden doch über kurz
oder laug unsern territorialen Besitz erweitern, und zwar erweitern müssen
aus mancherlei Gründen. Denn staatlich werden wir einmal mit dem Slawen¬
tum den Kampf aufnehmen müssen, der national heute schon von dem Adria-
tischen Meer bis zur Ostsee tobt, und dem wir nicht mehr lange als bloße
Zuschauer werden gegenüber stehn können. Kommt für uns der Kampf, dann
werden wir ihn auf keinem andern Prinzip zu gutem Ende führen können als
auf dem der nationalen Föderation. Wie das Deutsche Reich auf der Föde¬
ration der Staaten erbaut ist, so werden wir auf die Föderation unser Ver¬
hältnis zu den mehr oder minder slawischen Gebieten gründen müssen, die sich
uus vielleicht angliedern werden. Die Kulturkraft des deutschen Volks soll
Ausdruck und Organisation im Deutschen Reiche finden; aber das nationale
Ringen soll nicht vergiftet werden durch staatliche Gewaltmittel. Der Staat
soll das Deutschtum als Träger der Kultur gegen Angriffe schützen und für
den Kampf stärken, aber er soll sich aller direkten Zwangsmittel gegen andre
Nationalitüten enthalten, die den Anspruch machen können, als Träger eigner,
mit der der großen Nationen Europas gleichartiger Kultur zu gelten. Mit
diesem Prinzip staatlicher und nationaler Föderation können und müssen wir
die Erweiterung unsrer territorialen Basis erreichen, die uns auf der einen
Seite davor sichert, wie England von fremder Kornzufuhr abhängig zu sein,
auf der andern davor, daß unsre Ausfuhr von englischem Wohlgefallen abhängt.

Wie steht es nun mit der dritten Forderung Frantzens, dem "eigentüm¬
lichen politischen oder kirchlichen Prinzip," das zu einer Weltmacht gehören
soll? Seit Frantz dieses schrieb, hat sich vieles, auch der Wert der politischen
und kirchlichen Prinzipien in der Welt geändert. Wir glauben nicht mehr an
den "allein selig machenden" Charakter dieser oder jener Fraktion innerhalb des
Christentums; wir glauben nicht mehr an den. allein zufrieden machenden Cha¬
rakter dieser oder jener Staatsform. Wir neigen zu der Meinung, daß man
in jeder Kirche des himmlischen und in jeder Staatsform des irdischen Glücks
teilhaftig werden kann, und daß es weniger auf kirchliches oder politisches Dogma,
als auf das wirkliche, das konkrete religiöse oder staatliche Leben des Einzelnen
und der Gesellschaft ankommt. Und dieses wirkliche Leben hat sich seine Be¬
dürfnisse geschaffen und Formen für ihre Befriedigung gefunden, die sich dreist
den alten politischen Prinzipien, die um 1848 verehrt oder verdammt wurden,
zur Seite stellen lassen. Ein solches Bedürfnis ist für Deutschland wie für
die meisten andern Staaten Europas die ungehinderte Teilnahme um Welt¬
handel, der Zugang zu überseeischen Märkten für die heimische Produktion.
Und wem daran gelegen ist, mit Prinzipien zu operieren, der mag diese offne


Kontinentales und maritimes Gleichgewicht

fähig, uns der 2^ Millionen Polen oder der Franzosen oder der Dänen zu
erwehren, dann sind wir sicherlich auch nicht reif für eine Wcltpolitik; glauben
wir aber diese Reife zu haben, dann sollten wir nicht danach streben, einige
Zwangsgermanen mehr zu schaffen, sondern uns damit begnüge», Ordnung
und Frieden zwischen Deutsche!, und nichtdeutschen zu erhalten.

Ob wir nun Weltmacht werden oder nicht, wir werden doch über kurz
oder laug unsern territorialen Besitz erweitern, und zwar erweitern müssen
aus mancherlei Gründen. Denn staatlich werden wir einmal mit dem Slawen¬
tum den Kampf aufnehmen müssen, der national heute schon von dem Adria-
tischen Meer bis zur Ostsee tobt, und dem wir nicht mehr lange als bloße
Zuschauer werden gegenüber stehn können. Kommt für uns der Kampf, dann
werden wir ihn auf keinem andern Prinzip zu gutem Ende führen können als
auf dem der nationalen Föderation. Wie das Deutsche Reich auf der Föde¬
ration der Staaten erbaut ist, so werden wir auf die Föderation unser Ver¬
hältnis zu den mehr oder minder slawischen Gebieten gründen müssen, die sich
uus vielleicht angliedern werden. Die Kulturkraft des deutschen Volks soll
Ausdruck und Organisation im Deutschen Reiche finden; aber das nationale
Ringen soll nicht vergiftet werden durch staatliche Gewaltmittel. Der Staat
soll das Deutschtum als Träger der Kultur gegen Angriffe schützen und für
den Kampf stärken, aber er soll sich aller direkten Zwangsmittel gegen andre
Nationalitüten enthalten, die den Anspruch machen können, als Träger eigner,
mit der der großen Nationen Europas gleichartiger Kultur zu gelten. Mit
diesem Prinzip staatlicher und nationaler Föderation können und müssen wir
die Erweiterung unsrer territorialen Basis erreichen, die uns auf der einen
Seite davor sichert, wie England von fremder Kornzufuhr abhängig zu sein,
auf der andern davor, daß unsre Ausfuhr von englischem Wohlgefallen abhängt.

Wie steht es nun mit der dritten Forderung Frantzens, dem „eigentüm¬
lichen politischen oder kirchlichen Prinzip," das zu einer Weltmacht gehören
soll? Seit Frantz dieses schrieb, hat sich vieles, auch der Wert der politischen
und kirchlichen Prinzipien in der Welt geändert. Wir glauben nicht mehr an
den „allein selig machenden" Charakter dieser oder jener Fraktion innerhalb des
Christentums; wir glauben nicht mehr an den. allein zufrieden machenden Cha¬
rakter dieser oder jener Staatsform. Wir neigen zu der Meinung, daß man
in jeder Kirche des himmlischen und in jeder Staatsform des irdischen Glücks
teilhaftig werden kann, und daß es weniger auf kirchliches oder politisches Dogma,
als auf das wirkliche, das konkrete religiöse oder staatliche Leben des Einzelnen
und der Gesellschaft ankommt. Und dieses wirkliche Leben hat sich seine Be¬
dürfnisse geschaffen und Formen für ihre Befriedigung gefunden, die sich dreist
den alten politischen Prinzipien, die um 1848 verehrt oder verdammt wurden,
zur Seite stellen lassen. Ein solches Bedürfnis ist für Deutschland wie für
die meisten andern Staaten Europas die ungehinderte Teilnahme um Welt¬
handel, der Zugang zu überseeischen Märkten für die heimische Produktion.
Und wem daran gelegen ist, mit Prinzipien zu operieren, der mag diese offne


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/613>, abgerufen am 22.07.2024.