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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Line neue Theorie des Kölnischen

in eine Tragödie ausläuft. Beide Ansichten betreffen aber nur die Welt im
großen und ganzen und aus einer gewissen Entfernung gesehen. Sieht man
genauer hin aufs einzelne -- und das ist die gewöhnliche Art des Sehens
beim gewöhnlichen Manne, der weder philosophische noch ästhetische Augen
hat --, so sieht man viele und vieles, was weder tragisch noch komisch, mich
weder schön noch häßlich ist und überhaupt in keine ästhetische Kategorie fällt.
Der beschränkte Kopf in mittlerer Lebenslage hegt keine andre als leicht er¬
füllbare Wünsche, setzt sich nnr leicht erreichbare Ziele, die er mich wirklich
meist erreicht, und stirbt nach einem befriedigenden Leben einen ganz gewöhn¬
lichen Tod in seinem Bette. In frühern Zeiten fand auch der gemeine Manu
in je einem von zwei oder drei Fällen einen gewaltsamen Tod, und wirkte ein
solches Schicksal des Einzelnen nicht tragisch, so that es die Masse. Es gab
Zeiten und Gegenden, wo Krieg, Hunger und Pest in wenig Monaten: die
halbe Bevölkerung hinwegrafften, und wo sich jeder Überlebende bald von
Nünbern bald von einer barbarischen sogenannten Justiz bedroht sah. Das
ist seit hundert Jahren anders geworden; die heutige Beherrschung der Natur
und die heutige bürgerliche Ordnung sichern der überwiegenden Mehrzahl einen
ruhigen und natürlichen Ablauf des Lebens, und von einer Tragik, die er¬
schütternd wirkt, ist nnr noch in den selten gewordnen und in ihren Wirkungen
beschränkten Kriegen und bei Unglücksfüllen die Rede, von denen immer nnr
einzelne oder eine verhältnismäßig geringe Zahl betroffen werde". Zudem
verlaufen die Unglücksfälle und gar erst die Verbrechen meistens derart, daß
sie nicht ästhetisch wirken. Wie der Tragik, so wird mich der Komik immer
mehr Gebiet entzogen. Wenigstens versucht mau es und ist man eifrig bemüht,
ihr den Garaus zu machen, wenn mich ihre hartnäckige Gegenwehr bisher diese
Bemühungen vereitelt hat. Die Sitten "ut Kleider der zivilisierten Menschen
der ganzen Erde sind gleichförmig geworden, "ut die Naturvölker und die
Barbaren werde" bald ausgerottet oder zivilisiert sein. Originale werden nicht
mehr geduldet. Wo wäre heut noch el" Professor möglich wie der Freiburger,
von dem Reichlin-Meldegg erzählt, der sich einen Hut mit beweglichem Deckel
und eine Maschinerie zum Ans- und Zuklappen konstruiert hatte und ihn beim
Spazierengehn je nachdem es schön war oder regnete offen oder geschlosse"
trug! Heut soll und heut will jedermann korrekt erscheine" "ut ist ängstlich
beflisse,,, i" Kleidung, Sprache, Benehmen "ut Handeln alles zu vermeide",
was ihn von andern unterscheiden könnte; i" seinen Meinungen "ut Über-
zeugungen kann um, leider nicht mit allen übereinstimmen, da will man aber
wenigstens in einem möglichst große" Hansen unterkrieche", mit dem man
unisono reden, schreiben, singen, deklamieren, triumphieren und sich entrüsten
kann. Bald wird die ganze Gesellschaft bis in ihre tiefsten Schichten hinunter
"die gute" sein, von der Goethe sagt: "man nennt sie die gute, wenn sie zum
kleinsten Gedicht keine Gelegenheit giebt." Und ein Hmiptgrnnd dieses ängst¬
lichen Strebens nach Unauffülligkeit ist die Flucht vor der Lächerlichkeit, die
Besorgnis, man könnte komisch erscheinen. Mit dem Komischen schwindet


Line neue Theorie des Kölnischen

in eine Tragödie ausläuft. Beide Ansichten betreffen aber nur die Welt im
großen und ganzen und aus einer gewissen Entfernung gesehen. Sieht man
genauer hin aufs einzelne — und das ist die gewöhnliche Art des Sehens
beim gewöhnlichen Manne, der weder philosophische noch ästhetische Augen
hat —, so sieht man viele und vieles, was weder tragisch noch komisch, mich
weder schön noch häßlich ist und überhaupt in keine ästhetische Kategorie fällt.
Der beschränkte Kopf in mittlerer Lebenslage hegt keine andre als leicht er¬
füllbare Wünsche, setzt sich nnr leicht erreichbare Ziele, die er mich wirklich
meist erreicht, und stirbt nach einem befriedigenden Leben einen ganz gewöhn¬
lichen Tod in seinem Bette. In frühern Zeiten fand auch der gemeine Manu
in je einem von zwei oder drei Fällen einen gewaltsamen Tod, und wirkte ein
solches Schicksal des Einzelnen nicht tragisch, so that es die Masse. Es gab
Zeiten und Gegenden, wo Krieg, Hunger und Pest in wenig Monaten: die
halbe Bevölkerung hinwegrafften, und wo sich jeder Überlebende bald von
Nünbern bald von einer barbarischen sogenannten Justiz bedroht sah. Das
ist seit hundert Jahren anders geworden; die heutige Beherrschung der Natur
und die heutige bürgerliche Ordnung sichern der überwiegenden Mehrzahl einen
ruhigen und natürlichen Ablauf des Lebens, und von einer Tragik, die er¬
schütternd wirkt, ist nnr noch in den selten gewordnen und in ihren Wirkungen
beschränkten Kriegen und bei Unglücksfüllen die Rede, von denen immer nnr
einzelne oder eine verhältnismäßig geringe Zahl betroffen werde». Zudem
verlaufen die Unglücksfälle und gar erst die Verbrechen meistens derart, daß
sie nicht ästhetisch wirken. Wie der Tragik, so wird mich der Komik immer
mehr Gebiet entzogen. Wenigstens versucht mau es und ist man eifrig bemüht,
ihr den Garaus zu machen, wenn mich ihre hartnäckige Gegenwehr bisher diese
Bemühungen vereitelt hat. Die Sitten »ut Kleider der zivilisierten Menschen
der ganzen Erde sind gleichförmig geworden, »ut die Naturvölker und die
Barbaren werde» bald ausgerottet oder zivilisiert sein. Originale werden nicht
mehr geduldet. Wo wäre heut noch el» Professor möglich wie der Freiburger,
von dem Reichlin-Meldegg erzählt, der sich einen Hut mit beweglichem Deckel
und eine Maschinerie zum Ans- und Zuklappen konstruiert hatte und ihn beim
Spazierengehn je nachdem es schön war oder regnete offen oder geschlosse»
trug! Heut soll und heut will jedermann korrekt erscheine» »ut ist ängstlich
beflisse,,, i» Kleidung, Sprache, Benehmen »ut Handeln alles zu vermeide»,
was ihn von andern unterscheiden könnte; i» seinen Meinungen »ut Über-
zeugungen kann um, leider nicht mit allen übereinstimmen, da will man aber
wenigstens in einem möglichst große» Hansen unterkrieche», mit dem man
unisono reden, schreiben, singen, deklamieren, triumphieren und sich entrüsten
kann. Bald wird die ganze Gesellschaft bis in ihre tiefsten Schichten hinunter
„die gute" sein, von der Goethe sagt: „man nennt sie die gute, wenn sie zum
kleinsten Gedicht keine Gelegenheit giebt." Und ein Hmiptgrnnd dieses ängst¬
lichen Strebens nach Unauffülligkeit ist die Flucht vor der Lächerlichkeit, die
Besorgnis, man könnte komisch erscheinen. Mit dem Komischen schwindet


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/589>, abgerufen am 01.07.2024.