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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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unzeitgemäße Sparsamkeit Heer und Flotte gegenüber, die in den Zeiten des
städtisch-kaufmännischen Staatsregiments immer am schlimmsten gewesen sei.
Wohl traten gewichtige und einsichtige Urteile auch sonst hervor und sprachen
beredt und überzeugend dafür, daß mit dem alten Schlendrian in der Heimat
und in den Kolonien gebrochen werden müsse, daß man die Hände nicht in
den Schoß legen und verzweifeln dürfe. Aber sie schlugen die seemännische
Tüchtigkeit des Volkes nur noch gering an. Sie empfahlen, sich für See¬
wesen und Schiffahrt in der ausländischen Litteratur Rats zu holen und See-
mmmsschnlen zu gründen. Umsonst; auf keinem Gebiete zeigte sich ein praktischer
Erfolg aller dieser Vorschläge, und plötzlich war jede Reform verspätet: die
Nation stand vor ihrem schwersten Kriege.

Im Jahre 1775 begann die Erhebung Nordamerikas gegen die englische
Herrschaft. In den Niederlanden war die Begeisterung groß für die Tapfern,
die gegen die englischen Heere für Freiheit und Vaterland fochten. Eigen¬
mächtig schloß Amsterdam 1780 mit der jungen Union der amerikanischen
Staaten eiuen Handelsvertrag ab. Waffeusendungen gingen aus deu Nieder¬
landen nu die Aufständischen. Die englische Negierung führte Beschwerde, das
englische Volk geriet in ungeheure Erbitterung. Mit frivolem Leichtsinn wurde
die Kriegserklärung Englands herausgefordert, und sie erfolgte schnell, ehe noch
die Niederlande Rückhalt suchen konnten an der eben gegründeten bewaffneten
Seeneutralitüt der nordischen Mächte. Wo aber waren die Waffen, mit denen
Holland den großen Worten auch Thaten hätten folgen lassen können; wo
war die Flotte, die allein gegen einen solchen Gegner hätte Schutz gewähre"
können? England führte den Krieg mit der ganzen Wut, die seine Mißerfolge
jenseits des Ozeans im Volke angesammelt hatten. Was die Holländer noch
nu Welthandel hatten, wurde vernichtet. Ihre Handelsmacht erhielt den töd¬
lichen Stoß, die Kolonien wurden ihnen fast sämtlich genommen, ihre Schiffe
massenhaft gekapert, unermeßliche Bente wurde von den Engländern gemacht.
In kurzer Zeit war das Land in das furchtbarste Unglück gestürzt, die Verluste
für das Nationalvermögen waren nicht wieder gut zu macheu.

So rächte sich die bodenlose Vernachlässigung seiner Seerüstnng an Holland,
die vier Generationen lang systematisch von dem kaufmünnisch-patrizischen Staats¬
regiment betrieben worden war. Von 1796 bis 1813 stand die Republik nnter
der Herrschaft Frankreichs. Der englisch-französische Krieg seit 1803 und
vollends die Kontinentalsperre vollendeten die Vernichtung des holländischen
Seeverkehrs. Zwar gab der allgemeine europäische Friedensschluß 1814 deu
Niederländern die wertvollsten indischen Kolonien zurück, stellte die Selbständig¬
keit des Staats wieder her; aber die Lebenskraft und die Seegeltung des Volkes
bliebe" gebrochen.

Der unselige Glaube, sich in Friedenszeiten zu Lande und zur See un¬
gestraft der Sorge um die Kriegsmacht entschlagen, die Mittel zur Sicher¬
stellung des Staates und seines Handels vernachlässigen zu dürfen, dieser
Glaube seiner Machthaber brachte Holland im achtzehnten Jahrhundert a"


unzeitgemäße Sparsamkeit Heer und Flotte gegenüber, die in den Zeiten des
städtisch-kaufmännischen Staatsregiments immer am schlimmsten gewesen sei.
Wohl traten gewichtige und einsichtige Urteile auch sonst hervor und sprachen
beredt und überzeugend dafür, daß mit dem alten Schlendrian in der Heimat
und in den Kolonien gebrochen werden müsse, daß man die Hände nicht in
den Schoß legen und verzweifeln dürfe. Aber sie schlugen die seemännische
Tüchtigkeit des Volkes nur noch gering an. Sie empfahlen, sich für See¬
wesen und Schiffahrt in der ausländischen Litteratur Rats zu holen und See-
mmmsschnlen zu gründen. Umsonst; auf keinem Gebiete zeigte sich ein praktischer
Erfolg aller dieser Vorschläge, und plötzlich war jede Reform verspätet: die
Nation stand vor ihrem schwersten Kriege.

Im Jahre 1775 begann die Erhebung Nordamerikas gegen die englische
Herrschaft. In den Niederlanden war die Begeisterung groß für die Tapfern,
die gegen die englischen Heere für Freiheit und Vaterland fochten. Eigen¬
mächtig schloß Amsterdam 1780 mit der jungen Union der amerikanischen
Staaten eiuen Handelsvertrag ab. Waffeusendungen gingen aus deu Nieder¬
landen nu die Aufständischen. Die englische Negierung führte Beschwerde, das
englische Volk geriet in ungeheure Erbitterung. Mit frivolem Leichtsinn wurde
die Kriegserklärung Englands herausgefordert, und sie erfolgte schnell, ehe noch
die Niederlande Rückhalt suchen konnten an der eben gegründeten bewaffneten
Seeneutralitüt der nordischen Mächte. Wo aber waren die Waffen, mit denen
Holland den großen Worten auch Thaten hätten folgen lassen können; wo
war die Flotte, die allein gegen einen solchen Gegner hätte Schutz gewähre»
können? England führte den Krieg mit der ganzen Wut, die seine Mißerfolge
jenseits des Ozeans im Volke angesammelt hatten. Was die Holländer noch
nu Welthandel hatten, wurde vernichtet. Ihre Handelsmacht erhielt den töd¬
lichen Stoß, die Kolonien wurden ihnen fast sämtlich genommen, ihre Schiffe
massenhaft gekapert, unermeßliche Bente wurde von den Engländern gemacht.
In kurzer Zeit war das Land in das furchtbarste Unglück gestürzt, die Verluste
für das Nationalvermögen waren nicht wieder gut zu macheu.

So rächte sich die bodenlose Vernachlässigung seiner Seerüstnng an Holland,
die vier Generationen lang systematisch von dem kaufmünnisch-patrizischen Staats¬
regiment betrieben worden war. Von 1796 bis 1813 stand die Republik nnter
der Herrschaft Frankreichs. Der englisch-französische Krieg seit 1803 und
vollends die Kontinentalsperre vollendeten die Vernichtung des holländischen
Seeverkehrs. Zwar gab der allgemeine europäische Friedensschluß 1814 deu
Niederländern die wertvollsten indischen Kolonien zurück, stellte die Selbständig¬
keit des Staats wieder her; aber die Lebenskraft und die Seegeltung des Volkes
bliebe» gebrochen.

Der unselige Glaube, sich in Friedenszeiten zu Lande und zur See un¬
gestraft der Sorge um die Kriegsmacht entschlagen, die Mittel zur Sicher¬
stellung des Staates und seines Handels vernachlässigen zu dürfen, dieser
Glaube seiner Machthaber brachte Holland im achtzehnten Jahrhundert a»


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/583>, abgerufen am 01.07.2024.