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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Kolonien umfassende parlamentarische Organisation handelt, bisher noch wenig
Allssicht ist, gerade die wichtigsten und in andrer Hinsicht geeignetsten Kolonien,
wie Kanada und Australien, für solche Pläne zu gewinnen.^)

Umgekehrt braucht Europa England, und zwar ein mächtiges England,
und besonders wir Deutschen brauchen es. Wenn heilte England verschwände,
so bräche in vielen Teile" Europas das größte wirtschaftliche Elend aus.
England nimmt mehr von den Erzeugnissen, besonders den Rohstoffen Europas
auf als irgend ein andres Land. Die deutsche Ausfuhr betrug im Jahre 1898
"ach England und seiiie" Kolonien 939,2 Millionen Mark, und Ägypten ein¬
gerechnet 950,9 Millionen, das ist fast ein Viertel der gesamten Ausfuhr.")
Ähnlich verhält es sich mit dem Handelsinteresse der übrige" europäischen
Länder.

Aber wir brauche" el" starkes England auch in rein politischem Interesse.
Das alte Europa ist seit hundert Jahren vom Absolutismus zu freier" Formen
des staatliche" Lebens übergegangen. Viele Irrungen sind bei dieser Entwicklung
mit untergelaufen, aber bellte will und kann keins der alten Kulturvölker mehr
Staatsformen aufgebe", die dem Einzelnen und den sozialen Gruppe" ein
erhebliches Maß von Selbstbestimmung, von selbstthätigem Leben gewährleiste".
Alle Arbeit, nicht bloß auf rein geistigem sondern ebenso auf sozialem wie auf tech¬
nischem und wirtschaftlichem Gebiet, die in England geleistet wird, ist mich für den
Kontinent in gewissem Sinne geleistet, und diese Arbeit ist um so größer, als
dort das Volk mir mit sehr geringer staatlicher Hilfe, besonders i" der Sozial¬
politik, sie verrichtet. N"r einer der europäische" Großstaateii -- den" die Türkei
steht außerhalb -- hält sich abseits von dem Wege. Rußland bleibt absolutistisch,
zentralisiert sich und sammelt eine gewaltige, dem übrigen Enropa innerlich lind
äußerlich fremde Macht, die sich von jeher nur nach außen, expansiv bethätigt
hat. Das slawische Nußland ist England um politisch-nationalem Anspruch gleich,
aber für Europa keine schöpferische Macht. Diese Macht hat besonders in den
letzte" Jahrzehnten eine" ebenso gewaltsamen nationale" Imperialismus gezeigt
wie England in Südafrika, aber ohne die englische Kulturkraft zu ihrer Recht¬
fertigung zu haben. Sie nimmt gern das Geld Europas zu Hilfe und glaubt,
damit eine eigne, uicht europäische Kultur begründen zu können bloß auf wirt-
schaftlicher Basis; ein Irrtum, der sie zu zahllosen legislativen und administra-
tiven Mißgriffen verleitet hat. Rußland ist national noch eine rohe Masse.
Das Nationalitätsprinzip ist hier verderblicher als in andern Staaten, weil
es die Kulturkräfte andrer Nationen zerstört oder abweist, die diesem Volke
selbst doch gerade fehlen. Indem Rußland dem Hirngespinst einer slawischen
und nicht der europäischen Kultur "achjagt, schließt es sich prinzipiell von Europa
innerlich wie äußerlich ab, wodurch es in einen Gegensatz zu Europa gerät
oder in ihn: vielmehr verharrt, der immer beunruhigend auf Enropa wirkt,




") Oil. DillW, I-l'Mons öl Ol'LlllM' Lritain, Seite 273 ff.
Die Steigerung der deutschen Seeintercssen von 1896 bis 1898 (Denkschrift zur Flotten-
"wrlnge für den Reichstag).

Kolonien umfassende parlamentarische Organisation handelt, bisher noch wenig
Allssicht ist, gerade die wichtigsten und in andrer Hinsicht geeignetsten Kolonien,
wie Kanada und Australien, für solche Pläne zu gewinnen.^)

Umgekehrt braucht Europa England, und zwar ein mächtiges England,
und besonders wir Deutschen brauchen es. Wenn heilte England verschwände,
so bräche in vielen Teile» Europas das größte wirtschaftliche Elend aus.
England nimmt mehr von den Erzeugnissen, besonders den Rohstoffen Europas
auf als irgend ein andres Land. Die deutsche Ausfuhr betrug im Jahre 1898
»ach England und seiiie» Kolonien 939,2 Millionen Mark, und Ägypten ein¬
gerechnet 950,9 Millionen, das ist fast ein Viertel der gesamten Ausfuhr.«)
Ähnlich verhält es sich mit dem Handelsinteresse der übrige» europäischen
Länder.

Aber wir brauche» el» starkes England auch in rein politischem Interesse.
Das alte Europa ist seit hundert Jahren vom Absolutismus zu freier» Formen
des staatliche» Lebens übergegangen. Viele Irrungen sind bei dieser Entwicklung
mit untergelaufen, aber bellte will und kann keins der alten Kulturvölker mehr
Staatsformen aufgebe», die dem Einzelnen und den sozialen Gruppe» ein
erhebliches Maß von Selbstbestimmung, von selbstthätigem Leben gewährleiste».
Alle Arbeit, nicht bloß auf rein geistigem sondern ebenso auf sozialem wie auf tech¬
nischem und wirtschaftlichem Gebiet, die in England geleistet wird, ist mich für den
Kontinent in gewissem Sinne geleistet, und diese Arbeit ist um so größer, als
dort das Volk mir mit sehr geringer staatlicher Hilfe, besonders i» der Sozial¬
politik, sie verrichtet. N»r einer der europäische» Großstaateii — den» die Türkei
steht außerhalb — hält sich abseits von dem Wege. Rußland bleibt absolutistisch,
zentralisiert sich und sammelt eine gewaltige, dem übrigen Enropa innerlich lind
äußerlich fremde Macht, die sich von jeher nur nach außen, expansiv bethätigt
hat. Das slawische Nußland ist England um politisch-nationalem Anspruch gleich,
aber für Europa keine schöpferische Macht. Diese Macht hat besonders in den
letzte» Jahrzehnten eine» ebenso gewaltsamen nationale» Imperialismus gezeigt
wie England in Südafrika, aber ohne die englische Kulturkraft zu ihrer Recht¬
fertigung zu haben. Sie nimmt gern das Geld Europas zu Hilfe und glaubt,
damit eine eigne, uicht europäische Kultur begründen zu können bloß auf wirt-
schaftlicher Basis; ein Irrtum, der sie zu zahllosen legislativen und administra-
tiven Mißgriffen verleitet hat. Rußland ist national noch eine rohe Masse.
Das Nationalitätsprinzip ist hier verderblicher als in andern Staaten, weil
es die Kulturkräfte andrer Nationen zerstört oder abweist, die diesem Volke
selbst doch gerade fehlen. Indem Rußland dem Hirngespinst einer slawischen
und nicht der europäischen Kultur »achjagt, schließt es sich prinzipiell von Europa
innerlich wie äußerlich ab, wodurch es in einen Gegensatz zu Europa gerät
oder in ihn: vielmehr verharrt, der immer beunruhigend auf Enropa wirkt,




") Oil. DillW, I-l'Mons öl Ol'LlllM' Lritain, Seite 273 ff.
Die Steigerung der deutschen Seeintercssen von 1896 bis 1898 (Denkschrift zur Flotten-
»wrlnge für den Reichstag).
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/567>, abgerufen am 22.07.2024.