Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Die alte und die neue Vachgesellschaft

nfang dieses Jahres ist der sechsundvierzigste Band als letzter der
Gesamtausgabe der Joh. Seb. Bachschen Werke erschienen. Da¬
mit hatte die Bachgcsellschaft ihre Aufgabe erfüllt. Einzig zu
dem Zweck gegründet, sämtliche Werke Joh. Seb. Bachs kritisch
und monumental zu veröffentlichen, löste sie sich nun nach Er¬
scheinen des letzten Bandes auf.

Ihr Werk ist in doppelter Beziehung bedeutungsvoll. Einmal ist uns
durch sie der Besitz aller noch erhaltnen Werke Bachs, die sie der großen
Mehrzahl nach überhaupt zum erstenmal hat vervielfältigen lassen, von neuem
gesichert. Was das bedeutet, ergiebt sich aus der Thatsache, daß nachweislich
allein in den fünfzig Jahren vor der Gründung der Bachgesellschaft gegen
hundert Werke Bachs spurlos verloren gegangen sind.

"Die Leipziger Vachgesellschnft hat aber -- wie der gleich zu erwähnende
Bericht Kretzschmnrs sagt -- nicht bloß in das Schicksal der Werke Sebastian
Bachs entscheidend eingegriffen, sie hat eine wichtige Wendung im Verhältnis
der neuen Zeit zur alten Tonkunst überhaupt herbeigeführt. So weit die
musikalischen Völker eine Vergangenheit haben, suchen sie ihre großen Meister
durch Neuausgabeu wieder zu erwecken, die dem Muster der Vachgesellschnft
genau oder freier folgen." Das ist die zweite und vielleicht wichtigste Folge
des Unternehmens gewesen. Der Bachausgabe folgten die Gesamtausgaben
von Händel, Schütz, Palestrina, Orlnndus Lassüs, die Eitnerschen Publikationen,
die Denkmäler der Tonkunst in Deutschland, in Österreich, ihr folgten fran¬
zösische, englische, italienische, holländische Versuche; auch die vollständigen
Editionen der neuern Klassiker sind zweifellos mit durch ihr Beispiel angeregt
Worden. Ja, man darf behaupten, daß sie wesentlich beigetragen hat zum
gegenwärtigen Aufblühen der Musikwissenschaft.

Die Bachausgabe war der erste Schacht in altes Goldland getrieben.
Staunend empfing die Welt in den Bänden der Gesellschaft einen unerme߬
lichen Reichtum, allmählich wurde sie gewahr, daß die Fruchtbarkeit und die
technische Meisterschaft Bachs von seiner Umgebung geteilt, von manchen sogar
überboten wurde. "Wir sind -- sagt der Bericht -- der musikalischen Er¬
forschung des achtzehnten und siebzehnten Jahrhunderts erst von Bach und
Händel aus näher getreten; von ihren deutschen Mitarbeitern wissen wir noch
heute nur wenig, ihre italienischen Zeitgenossen und Vorgänger beurteilt die




Die alte und die neue Vachgesellschaft

nfang dieses Jahres ist der sechsundvierzigste Band als letzter der
Gesamtausgabe der Joh. Seb. Bachschen Werke erschienen. Da¬
mit hatte die Bachgcsellschaft ihre Aufgabe erfüllt. Einzig zu
dem Zweck gegründet, sämtliche Werke Joh. Seb. Bachs kritisch
und monumental zu veröffentlichen, löste sie sich nun nach Er¬
scheinen des letzten Bandes auf.

Ihr Werk ist in doppelter Beziehung bedeutungsvoll. Einmal ist uns
durch sie der Besitz aller noch erhaltnen Werke Bachs, die sie der großen
Mehrzahl nach überhaupt zum erstenmal hat vervielfältigen lassen, von neuem
gesichert. Was das bedeutet, ergiebt sich aus der Thatsache, daß nachweislich
allein in den fünfzig Jahren vor der Gründung der Bachgesellschaft gegen
hundert Werke Bachs spurlos verloren gegangen sind.

„Die Leipziger Vachgesellschnft hat aber — wie der gleich zu erwähnende
Bericht Kretzschmnrs sagt — nicht bloß in das Schicksal der Werke Sebastian
Bachs entscheidend eingegriffen, sie hat eine wichtige Wendung im Verhältnis
der neuen Zeit zur alten Tonkunst überhaupt herbeigeführt. So weit die
musikalischen Völker eine Vergangenheit haben, suchen sie ihre großen Meister
durch Neuausgabeu wieder zu erwecken, die dem Muster der Vachgesellschnft
genau oder freier folgen." Das ist die zweite und vielleicht wichtigste Folge
des Unternehmens gewesen. Der Bachausgabe folgten die Gesamtausgaben
von Händel, Schütz, Palestrina, Orlnndus Lassüs, die Eitnerschen Publikationen,
die Denkmäler der Tonkunst in Deutschland, in Österreich, ihr folgten fran¬
zösische, englische, italienische, holländische Versuche; auch die vollständigen
Editionen der neuern Klassiker sind zweifellos mit durch ihr Beispiel angeregt
Worden. Ja, man darf behaupten, daß sie wesentlich beigetragen hat zum
gegenwärtigen Aufblühen der Musikwissenschaft.

Die Bachausgabe war der erste Schacht in altes Goldland getrieben.
Staunend empfing die Welt in den Bänden der Gesellschaft einen unerme߬
lichen Reichtum, allmählich wurde sie gewahr, daß die Fruchtbarkeit und die
technische Meisterschaft Bachs von seiner Umgebung geteilt, von manchen sogar
überboten wurde. „Wir sind — sagt der Bericht — der musikalischen Er¬
forschung des achtzehnten und siebzehnten Jahrhunderts erst von Bach und
Händel aus näher getreten; von ihren deutschen Mitarbeitern wissen wir noch
heute nur wenig, ihre italienischen Zeitgenossen und Vorgänger beurteilt die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0543" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290954"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341871_290410/figures/grenzboten_341871_290410_290954_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die alte und die neue Vachgesellschaft</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1802"> nfang dieses Jahres ist der sechsundvierzigste Band als letzter der<lb/>
Gesamtausgabe der Joh. Seb. Bachschen Werke erschienen. Da¬<lb/>
mit hatte die Bachgcsellschaft ihre Aufgabe erfüllt. Einzig zu<lb/>
dem Zweck gegründet, sämtliche Werke Joh. Seb. Bachs kritisch<lb/>
und monumental zu veröffentlichen, löste sie sich nun nach Er¬<lb/>
scheinen des letzten Bandes auf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1803"> Ihr Werk ist in doppelter Beziehung bedeutungsvoll. Einmal ist uns<lb/>
durch sie der Besitz aller noch erhaltnen Werke Bachs, die sie der großen<lb/>
Mehrzahl nach überhaupt zum erstenmal hat vervielfältigen lassen, von neuem<lb/>
gesichert. Was das bedeutet, ergiebt sich aus der Thatsache, daß nachweislich<lb/>
allein in den fünfzig Jahren vor der Gründung der Bachgesellschaft gegen<lb/>
hundert Werke Bachs spurlos verloren gegangen sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1804"> &#x201E;Die Leipziger Vachgesellschnft hat aber &#x2014; wie der gleich zu erwähnende<lb/>
Bericht Kretzschmnrs sagt &#x2014; nicht bloß in das Schicksal der Werke Sebastian<lb/>
Bachs entscheidend eingegriffen, sie hat eine wichtige Wendung im Verhältnis<lb/>
der neuen Zeit zur alten Tonkunst überhaupt herbeigeführt. So weit die<lb/>
musikalischen Völker eine Vergangenheit haben, suchen sie ihre großen Meister<lb/>
durch Neuausgabeu wieder zu erwecken, die dem Muster der Vachgesellschnft<lb/>
genau oder freier folgen." Das ist die zweite und vielleicht wichtigste Folge<lb/>
des Unternehmens gewesen. Der Bachausgabe folgten die Gesamtausgaben<lb/>
von Händel, Schütz, Palestrina, Orlnndus Lassüs, die Eitnerschen Publikationen,<lb/>
die Denkmäler der Tonkunst in Deutschland, in Österreich, ihr folgten fran¬<lb/>
zösische, englische, italienische, holländische Versuche; auch die vollständigen<lb/>
Editionen der neuern Klassiker sind zweifellos mit durch ihr Beispiel angeregt<lb/>
Worden. Ja, man darf behaupten, daß sie wesentlich beigetragen hat zum<lb/>
gegenwärtigen Aufblühen der Musikwissenschaft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1805" next="#ID_1806"> Die Bachausgabe war der erste Schacht in altes Goldland getrieben.<lb/>
Staunend empfing die Welt in den Bänden der Gesellschaft einen unerme߬<lb/>
lichen Reichtum, allmählich wurde sie gewahr, daß die Fruchtbarkeit und die<lb/>
technische Meisterschaft Bachs von seiner Umgebung geteilt, von manchen sogar<lb/>
überboten wurde. &#x201E;Wir sind &#x2014; sagt der Bericht &#x2014; der musikalischen Er¬<lb/>
forschung des achtzehnten und siebzehnten Jahrhunderts erst von Bach und<lb/>
Händel aus näher getreten; von ihren deutschen Mitarbeitern wissen wir noch<lb/>
heute nur wenig, ihre italienischen Zeitgenossen und Vorgänger beurteilt die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0543] [Abbildung] Die alte und die neue Vachgesellschaft nfang dieses Jahres ist der sechsundvierzigste Band als letzter der Gesamtausgabe der Joh. Seb. Bachschen Werke erschienen. Da¬ mit hatte die Bachgcsellschaft ihre Aufgabe erfüllt. Einzig zu dem Zweck gegründet, sämtliche Werke Joh. Seb. Bachs kritisch und monumental zu veröffentlichen, löste sie sich nun nach Er¬ scheinen des letzten Bandes auf. Ihr Werk ist in doppelter Beziehung bedeutungsvoll. Einmal ist uns durch sie der Besitz aller noch erhaltnen Werke Bachs, die sie der großen Mehrzahl nach überhaupt zum erstenmal hat vervielfältigen lassen, von neuem gesichert. Was das bedeutet, ergiebt sich aus der Thatsache, daß nachweislich allein in den fünfzig Jahren vor der Gründung der Bachgesellschaft gegen hundert Werke Bachs spurlos verloren gegangen sind. „Die Leipziger Vachgesellschnft hat aber — wie der gleich zu erwähnende Bericht Kretzschmnrs sagt — nicht bloß in das Schicksal der Werke Sebastian Bachs entscheidend eingegriffen, sie hat eine wichtige Wendung im Verhältnis der neuen Zeit zur alten Tonkunst überhaupt herbeigeführt. So weit die musikalischen Völker eine Vergangenheit haben, suchen sie ihre großen Meister durch Neuausgabeu wieder zu erwecken, die dem Muster der Vachgesellschnft genau oder freier folgen." Das ist die zweite und vielleicht wichtigste Folge des Unternehmens gewesen. Der Bachausgabe folgten die Gesamtausgaben von Händel, Schütz, Palestrina, Orlnndus Lassüs, die Eitnerschen Publikationen, die Denkmäler der Tonkunst in Deutschland, in Österreich, ihr folgten fran¬ zösische, englische, italienische, holländische Versuche; auch die vollständigen Editionen der neuern Klassiker sind zweifellos mit durch ihr Beispiel angeregt Worden. Ja, man darf behaupten, daß sie wesentlich beigetragen hat zum gegenwärtigen Aufblühen der Musikwissenschaft. Die Bachausgabe war der erste Schacht in altes Goldland getrieben. Staunend empfing die Welt in den Bänden der Gesellschaft einen unerme߬ lichen Reichtum, allmählich wurde sie gewahr, daß die Fruchtbarkeit und die technische Meisterschaft Bachs von seiner Umgebung geteilt, von manchen sogar überboten wurde. „Wir sind — sagt der Bericht — der musikalischen Er¬ forschung des achtzehnten und siebzehnten Jahrhunderts erst von Bach und Händel aus näher getreten; von ihren deutschen Mitarbeitern wissen wir noch heute nur wenig, ihre italienischen Zeitgenossen und Vorgänger beurteilt die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/543
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/543>, abgerufen am 03.07.2024.