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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

gewisses Etwas, das nur ihm allein anhaftet. Ans Grund dieser Eigenschaften
könnte man Düfte mischen und modulieren, um auf solche Weise Melodien, Akkorde,
Fugen, Symphonien, kurz eine neue Musik hervorzubringen, die besonders für taube
Menschen gut wäre. Aber nicht für diese allein. Musikfreunde, die Gouuods
"Faust" lieben, sollen Ornngenduft einatmen; der Irisduft ersetzt die Musik von
Saint-Säens; man kann sich Myrrhenkantaten verschaffen, die an Bach erinnern usw.
Wird der Tag kommen, an dem ein Duftzerstäuber unsern Nasen dieselbe angenehme
Empfindung bereiten wird, wie sie unsern Ohren eine mächtige Orgel, Joachims
Geige oder die Stimme der Melba bereitet? Kann man hoffen, daß sich reiche
Leute später zur Erzeugung von Duftmusik Nasenklaviere bauen lassen?

Er geht zu weit, werden Sie sagen, und ich sage es auch, bei Gott, er geht zu
weit. Er macht denselben Fehler, den unsre Musiker machen, wenn sie versuchen,
und Tönen allein Liebe, Haß, Verachtung oder Sehnsucht auszudrücken. Alles dies
wird freilich erst möglich in der Verbindung mit dem gesprochnen Worte oder der
redenden Situation. In dieser Verbindung gewinnt der Ton eine große, die
Wirkung des Wortes übertreffende Bedeutung, er schafft die Stimmung, er bewegt
das Gefühl. Dasselbe gilt vom Gerüche. Daß mau mit Gerüchen wie mit Tönen
oder Akkorden werde operieren können, ist undenkbar, wohl aber kann der Geruch
in Verbindung mit dem Vorgange oder dem Worte eine neue Welt künstlerischer
Wirkung erschließen. An bestimmte Orte knüpfen sich bestimmte Gerüche. Für mich
hat die Mischung des Geruchs von getrockneten Rosenblättern und des der Rauch¬
kammer einen ganz bestimmten Erinnerungsinhalt, sie vergegenwärtigt mir das Pfarr¬
haus meiner Großeltern, das Paradies unsrer Kinderzeit. Und so ist es doch überall.
Es wird die Aufgabe des geruchkuudigen Dichters sein, herauszufühlen, welcher Geruch
zum Milieu seines Stückes oder der vorliegenden Szene gehört. Wir werden also beim
Beginne des Aktes in der Bühnenweisung nicht allein zu lesen haben, welche Thüren,
Stühle und Tische vorhanden sind, sondern auch, wie es in dem Raume riecht.

Und dies ist für die Prägnanz der Stimmung, für die Wahrheit der
Schilderung von so ungeheurer Wichtigkeit, daß man sich wundern muß, warum
das Wagnersche Musikdrama, das grundsätzlich alle Hilfsmittel in den Dienst nimmt,
warum das realistische Schauspiel, das alles, was schön oder auch nur erträglich
war, der Wahrhaftigkeit opfert, den Geruch noch nicht als Kunstmittel verwandt
haben. Es wäre eine Sache von großer Wirkung, wenn zu der Tragödie des
Hinterhauses auch der spezifische müssige Geruch des Hinterhauses oder zu der
Schilderung von Verbrechern, Lumpen oder Kueipenszenen der Dunst von Schnaps,
Fusel und schlechtem Tabak käme. Im "Fuhrmann Henschel" leistet Gerhardt zu
wenig, wenn er sich nur auf den Dialekt beschränkt, hier sind die zugehörigen Ge¬
rüche eigentlich gar uicht zu entbehren. Wie würde der Eindruck, den "Sodom" macht,
gesteigert werden, wenn zu der schwülen Stimmung der Handlung die dicke, par¬
fümierte Luft des Salons käme. Im Freischütz müßte es je nachdem nach Wald-
moos, Pulver, Schwefel und frischem Linnen riechen, in Wallensteins Lager nach
Pferden und Leder, in den Piccolomini nach Braten und Wachslichtern, im Lear
nach Staub und Ozon, im Tell nach dem Kuhstall. Wenn aber Faust in "ihrem
Dunstkreise satt sich weidet", so genügt es nicht, den "süßen Dämmerschein" durch
Dekoration und Beleuchtung darzustellen, auch der Dunstkreis selbst darf nicht fehlen.
Man ermesse, welche Aufgaben damit dem zukünftigen Gernchskünstler erwachsen.

Hier ist nun freilich eine technische Schwierigkeit zu überwinden. Sie liegt
nicht darin, die Gerüche zu bereiten, das können wir getrost der Chemie über¬
essen, sondern die Gerüche, die man gemacht hat, wieder los zu werden. Denn
so darf es nicht werden wie sonst im Freischütz, wo die Nachwirkungen des Feuer-
regcns den dritten Akt verdarben. Oder man denke sich zum Vergleich eine Musik,
in der alle Töne stundenlang nachklingen! Diese technische Schwierigkeit ist nicht


Maßgebliches und Unmaßgebliches

gewisses Etwas, das nur ihm allein anhaftet. Ans Grund dieser Eigenschaften
könnte man Düfte mischen und modulieren, um auf solche Weise Melodien, Akkorde,
Fugen, Symphonien, kurz eine neue Musik hervorzubringen, die besonders für taube
Menschen gut wäre. Aber nicht für diese allein. Musikfreunde, die Gouuods
„Faust" lieben, sollen Ornngenduft einatmen; der Irisduft ersetzt die Musik von
Saint-Säens; man kann sich Myrrhenkantaten verschaffen, die an Bach erinnern usw.
Wird der Tag kommen, an dem ein Duftzerstäuber unsern Nasen dieselbe angenehme
Empfindung bereiten wird, wie sie unsern Ohren eine mächtige Orgel, Joachims
Geige oder die Stimme der Melba bereitet? Kann man hoffen, daß sich reiche
Leute später zur Erzeugung von Duftmusik Nasenklaviere bauen lassen?

Er geht zu weit, werden Sie sagen, und ich sage es auch, bei Gott, er geht zu
weit. Er macht denselben Fehler, den unsre Musiker machen, wenn sie versuchen,
und Tönen allein Liebe, Haß, Verachtung oder Sehnsucht auszudrücken. Alles dies
wird freilich erst möglich in der Verbindung mit dem gesprochnen Worte oder der
redenden Situation. In dieser Verbindung gewinnt der Ton eine große, die
Wirkung des Wortes übertreffende Bedeutung, er schafft die Stimmung, er bewegt
das Gefühl. Dasselbe gilt vom Gerüche. Daß mau mit Gerüchen wie mit Tönen
oder Akkorden werde operieren können, ist undenkbar, wohl aber kann der Geruch
in Verbindung mit dem Vorgange oder dem Worte eine neue Welt künstlerischer
Wirkung erschließen. An bestimmte Orte knüpfen sich bestimmte Gerüche. Für mich
hat die Mischung des Geruchs von getrockneten Rosenblättern und des der Rauch¬
kammer einen ganz bestimmten Erinnerungsinhalt, sie vergegenwärtigt mir das Pfarr¬
haus meiner Großeltern, das Paradies unsrer Kinderzeit. Und so ist es doch überall.
Es wird die Aufgabe des geruchkuudigen Dichters sein, herauszufühlen, welcher Geruch
zum Milieu seines Stückes oder der vorliegenden Szene gehört. Wir werden also beim
Beginne des Aktes in der Bühnenweisung nicht allein zu lesen haben, welche Thüren,
Stühle und Tische vorhanden sind, sondern auch, wie es in dem Raume riecht.

Und dies ist für die Prägnanz der Stimmung, für die Wahrheit der
Schilderung von so ungeheurer Wichtigkeit, daß man sich wundern muß, warum
das Wagnersche Musikdrama, das grundsätzlich alle Hilfsmittel in den Dienst nimmt,
warum das realistische Schauspiel, das alles, was schön oder auch nur erträglich
war, der Wahrhaftigkeit opfert, den Geruch noch nicht als Kunstmittel verwandt
haben. Es wäre eine Sache von großer Wirkung, wenn zu der Tragödie des
Hinterhauses auch der spezifische müssige Geruch des Hinterhauses oder zu der
Schilderung von Verbrechern, Lumpen oder Kueipenszenen der Dunst von Schnaps,
Fusel und schlechtem Tabak käme. Im „Fuhrmann Henschel" leistet Gerhardt zu
wenig, wenn er sich nur auf den Dialekt beschränkt, hier sind die zugehörigen Ge¬
rüche eigentlich gar uicht zu entbehren. Wie würde der Eindruck, den „Sodom" macht,
gesteigert werden, wenn zu der schwülen Stimmung der Handlung die dicke, par¬
fümierte Luft des Salons käme. Im Freischütz müßte es je nachdem nach Wald-
moos, Pulver, Schwefel und frischem Linnen riechen, in Wallensteins Lager nach
Pferden und Leder, in den Piccolomini nach Braten und Wachslichtern, im Lear
nach Staub und Ozon, im Tell nach dem Kuhstall. Wenn aber Faust in „ihrem
Dunstkreise satt sich weidet", so genügt es nicht, den „süßen Dämmerschein" durch
Dekoration und Beleuchtung darzustellen, auch der Dunstkreis selbst darf nicht fehlen.
Man ermesse, welche Aufgaben damit dem zukünftigen Gernchskünstler erwachsen.

Hier ist nun freilich eine technische Schwierigkeit zu überwinden. Sie liegt
nicht darin, die Gerüche zu bereiten, das können wir getrost der Chemie über¬
essen, sondern die Gerüche, die man gemacht hat, wieder los zu werden. Denn
so darf es nicht werden wie sonst im Freischütz, wo die Nachwirkungen des Feuer-
regcns den dritten Akt verdarben. Oder man denke sich zum Vergleich eine Musik,
in der alle Töne stundenlang nachklingen! Diese technische Schwierigkeit ist nicht


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[0511] Maßgebliches und Unmaßgebliches gewisses Etwas, das nur ihm allein anhaftet. Ans Grund dieser Eigenschaften könnte man Düfte mischen und modulieren, um auf solche Weise Melodien, Akkorde, Fugen, Symphonien, kurz eine neue Musik hervorzubringen, die besonders für taube Menschen gut wäre. Aber nicht für diese allein. Musikfreunde, die Gouuods „Faust" lieben, sollen Ornngenduft einatmen; der Irisduft ersetzt die Musik von Saint-Säens; man kann sich Myrrhenkantaten verschaffen, die an Bach erinnern usw. Wird der Tag kommen, an dem ein Duftzerstäuber unsern Nasen dieselbe angenehme Empfindung bereiten wird, wie sie unsern Ohren eine mächtige Orgel, Joachims Geige oder die Stimme der Melba bereitet? Kann man hoffen, daß sich reiche Leute später zur Erzeugung von Duftmusik Nasenklaviere bauen lassen? Er geht zu weit, werden Sie sagen, und ich sage es auch, bei Gott, er geht zu weit. Er macht denselben Fehler, den unsre Musiker machen, wenn sie versuchen, und Tönen allein Liebe, Haß, Verachtung oder Sehnsucht auszudrücken. Alles dies wird freilich erst möglich in der Verbindung mit dem gesprochnen Worte oder der redenden Situation. In dieser Verbindung gewinnt der Ton eine große, die Wirkung des Wortes übertreffende Bedeutung, er schafft die Stimmung, er bewegt das Gefühl. Dasselbe gilt vom Gerüche. Daß mau mit Gerüchen wie mit Tönen oder Akkorden werde operieren können, ist undenkbar, wohl aber kann der Geruch in Verbindung mit dem Vorgange oder dem Worte eine neue Welt künstlerischer Wirkung erschließen. An bestimmte Orte knüpfen sich bestimmte Gerüche. Für mich hat die Mischung des Geruchs von getrockneten Rosenblättern und des der Rauch¬ kammer einen ganz bestimmten Erinnerungsinhalt, sie vergegenwärtigt mir das Pfarr¬ haus meiner Großeltern, das Paradies unsrer Kinderzeit. Und so ist es doch überall. Es wird die Aufgabe des geruchkuudigen Dichters sein, herauszufühlen, welcher Geruch zum Milieu seines Stückes oder der vorliegenden Szene gehört. Wir werden also beim Beginne des Aktes in der Bühnenweisung nicht allein zu lesen haben, welche Thüren, Stühle und Tische vorhanden sind, sondern auch, wie es in dem Raume riecht. Und dies ist für die Prägnanz der Stimmung, für die Wahrheit der Schilderung von so ungeheurer Wichtigkeit, daß man sich wundern muß, warum das Wagnersche Musikdrama, das grundsätzlich alle Hilfsmittel in den Dienst nimmt, warum das realistische Schauspiel, das alles, was schön oder auch nur erträglich war, der Wahrhaftigkeit opfert, den Geruch noch nicht als Kunstmittel verwandt haben. Es wäre eine Sache von großer Wirkung, wenn zu der Tragödie des Hinterhauses auch der spezifische müssige Geruch des Hinterhauses oder zu der Schilderung von Verbrechern, Lumpen oder Kueipenszenen der Dunst von Schnaps, Fusel und schlechtem Tabak käme. Im „Fuhrmann Henschel" leistet Gerhardt zu wenig, wenn er sich nur auf den Dialekt beschränkt, hier sind die zugehörigen Ge¬ rüche eigentlich gar uicht zu entbehren. Wie würde der Eindruck, den „Sodom" macht, gesteigert werden, wenn zu der schwülen Stimmung der Handlung die dicke, par¬ fümierte Luft des Salons käme. Im Freischütz müßte es je nachdem nach Wald- moos, Pulver, Schwefel und frischem Linnen riechen, in Wallensteins Lager nach Pferden und Leder, in den Piccolomini nach Braten und Wachslichtern, im Lear nach Staub und Ozon, im Tell nach dem Kuhstall. Wenn aber Faust in „ihrem Dunstkreise satt sich weidet", so genügt es nicht, den „süßen Dämmerschein" durch Dekoration und Beleuchtung darzustellen, auch der Dunstkreis selbst darf nicht fehlen. Man ermesse, welche Aufgaben damit dem zukünftigen Gernchskünstler erwachsen. Hier ist nun freilich eine technische Schwierigkeit zu überwinden. Sie liegt nicht darin, die Gerüche zu bereiten, das können wir getrost der Chemie über¬ essen, sondern die Gerüche, die man gemacht hat, wieder los zu werden. Denn so darf es nicht werden wie sonst im Freischütz, wo die Nachwirkungen des Feuer- regcns den dritten Akt verdarben. Oder man denke sich zum Vergleich eine Musik, in der alle Töne stundenlang nachklingen! Diese technische Schwierigkeit ist nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/511>, abgerufen am 01.07.2024.