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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Geschmacksverirrung im Buchdruck

sie über 1 Centimeter kürzer ist, durchschnittlich 19 Silben, und wahrend die
ganze Kolumne bei Sommerlad durchschnittlich aus 314 Silben besteht, um¬
faßt sie hier durchschnittlich 722 Silben. Wäre also das Buch von Sommcrlad
in der Ausstattung wie das danebenliegende Buch gedruckt wordeu, so würde
es von 349 auf 151 bis 152 Seiten zusammenschrumpfen und mit Titelblatt,
Vorwort und Register fast genau 10 Bogen Großoktav umfassen. Dann könnte
man natürlich nicht von einem "ersten Bande," sondern nur von einer "ersten
Lieferung" reden -- was das Buch in der That ist --, aber diese erste Liefe¬
rung hätte sich dann bequem für 5, höchstens 6 Mark in den Handel bringen
lassen. Das wäre aber doch sehr verständig gewesen, denn wenn noch eine
Anzahl ähnlicher "Bände" zum Preise von 20 Mark folgt, so kann das ganze
Werk leicht 60, 80 oder 100 Mark kosten. Aber weder die deutschen Ge¬
lehrten noch unsre öffentlichen Bibliotheken haben so viel Geld, daß sie es zum
Fenster hinauswerfen könnten. Wer sonst aber soll denn dieses Buch kaufen?
"Bücherfreunde" oder "Bücherliebhaber" um der Ausstattung mulier? Wird
ihnen nicht einfallen! Die wissen besser, wie ein schönes Buch aussieht. Und
damit komme ich auf die ästhetische Seite der Sache.

Das erste Kapitel des Buches beginnt mit folgenden Sätzen:

"Nicht in dem geordneten und oft leider allzumattherzigen Stillleben
^gedruckt ist: Stil--lebend und der einschläfernde" und behübigen Mittelmäßig¬
keit eines bürgerlichen Haushaltes im neunzehnten Jahrhundert liegt die Ent¬
wicklung der Geschichte der Menschheit beschlossen. Ihr tiefster Inhalt ist
der Kampf, die einzelnen Kräfte des Organismus drängen und bewegen sich,
und ehe eine Neuordnung der Dinge entsteht, ehe der junge Lebenskeim zur
Selbständigkeit des Denkens und Fühlens erwächst, folgte stets unter schmerz¬
haften langdauernden Wehen eine Erschütterung ans die andre, eine furchtbare,
alles umschmelzendc chaotische Gärung, die heftig und stürmisch auch die indi¬
viduelle Lebenssphäre jedes einzelnen Volksgenossen beeinflußte und beherrschte.
Und vollends alle Gemeinschaftsbildungen der Menschheit sind im aufrüttelnden
Getümmel des Kampfes entstanden, jede auf Zeit hinaus dauernde Ordnung
des gemeinsamen Lebens erwuchs aus dem gegeneinander wogenden Widerstand
der materiellen und geistigen ^soll wohl heißen: der geistigen^ Arbeitskraft,
wenn sich das Bedürfnis des Einzelnen nach Besitz, Lust und Erfolg auf¬
bäumte gegen die Not und den Mangel des Lebens oder gegen die aus¬
gleichende Gestaltung einer überpersönlichen Gemeinschaft. Daher kommt es
denn, daß die denkende Betrachtung dieser ungeheuern Wandlungen ebenso
gegen Liebigs Satz von dem ewigen Gleichbleibe" der moralischen Natur des
Menschen protestieren muß wie gegen eine Anschauung, die mit der Konstruktion
des Begriffs eines unabänderlichen Volksgeistes operierte."

Du verstehst diese Sätze nicht ganz, lieber Leser? Tröste dich mit mir,
ich verstehe sie auch nicht ganz, und ich habe mit wahrem Neid gesehen, daß
eine Leipziger Tageszeitung scholl acht Tage nach dem Erscheinen des Buches


Geschmacksverirrung im Buchdruck

sie über 1 Centimeter kürzer ist, durchschnittlich 19 Silben, und wahrend die
ganze Kolumne bei Sommerlad durchschnittlich aus 314 Silben besteht, um¬
faßt sie hier durchschnittlich 722 Silben. Wäre also das Buch von Sommcrlad
in der Ausstattung wie das danebenliegende Buch gedruckt wordeu, so würde
es von 349 auf 151 bis 152 Seiten zusammenschrumpfen und mit Titelblatt,
Vorwort und Register fast genau 10 Bogen Großoktav umfassen. Dann könnte
man natürlich nicht von einem „ersten Bande," sondern nur von einer „ersten
Lieferung" reden — was das Buch in der That ist —, aber diese erste Liefe¬
rung hätte sich dann bequem für 5, höchstens 6 Mark in den Handel bringen
lassen. Das wäre aber doch sehr verständig gewesen, denn wenn noch eine
Anzahl ähnlicher „Bände" zum Preise von 20 Mark folgt, so kann das ganze
Werk leicht 60, 80 oder 100 Mark kosten. Aber weder die deutschen Ge¬
lehrten noch unsre öffentlichen Bibliotheken haben so viel Geld, daß sie es zum
Fenster hinauswerfen könnten. Wer sonst aber soll denn dieses Buch kaufen?
„Bücherfreunde" oder „Bücherliebhaber" um der Ausstattung mulier? Wird
ihnen nicht einfallen! Die wissen besser, wie ein schönes Buch aussieht. Und
damit komme ich auf die ästhetische Seite der Sache.

Das erste Kapitel des Buches beginnt mit folgenden Sätzen:

„Nicht in dem geordneten und oft leider allzumattherzigen Stillleben
^gedruckt ist: Stil—lebend und der einschläfernde» und behübigen Mittelmäßig¬
keit eines bürgerlichen Haushaltes im neunzehnten Jahrhundert liegt die Ent¬
wicklung der Geschichte der Menschheit beschlossen. Ihr tiefster Inhalt ist
der Kampf, die einzelnen Kräfte des Organismus drängen und bewegen sich,
und ehe eine Neuordnung der Dinge entsteht, ehe der junge Lebenskeim zur
Selbständigkeit des Denkens und Fühlens erwächst, folgte stets unter schmerz¬
haften langdauernden Wehen eine Erschütterung ans die andre, eine furchtbare,
alles umschmelzendc chaotische Gärung, die heftig und stürmisch auch die indi¬
viduelle Lebenssphäre jedes einzelnen Volksgenossen beeinflußte und beherrschte.
Und vollends alle Gemeinschaftsbildungen der Menschheit sind im aufrüttelnden
Getümmel des Kampfes entstanden, jede auf Zeit hinaus dauernde Ordnung
des gemeinsamen Lebens erwuchs aus dem gegeneinander wogenden Widerstand
der materiellen und geistigen ^soll wohl heißen: der geistigen^ Arbeitskraft,
wenn sich das Bedürfnis des Einzelnen nach Besitz, Lust und Erfolg auf¬
bäumte gegen die Not und den Mangel des Lebens oder gegen die aus¬
gleichende Gestaltung einer überpersönlichen Gemeinschaft. Daher kommt es
denn, daß die denkende Betrachtung dieser ungeheuern Wandlungen ebenso
gegen Liebigs Satz von dem ewigen Gleichbleibe« der moralischen Natur des
Menschen protestieren muß wie gegen eine Anschauung, die mit der Konstruktion
des Begriffs eines unabänderlichen Volksgeistes operierte."

Du verstehst diese Sätze nicht ganz, lieber Leser? Tröste dich mit mir,
ich verstehe sie auch nicht ganz, und ich habe mit wahrem Neid gesehen, daß
eine Leipziger Tageszeitung scholl acht Tage nach dem Erscheinen des Buches


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[0492] Geschmacksverirrung im Buchdruck sie über 1 Centimeter kürzer ist, durchschnittlich 19 Silben, und wahrend die ganze Kolumne bei Sommerlad durchschnittlich aus 314 Silben besteht, um¬ faßt sie hier durchschnittlich 722 Silben. Wäre also das Buch von Sommcrlad in der Ausstattung wie das danebenliegende Buch gedruckt wordeu, so würde es von 349 auf 151 bis 152 Seiten zusammenschrumpfen und mit Titelblatt, Vorwort und Register fast genau 10 Bogen Großoktav umfassen. Dann könnte man natürlich nicht von einem „ersten Bande," sondern nur von einer „ersten Lieferung" reden — was das Buch in der That ist —, aber diese erste Liefe¬ rung hätte sich dann bequem für 5, höchstens 6 Mark in den Handel bringen lassen. Das wäre aber doch sehr verständig gewesen, denn wenn noch eine Anzahl ähnlicher „Bände" zum Preise von 20 Mark folgt, so kann das ganze Werk leicht 60, 80 oder 100 Mark kosten. Aber weder die deutschen Ge¬ lehrten noch unsre öffentlichen Bibliotheken haben so viel Geld, daß sie es zum Fenster hinauswerfen könnten. Wer sonst aber soll denn dieses Buch kaufen? „Bücherfreunde" oder „Bücherliebhaber" um der Ausstattung mulier? Wird ihnen nicht einfallen! Die wissen besser, wie ein schönes Buch aussieht. Und damit komme ich auf die ästhetische Seite der Sache. Das erste Kapitel des Buches beginnt mit folgenden Sätzen: „Nicht in dem geordneten und oft leider allzumattherzigen Stillleben ^gedruckt ist: Stil—lebend und der einschläfernde» und behübigen Mittelmäßig¬ keit eines bürgerlichen Haushaltes im neunzehnten Jahrhundert liegt die Ent¬ wicklung der Geschichte der Menschheit beschlossen. Ihr tiefster Inhalt ist der Kampf, die einzelnen Kräfte des Organismus drängen und bewegen sich, und ehe eine Neuordnung der Dinge entsteht, ehe der junge Lebenskeim zur Selbständigkeit des Denkens und Fühlens erwächst, folgte stets unter schmerz¬ haften langdauernden Wehen eine Erschütterung ans die andre, eine furchtbare, alles umschmelzendc chaotische Gärung, die heftig und stürmisch auch die indi¬ viduelle Lebenssphäre jedes einzelnen Volksgenossen beeinflußte und beherrschte. Und vollends alle Gemeinschaftsbildungen der Menschheit sind im aufrüttelnden Getümmel des Kampfes entstanden, jede auf Zeit hinaus dauernde Ordnung des gemeinsamen Lebens erwuchs aus dem gegeneinander wogenden Widerstand der materiellen und geistigen ^soll wohl heißen: der geistigen^ Arbeitskraft, wenn sich das Bedürfnis des Einzelnen nach Besitz, Lust und Erfolg auf¬ bäumte gegen die Not und den Mangel des Lebens oder gegen die aus¬ gleichende Gestaltung einer überpersönlichen Gemeinschaft. Daher kommt es denn, daß die denkende Betrachtung dieser ungeheuern Wandlungen ebenso gegen Liebigs Satz von dem ewigen Gleichbleibe« der moralischen Natur des Menschen protestieren muß wie gegen eine Anschauung, die mit der Konstruktion des Begriffs eines unabänderlichen Volksgeistes operierte." Du verstehst diese Sätze nicht ganz, lieber Leser? Tröste dich mit mir, ich verstehe sie auch nicht ganz, und ich habe mit wahrem Neid gesehen, daß eine Leipziger Tageszeitung scholl acht Tage nach dem Erscheinen des Buches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/492>, abgerufen am 01.07.2024.