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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Burschen heraus!

man doch auf keinen Fall gehn können, vermutlich auch nur auf Kosten des
Lateinischen -- würden die Schwierigkeiten des verspäteten Anfangs bestehn
bleiben und dazu das neue Bedenken entstehn, daß dann entweder die Gabelung
schon in II L beginnen müßte, also vor der sogenannten Abschlußprüfung,
oder daß, wenn sie erst in II ^ eintritt, auch die Schüler, die gar keine
humanistische Reifeprüfung erstreben, gezwungen würden, ein Jahr lang ganz
zwecklos das Griechische anzutreiben. Einer so unlogischen Einrichtung ver¬
mögen wir keine lange Lebensdauer zu versprechen, sie würde wahrscheinlich
nur der Anfang für die Verschiebung des Griechischen nach II ^, d. h. der
Anfang vom Ende sein. Die Frage steht also sehr einfach so, und darüber
hilft keine Selbsttäuschung weg: entweder hat das Griechische und die von ihm
eröffnete "Kulturperspektive" für unsre höhere Bildung noch den hohen Wert,
den wir ihm zuschreiben, dann ist es die einfache Pflicht der Unterrichtsver¬
waltungen, ihm den unentbehrlichen Raum zu gewähren, oder es hat seinen
Wert verloren, und wir können ohne Griechisch bleiben, was wir waren, das
Volk mit der tiefsten und umfassendsten Bildung, das Volk Goethes und
Schillers, Kants und Humboldts, dann werfe man es entschlossen ganz über
Bord und begnüge sich mit "guten" Übersetzungen aus griechischen Schrift¬
stellern, rsrtium non clawr. Der Versuch, es zu halten, aber ihm Luft und
Sonne zu nehmen, bis es verkümmert, ist eine zugleich schwächliche und un¬
ehrliche Halbheit, ein jämmerliches Angstprodukt aus dem Bestreben, dem Un¬
verstande des lieben Publikums entgegenzukommen, und der Furcht, es möchte
doch schließlich schade drum sein, es ganz aufzugeben.

Allerdings schon deshalb, weil man nicht recht weiß, woraus die freiwerdenden
Stunden verwandt werden sollen. Soll ein Teil dem allein selig machenden
Turnen zugelegt werden? Wir sind für jede vernünftige Leibesübung, aber
auch gegen jeden sportmüßigen Betrieb nach dem beliebten englischen Muster,
denn unsre Gymnasien sind keine vornehmen Internatsschulen wie Eton, und
das Militärjahr ersetzt bei unsern Abiturienten zehnmal, was ihre englischen
Altersgenossen auf ihren Spielplätzen haben.' Mit der modischen Engländern
bleibe man also wenigstens unsern Schülern vom Leibe. Will man das Fran¬
zösische verstärken? Das ist schon seit 1892 genug verstärkt, und ein besondres
Bedürfnis, die Jngend noch tiefer in die französische Litteratur einzuführen,
liegt schwerlich vor. Oder das Deutsche? Um Gottes willen nicht, im Interesse
des Deutschen nämlich, denn die der deutschen Lektüre gewidmeten Stunden
sollen Erholungs- und Erbauungsstuuden sein, dürfen also uicht zu zahlreich
werden; verwandelt man sie in philologische Jnterpretationsstnnden, so ver¬
ekelt man den Schülern unsre klassische Litteratur. Oder Mathematik und
Naturwissenschaften? Aber für die allgemeine Bildung sind sie schon stark
genug; für den "praktischen" Bedarf braucht den mathematischen Schulunterricht
nur der künftige Mathematiker, Ingenieur u. ni. in., für die Zukunft der übrigen,
also der großen Mehrzahl, hat die Schulmathematik so wenig "praktischen"
Wert wie das viclgeschmähte Griechisch; sie vergessen sie rascher als dieses und
vermissen sie nicht einmal. Denn das steht nun ebeu fest: man kann ein ge-


Burschen heraus!

man doch auf keinen Fall gehn können, vermutlich auch nur auf Kosten des
Lateinischen — würden die Schwierigkeiten des verspäteten Anfangs bestehn
bleiben und dazu das neue Bedenken entstehn, daß dann entweder die Gabelung
schon in II L beginnen müßte, also vor der sogenannten Abschlußprüfung,
oder daß, wenn sie erst in II ^ eintritt, auch die Schüler, die gar keine
humanistische Reifeprüfung erstreben, gezwungen würden, ein Jahr lang ganz
zwecklos das Griechische anzutreiben. Einer so unlogischen Einrichtung ver¬
mögen wir keine lange Lebensdauer zu versprechen, sie würde wahrscheinlich
nur der Anfang für die Verschiebung des Griechischen nach II ^, d. h. der
Anfang vom Ende sein. Die Frage steht also sehr einfach so, und darüber
hilft keine Selbsttäuschung weg: entweder hat das Griechische und die von ihm
eröffnete „Kulturperspektive" für unsre höhere Bildung noch den hohen Wert,
den wir ihm zuschreiben, dann ist es die einfache Pflicht der Unterrichtsver¬
waltungen, ihm den unentbehrlichen Raum zu gewähren, oder es hat seinen
Wert verloren, und wir können ohne Griechisch bleiben, was wir waren, das
Volk mit der tiefsten und umfassendsten Bildung, das Volk Goethes und
Schillers, Kants und Humboldts, dann werfe man es entschlossen ganz über
Bord und begnüge sich mit „guten" Übersetzungen aus griechischen Schrift¬
stellern, rsrtium non clawr. Der Versuch, es zu halten, aber ihm Luft und
Sonne zu nehmen, bis es verkümmert, ist eine zugleich schwächliche und un¬
ehrliche Halbheit, ein jämmerliches Angstprodukt aus dem Bestreben, dem Un¬
verstande des lieben Publikums entgegenzukommen, und der Furcht, es möchte
doch schließlich schade drum sein, es ganz aufzugeben.

Allerdings schon deshalb, weil man nicht recht weiß, woraus die freiwerdenden
Stunden verwandt werden sollen. Soll ein Teil dem allein selig machenden
Turnen zugelegt werden? Wir sind für jede vernünftige Leibesübung, aber
auch gegen jeden sportmüßigen Betrieb nach dem beliebten englischen Muster,
denn unsre Gymnasien sind keine vornehmen Internatsschulen wie Eton, und
das Militärjahr ersetzt bei unsern Abiturienten zehnmal, was ihre englischen
Altersgenossen auf ihren Spielplätzen haben.' Mit der modischen Engländern
bleibe man also wenigstens unsern Schülern vom Leibe. Will man das Fran¬
zösische verstärken? Das ist schon seit 1892 genug verstärkt, und ein besondres
Bedürfnis, die Jngend noch tiefer in die französische Litteratur einzuführen,
liegt schwerlich vor. Oder das Deutsche? Um Gottes willen nicht, im Interesse
des Deutschen nämlich, denn die der deutschen Lektüre gewidmeten Stunden
sollen Erholungs- und Erbauungsstuuden sein, dürfen also uicht zu zahlreich
werden; verwandelt man sie in philologische Jnterpretationsstnnden, so ver¬
ekelt man den Schülern unsre klassische Litteratur. Oder Mathematik und
Naturwissenschaften? Aber für die allgemeine Bildung sind sie schon stark
genug; für den „praktischen" Bedarf braucht den mathematischen Schulunterricht
nur der künftige Mathematiker, Ingenieur u. ni. in., für die Zukunft der übrigen,
also der großen Mehrzahl, hat die Schulmathematik so wenig „praktischen"
Wert wie das viclgeschmähte Griechisch; sie vergessen sie rascher als dieses und
vermissen sie nicht einmal. Denn das steht nun ebeu fest: man kann ein ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/431>, abgerufen am 22.07.2024.