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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Die Frau in der Fabrik

Vielleicht gedeihen dort sogar noch eher die Gefühle der Liebe und des
Respekts für die Eltern in ihren Herzen, als wenn sie von diesen selbst "er¬
zogen" werde,?. Könnte der Staat nicht in jeder Stadt Krippen und Klein-
kindergärten obligatorisch machen und unter seine Kontrolle stellen, mit der
Verpflichtung, die Aufsichtzeit genau mit der Fabrik zu beginne" und zu schließen,
sodaß die Frauen vor der Arbeit die Kinder selbst abliefern und in den jetzt
recht reichlich gemessenen Heimstnnden sie wieder zu sich holen konnten? Jede
Fabrik müßte dann verpflichtet sein, zur Unterhaltung der Krippen und Gärten
in dem Maße beizutragen, wie es der Zahl ihrer weiblichen Arbeiter entspräche,
ähnlich den heutigen Krankenkassen. Nicht jede Fabrik ist groß genug und ge¬
währt so viel Nutzen, daß sie aus eignen Mitteln solche Gründungen machen
kann, und mancher Fabrikant, der es könnte, fühlt die Verpflichtung dazu nicht
in sich, aber bitter notwendig wäre die Organisation des Pflcgewcsens durch
den Staat.

Man muß nur einmal Gelegenheit gehabt haben, Frauen aus dem
Arbeiterstand zu beobachten, die Kostkinder in Pflege bekommen, von Mädchen,
die in die Fabrik gehn, oder Müttern, die vom Heim fort müssen, trotzdem daß
ihre Kinder noch ganz klein sind. Das Herz blutet einem, wenn man diese
ttttfreiwillige Engelmacherei beobachtet. Die Frauen, die Kinder nehmen, thun
es mir, wenn eine zu große Zahl eigner Kinder ihnen das Aufarbeitgehn ver¬
bietet; die Vezahluug ist verhältnismäßig hoch, die Kost dagegen die denkbar
ärmlichste, ich hörte von halbjährigen Kindern, die fast nur Zichorienkaffee mit
einem Tröpfchen Milch bekommen hatten; natürlich starben die meisten; nur
die robustesten werden groß; das geschieht nicht aus Bosheit, sondern aus
Armut. Und es geschieht den Kostkindern nicht, weil sie von der Mutter weg
sind, sondern nur, weil die meisten Arbeitermütter sehr arm sind, und weil sie
von richtiger Kinderpflege keinen Begriff haben; die eignen Kinder sterben in
gleicher Zahl wie die fremden.

Wir haben hier am Ort eine Kleinkinderschule, die von katholischen
Schwestern geleitet wird. An sich ist die Anstalt gut und brauchbar, ich habe
immer vier bis fünf kleine Pensionäre drin, doch ist ihr Mangel der, daß sie
konfessionell ist, lind wenn protestantische Kinderchen hinkommen, die sonst
freundlich geduldet sind, so müssen sie eben einfach die katholischen Andachten
mitmachen, und deshalb meiden viele protestantische Arbeiterinnen die Anstalt.
Dann hat sie den Fehler, daß sie später beginnt als die Fabriken, die Mütter
also die Kleinen nicht selbst abgeben können, sondern auf nachbarliche Hilfe
angewiesen sind. Die Kinder werden viel ins Freie geführt und haben einen
großen Garten zum Spielen, werden auch von den Schwestern gut gezogen,
die Mütter ein bischen mit, denn sie sind gezwungen, ein wenig mehr Zeit
auf Reinlichkeit und Ordnung der Kleider und der Kleinen zu verwenden.
Mein stiller Wunsch für Arbeiter- und Geschäftsfrauen geht also dahin, daß
der Staat Musterkrippen errichtete und leitete, in denen Zöglinge von sechs
Wochen an Aufnahme finden bis zum dritte" Jahre, entweder für einige


Die Frau in der Fabrik

Vielleicht gedeihen dort sogar noch eher die Gefühle der Liebe und des
Respekts für die Eltern in ihren Herzen, als wenn sie von diesen selbst „er¬
zogen" werde,?. Könnte der Staat nicht in jeder Stadt Krippen und Klein-
kindergärten obligatorisch machen und unter seine Kontrolle stellen, mit der
Verpflichtung, die Aufsichtzeit genau mit der Fabrik zu beginne» und zu schließen,
sodaß die Frauen vor der Arbeit die Kinder selbst abliefern und in den jetzt
recht reichlich gemessenen Heimstnnden sie wieder zu sich holen konnten? Jede
Fabrik müßte dann verpflichtet sein, zur Unterhaltung der Krippen und Gärten
in dem Maße beizutragen, wie es der Zahl ihrer weiblichen Arbeiter entspräche,
ähnlich den heutigen Krankenkassen. Nicht jede Fabrik ist groß genug und ge¬
währt so viel Nutzen, daß sie aus eignen Mitteln solche Gründungen machen
kann, und mancher Fabrikant, der es könnte, fühlt die Verpflichtung dazu nicht
in sich, aber bitter notwendig wäre die Organisation des Pflcgewcsens durch
den Staat.

Man muß nur einmal Gelegenheit gehabt haben, Frauen aus dem
Arbeiterstand zu beobachten, die Kostkinder in Pflege bekommen, von Mädchen,
die in die Fabrik gehn, oder Müttern, die vom Heim fort müssen, trotzdem daß
ihre Kinder noch ganz klein sind. Das Herz blutet einem, wenn man diese
ttttfreiwillige Engelmacherei beobachtet. Die Frauen, die Kinder nehmen, thun
es mir, wenn eine zu große Zahl eigner Kinder ihnen das Aufarbeitgehn ver¬
bietet; die Vezahluug ist verhältnismäßig hoch, die Kost dagegen die denkbar
ärmlichste, ich hörte von halbjährigen Kindern, die fast nur Zichorienkaffee mit
einem Tröpfchen Milch bekommen hatten; natürlich starben die meisten; nur
die robustesten werden groß; das geschieht nicht aus Bosheit, sondern aus
Armut. Und es geschieht den Kostkindern nicht, weil sie von der Mutter weg
sind, sondern nur, weil die meisten Arbeitermütter sehr arm sind, und weil sie
von richtiger Kinderpflege keinen Begriff haben; die eignen Kinder sterben in
gleicher Zahl wie die fremden.

Wir haben hier am Ort eine Kleinkinderschule, die von katholischen
Schwestern geleitet wird. An sich ist die Anstalt gut und brauchbar, ich habe
immer vier bis fünf kleine Pensionäre drin, doch ist ihr Mangel der, daß sie
konfessionell ist, lind wenn protestantische Kinderchen hinkommen, die sonst
freundlich geduldet sind, so müssen sie eben einfach die katholischen Andachten
mitmachen, und deshalb meiden viele protestantische Arbeiterinnen die Anstalt.
Dann hat sie den Fehler, daß sie später beginnt als die Fabriken, die Mütter
also die Kleinen nicht selbst abgeben können, sondern auf nachbarliche Hilfe
angewiesen sind. Die Kinder werden viel ins Freie geführt und haben einen
großen Garten zum Spielen, werden auch von den Schwestern gut gezogen,
die Mütter ein bischen mit, denn sie sind gezwungen, ein wenig mehr Zeit
auf Reinlichkeit und Ordnung der Kleider und der Kleinen zu verwenden.
Mein stiller Wunsch für Arbeiter- und Geschäftsfrauen geht also dahin, daß
der Staat Musterkrippen errichtete und leitete, in denen Zöglinge von sechs
Wochen an Aufnahme finden bis zum dritte» Jahre, entweder für einige


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[0340] Die Frau in der Fabrik Vielleicht gedeihen dort sogar noch eher die Gefühle der Liebe und des Respekts für die Eltern in ihren Herzen, als wenn sie von diesen selbst „er¬ zogen" werde,?. Könnte der Staat nicht in jeder Stadt Krippen und Klein- kindergärten obligatorisch machen und unter seine Kontrolle stellen, mit der Verpflichtung, die Aufsichtzeit genau mit der Fabrik zu beginne» und zu schließen, sodaß die Frauen vor der Arbeit die Kinder selbst abliefern und in den jetzt recht reichlich gemessenen Heimstnnden sie wieder zu sich holen konnten? Jede Fabrik müßte dann verpflichtet sein, zur Unterhaltung der Krippen und Gärten in dem Maße beizutragen, wie es der Zahl ihrer weiblichen Arbeiter entspräche, ähnlich den heutigen Krankenkassen. Nicht jede Fabrik ist groß genug und ge¬ währt so viel Nutzen, daß sie aus eignen Mitteln solche Gründungen machen kann, und mancher Fabrikant, der es könnte, fühlt die Verpflichtung dazu nicht in sich, aber bitter notwendig wäre die Organisation des Pflcgewcsens durch den Staat. Man muß nur einmal Gelegenheit gehabt haben, Frauen aus dem Arbeiterstand zu beobachten, die Kostkinder in Pflege bekommen, von Mädchen, die in die Fabrik gehn, oder Müttern, die vom Heim fort müssen, trotzdem daß ihre Kinder noch ganz klein sind. Das Herz blutet einem, wenn man diese ttttfreiwillige Engelmacherei beobachtet. Die Frauen, die Kinder nehmen, thun es mir, wenn eine zu große Zahl eigner Kinder ihnen das Aufarbeitgehn ver¬ bietet; die Vezahluug ist verhältnismäßig hoch, die Kost dagegen die denkbar ärmlichste, ich hörte von halbjährigen Kindern, die fast nur Zichorienkaffee mit einem Tröpfchen Milch bekommen hatten; natürlich starben die meisten; nur die robustesten werden groß; das geschieht nicht aus Bosheit, sondern aus Armut. Und es geschieht den Kostkindern nicht, weil sie von der Mutter weg sind, sondern nur, weil die meisten Arbeitermütter sehr arm sind, und weil sie von richtiger Kinderpflege keinen Begriff haben; die eignen Kinder sterben in gleicher Zahl wie die fremden. Wir haben hier am Ort eine Kleinkinderschule, die von katholischen Schwestern geleitet wird. An sich ist die Anstalt gut und brauchbar, ich habe immer vier bis fünf kleine Pensionäre drin, doch ist ihr Mangel der, daß sie konfessionell ist, lind wenn protestantische Kinderchen hinkommen, die sonst freundlich geduldet sind, so müssen sie eben einfach die katholischen Andachten mitmachen, und deshalb meiden viele protestantische Arbeiterinnen die Anstalt. Dann hat sie den Fehler, daß sie später beginnt als die Fabriken, die Mütter also die Kleinen nicht selbst abgeben können, sondern auf nachbarliche Hilfe angewiesen sind. Die Kinder werden viel ins Freie geführt und haben einen großen Garten zum Spielen, werden auch von den Schwestern gut gezogen, die Mütter ein bischen mit, denn sie sind gezwungen, ein wenig mehr Zeit auf Reinlichkeit und Ordnung der Kleider und der Kleinen zu verwenden. Mein stiller Wunsch für Arbeiter- und Geschäftsfrauen geht also dahin, daß der Staat Musterkrippen errichtete und leitete, in denen Zöglinge von sechs Wochen an Aufnahme finden bis zum dritte» Jahre, entweder für einige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/340>, abgerufen am 29.06.2024.