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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Die Frau in der Fabrik

des Frauenerwerbs beruht, nicht rückgängig machen, und verböte er die Arbeit
in der Fabrik, so würden die Frauen ebeu andre Erwerbsarten, die nicht
schöner sind, suchen und finden. Es ist auch nicht die moderne Jndustrie
allein, was die Erwerbsarbeit der Frauen allgemein macht; nicht wenig trägt
die Freiheit der europäischen Frau und die Idee der Gleichberechtigung dazu
bei. Wenn es die Frauen als ihr gutes Recht in Anspruch nehmen, über den
Büchern verkümmern oder tagelöhnernd Münnerarbcit verrichten zu dürfen und
statt sich vom Mann ernähren zu lassen, selbst einen Mann zu ernähren, so
wird der Staat nicht viel dagegen thun köunen.

Die Betrachtungen des Herrn Stachle haben nnn eine süddeutsche Fabri¬
kantenfrau angeregt, ihr volles Herz auszuschütten und uns ihre eignen reichen
Erfahrungen mitzuteilen; sie hat ihren langen Brief nicht für den Druck ge¬
schrieben, ' aber da er als Ergebnis unmittelbarster und reifster Lebenserfahrung
mehr wert ist als eine gelehrte Prvfessorenarbcit, so drucken wir ihn mit un¬
wesentlichen Auslassungen und Änderungen vollständig ab.

Die Dame erklärt, daß auch sie es für ein Unglück halten würde, wenn
den Frauen die Fabrikarbeit verboten würde, und fährt dann fort: Ich habe
viel Gelegenheit gehabt und gesucht mit den Arbeiterfraueu in nähere Be¬
rührung zu kommen; wir selbst besitzen eine Nühseidenfabrik, anch sind hier
am Ort große Spinnereien und Webereien, deren Maschinen ebenfalls fast
ausschließlich von weiblichen Händen bedient werden. Ich suchte zu erforschen,
wo die Ursache des oft großen Elends liege. Am schlechten Lohne und an der
Teuerung der Nahrungsmittel und der Wohnungen kann es hier eigentlich
nicht liegen. Es ist nur mehrmals möglich gewesen, einen gründlichen Ein¬
blick in Ärbeiterehen zu bekommen, und ich bin öfters in der Lage gewesen,
so gut es ging für den Augenblick zu raten und zu helfen. Meine Meinung
ist: Wenn'alle Männer gleichmäßig arbeitsam, haushälterisch, nüchtern und
gewissenhaft wären, von großer Selbstbeherrschung, erfüllt von dem Bewußt¬
sein ihrer ernsten Pflichten der Familie gegenüber, dann wäre es Barbarei,
die Frau dieser edeln Gemeinschaft und ihrem Pflichtenkreis im Hause zu ent¬
zieh". Dann würde der Mann stramm schaffen, die Fran zu Hause sitzen,
mit Nähen und der sorgfältigen Erziehung ihrer Jugend beschäftigt, darauf
bedacht, zusammen zu halten, was der Mann erwirbt, in Liebe ihrem Mann
Unterthan, geborgen unter seinem Schutz. Ich frage Sie, wo lebt dieses
Ideal, und wann wird es sich erfüllen? Ein Minister, der ein so unpraktisches
Gesetz erlassen wollte, müßte dafür bürgen, daß jeder Familienvater die Er¬
füllung des Ideals eines solchen wäre.

Mein Gott, wie traurig ist dagegen die Wirklichkeit! Was treibt dre
Frauen vou deu Kindern? Die Not, die furchtbare Notwendigkeit. Kommt
die Not nur von den schlechten Löhnen der Männer oder von dem Mangel
an Arbeitgelegenheit für sie? Nein, in neun Fällen von zehn vom Gegen¬
teil! Hiev verdient ein Tagelöhner und Maurer beim Uferbau oft 4 Mark
den Tag, genug, gut zu leben mit einer großen Familie, und die Frau geht


Die Frau in der Fabrik

des Frauenerwerbs beruht, nicht rückgängig machen, und verböte er die Arbeit
in der Fabrik, so würden die Frauen ebeu andre Erwerbsarten, die nicht
schöner sind, suchen und finden. Es ist auch nicht die moderne Jndustrie
allein, was die Erwerbsarbeit der Frauen allgemein macht; nicht wenig trägt
die Freiheit der europäischen Frau und die Idee der Gleichberechtigung dazu
bei. Wenn es die Frauen als ihr gutes Recht in Anspruch nehmen, über den
Büchern verkümmern oder tagelöhnernd Münnerarbcit verrichten zu dürfen und
statt sich vom Mann ernähren zu lassen, selbst einen Mann zu ernähren, so
wird der Staat nicht viel dagegen thun köunen.

Die Betrachtungen des Herrn Stachle haben nnn eine süddeutsche Fabri¬
kantenfrau angeregt, ihr volles Herz auszuschütten und uns ihre eignen reichen
Erfahrungen mitzuteilen; sie hat ihren langen Brief nicht für den Druck ge¬
schrieben, ' aber da er als Ergebnis unmittelbarster und reifster Lebenserfahrung
mehr wert ist als eine gelehrte Prvfessorenarbcit, so drucken wir ihn mit un¬
wesentlichen Auslassungen und Änderungen vollständig ab.

Die Dame erklärt, daß auch sie es für ein Unglück halten würde, wenn
den Frauen die Fabrikarbeit verboten würde, und fährt dann fort: Ich habe
viel Gelegenheit gehabt und gesucht mit den Arbeiterfraueu in nähere Be¬
rührung zu kommen; wir selbst besitzen eine Nühseidenfabrik, anch sind hier
am Ort große Spinnereien und Webereien, deren Maschinen ebenfalls fast
ausschließlich von weiblichen Händen bedient werden. Ich suchte zu erforschen,
wo die Ursache des oft großen Elends liege. Am schlechten Lohne und an der
Teuerung der Nahrungsmittel und der Wohnungen kann es hier eigentlich
nicht liegen. Es ist nur mehrmals möglich gewesen, einen gründlichen Ein¬
blick in Ärbeiterehen zu bekommen, und ich bin öfters in der Lage gewesen,
so gut es ging für den Augenblick zu raten und zu helfen. Meine Meinung
ist: Wenn'alle Männer gleichmäßig arbeitsam, haushälterisch, nüchtern und
gewissenhaft wären, von großer Selbstbeherrschung, erfüllt von dem Bewußt¬
sein ihrer ernsten Pflichten der Familie gegenüber, dann wäre es Barbarei,
die Frau dieser edeln Gemeinschaft und ihrem Pflichtenkreis im Hause zu ent¬
zieh». Dann würde der Mann stramm schaffen, die Fran zu Hause sitzen,
mit Nähen und der sorgfältigen Erziehung ihrer Jugend beschäftigt, darauf
bedacht, zusammen zu halten, was der Mann erwirbt, in Liebe ihrem Mann
Unterthan, geborgen unter seinem Schutz. Ich frage Sie, wo lebt dieses
Ideal, und wann wird es sich erfüllen? Ein Minister, der ein so unpraktisches
Gesetz erlassen wollte, müßte dafür bürgen, daß jeder Familienvater die Er¬
füllung des Ideals eines solchen wäre.

Mein Gott, wie traurig ist dagegen die Wirklichkeit! Was treibt dre
Frauen vou deu Kindern? Die Not, die furchtbare Notwendigkeit. Kommt
die Not nur von den schlechten Löhnen der Männer oder von dem Mangel
an Arbeitgelegenheit für sie? Nein, in neun Fällen von zehn vom Gegen¬
teil! Hiev verdient ein Tagelöhner und Maurer beim Uferbau oft 4 Mark
den Tag, genug, gut zu leben mit einer großen Familie, und die Frau geht


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[0335] Die Frau in der Fabrik des Frauenerwerbs beruht, nicht rückgängig machen, und verböte er die Arbeit in der Fabrik, so würden die Frauen ebeu andre Erwerbsarten, die nicht schöner sind, suchen und finden. Es ist auch nicht die moderne Jndustrie allein, was die Erwerbsarbeit der Frauen allgemein macht; nicht wenig trägt die Freiheit der europäischen Frau und die Idee der Gleichberechtigung dazu bei. Wenn es die Frauen als ihr gutes Recht in Anspruch nehmen, über den Büchern verkümmern oder tagelöhnernd Münnerarbcit verrichten zu dürfen und statt sich vom Mann ernähren zu lassen, selbst einen Mann zu ernähren, so wird der Staat nicht viel dagegen thun köunen. Die Betrachtungen des Herrn Stachle haben nnn eine süddeutsche Fabri¬ kantenfrau angeregt, ihr volles Herz auszuschütten und uns ihre eignen reichen Erfahrungen mitzuteilen; sie hat ihren langen Brief nicht für den Druck ge¬ schrieben, ' aber da er als Ergebnis unmittelbarster und reifster Lebenserfahrung mehr wert ist als eine gelehrte Prvfessorenarbcit, so drucken wir ihn mit un¬ wesentlichen Auslassungen und Änderungen vollständig ab. Die Dame erklärt, daß auch sie es für ein Unglück halten würde, wenn den Frauen die Fabrikarbeit verboten würde, und fährt dann fort: Ich habe viel Gelegenheit gehabt und gesucht mit den Arbeiterfraueu in nähere Be¬ rührung zu kommen; wir selbst besitzen eine Nühseidenfabrik, anch sind hier am Ort große Spinnereien und Webereien, deren Maschinen ebenfalls fast ausschließlich von weiblichen Händen bedient werden. Ich suchte zu erforschen, wo die Ursache des oft großen Elends liege. Am schlechten Lohne und an der Teuerung der Nahrungsmittel und der Wohnungen kann es hier eigentlich nicht liegen. Es ist nur mehrmals möglich gewesen, einen gründlichen Ein¬ blick in Ärbeiterehen zu bekommen, und ich bin öfters in der Lage gewesen, so gut es ging für den Augenblick zu raten und zu helfen. Meine Meinung ist: Wenn'alle Männer gleichmäßig arbeitsam, haushälterisch, nüchtern und gewissenhaft wären, von großer Selbstbeherrschung, erfüllt von dem Bewußt¬ sein ihrer ernsten Pflichten der Familie gegenüber, dann wäre es Barbarei, die Frau dieser edeln Gemeinschaft und ihrem Pflichtenkreis im Hause zu ent¬ zieh». Dann würde der Mann stramm schaffen, die Fran zu Hause sitzen, mit Nähen und der sorgfältigen Erziehung ihrer Jugend beschäftigt, darauf bedacht, zusammen zu halten, was der Mann erwirbt, in Liebe ihrem Mann Unterthan, geborgen unter seinem Schutz. Ich frage Sie, wo lebt dieses Ideal, und wann wird es sich erfüllen? Ein Minister, der ein so unpraktisches Gesetz erlassen wollte, müßte dafür bürgen, daß jeder Familienvater die Er¬ füllung des Ideals eines solchen wäre. Mein Gott, wie traurig ist dagegen die Wirklichkeit! Was treibt dre Frauen vou deu Kindern? Die Not, die furchtbare Notwendigkeit. Kommt die Not nur von den schlechten Löhnen der Männer oder von dem Mangel an Arbeitgelegenheit für sie? Nein, in neun Fällen von zehn vom Gegen¬ teil! Hiev verdient ein Tagelöhner und Maurer beim Uferbau oft 4 Mark den Tag, genug, gut zu leben mit einer großen Familie, und die Frau geht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/335>, abgerufen am 01.07.2024.