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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Ans Sizilien

den Seeweg nach der Heimat abschnitten und die erschöpften, entmutigten Haufen
zu dem verzweifelten Entschlüsse nötigten, das Anciposthal hinauf einen Ausweg
zu Lande zu suchen, auf dem sie zu Grunde gingen (Herbst 413), Zweitausend¬
dreihundert Jahre sind seit dieser Katastrophe verflossen, aber die schlichte,
jedes Pathos entbehrende und doch so eindringliche Darstellung des Thukydides
führt uns das ganze furchtbare Drama, das hier vor Syrakus die Macht
Athens und damit die stärkste Säule der griechischen Freiheit für immer zer¬
brach, also das Schicksal der Hellenen überhaupt entschied, mit so erschütternder
Klarheit vor Augen, als Hütten wir es selbst erlebt.

Die schon heiß brennende Sonne und ein unleugbares Hungergefühl
nötigten uns in die Gegenwart zurück und empfahlen uns die nähere Unter¬
suchung eines umfänglichen Frühstückskorbes, den uns Signora Politi fürsorglich
mitgegeben hatte. Im Schatten einer Gartenmauer verschwand sein Inhalt,
einschließlich einer Flasche feurigen roten Syrakusaners, nicht ohne Salvatvres
Hilfe ziemlich schnell, und wir traten auf derselben Straße die Rückfahrt an,
um noch die Inselstaat zu besuchen. Dabei kamen wir ganz in der Nähe des
Bahnhofs auch an dem sogenannten Gymnasium vorüber, wahrscheinlich einer
umfänglichen Thermenanlage mit einem Theater und Turnplätzen aus römischer
Zeit. Der Zugang zur Insel führt heute nicht mehr über eine einzige enge
Brücke, wie im Altertum, sondern über die Reste der starken Festungswerke
aus der Zeit Karls V., deren Linien an den Umrissen der drei hintereinander-
folgcnden breiten Gräben und Kanäle noch kenntlich sind. In der Nähe haben
sich ansehnliche Reste der alten Schiffshäuser gefunden, und auf der Stelle der
modernen Festung erhob sich im Altertum, den Zugang zur Ortygin sperrend
und die Verbindung zwischen beiden Häfen beherrschend, die Burg des Dionysios,
in so engem Zusammenhange mit Arsenal und Kriegshafen, wie jetzt etwa das
königliche Schloß in Neapel.

Die ovalgeformte Felsplatte der Ortygia erhebt sich höchstens 17 bis
19 Meter über der Meeresflüche, füllt aber mit steilen Rändern ab, die noch
größtenteils die alte Umfassungsmauer tragen. Da sie kaum 1,5 Kilometer
in der Lunge und in der größten Breite nur etwa 600 Meter mißt, so haben
sich auf diesem kleinen Raume die Gebunde an engen, winkligen Gassen und
wenigen größern Plützen zusammengedrängt, stattliche Paläste aus der spanischen
Zeit darunter, auffallend durch die besonders schönen Marmorkonsolen der
zahlreichen Balkons und durch prachtvolles barockes Schmiedewerk. Unter dieser
modernen Schicht ist das griechische Altertum fast verschwunden, und vollends
von den zahllosen Kunstwerken dieser Zeit ist nichts mehr an Ort und Stelle.
Was zufällig hier und da zu Tage gekommen ist, hat das kleine, von Paolo
Orsi trefflich geleitete Museum am Domplatze aufgenommen: eine herrliche
Aphrodite, Reliefs, Thouskulpturen, Terrakotten, Münzen u. s. f. Kaum viel
mehr hat sich von Bauresten erhalten. Von dem großen Artemistempel an
der flachen Nordseite sind nur ein paar Stufen und einige kannelierte Säulen¬
stümpfe inmitten eines Hofes übrig. Ein besseres Schicksal hat der Athenetempel
auf der höchsten Stelle der Insel gehabt, denn er ist frühzeitig in die Kirche


Ans Sizilien

den Seeweg nach der Heimat abschnitten und die erschöpften, entmutigten Haufen
zu dem verzweifelten Entschlüsse nötigten, das Anciposthal hinauf einen Ausweg
zu Lande zu suchen, auf dem sie zu Grunde gingen (Herbst 413), Zweitausend¬
dreihundert Jahre sind seit dieser Katastrophe verflossen, aber die schlichte,
jedes Pathos entbehrende und doch so eindringliche Darstellung des Thukydides
führt uns das ganze furchtbare Drama, das hier vor Syrakus die Macht
Athens und damit die stärkste Säule der griechischen Freiheit für immer zer¬
brach, also das Schicksal der Hellenen überhaupt entschied, mit so erschütternder
Klarheit vor Augen, als Hütten wir es selbst erlebt.

Die schon heiß brennende Sonne und ein unleugbares Hungergefühl
nötigten uns in die Gegenwart zurück und empfahlen uns die nähere Unter¬
suchung eines umfänglichen Frühstückskorbes, den uns Signora Politi fürsorglich
mitgegeben hatte. Im Schatten einer Gartenmauer verschwand sein Inhalt,
einschließlich einer Flasche feurigen roten Syrakusaners, nicht ohne Salvatvres
Hilfe ziemlich schnell, und wir traten auf derselben Straße die Rückfahrt an,
um noch die Inselstaat zu besuchen. Dabei kamen wir ganz in der Nähe des
Bahnhofs auch an dem sogenannten Gymnasium vorüber, wahrscheinlich einer
umfänglichen Thermenanlage mit einem Theater und Turnplätzen aus römischer
Zeit. Der Zugang zur Insel führt heute nicht mehr über eine einzige enge
Brücke, wie im Altertum, sondern über die Reste der starken Festungswerke
aus der Zeit Karls V., deren Linien an den Umrissen der drei hintereinander-
folgcnden breiten Gräben und Kanäle noch kenntlich sind. In der Nähe haben
sich ansehnliche Reste der alten Schiffshäuser gefunden, und auf der Stelle der
modernen Festung erhob sich im Altertum, den Zugang zur Ortygin sperrend
und die Verbindung zwischen beiden Häfen beherrschend, die Burg des Dionysios,
in so engem Zusammenhange mit Arsenal und Kriegshafen, wie jetzt etwa das
königliche Schloß in Neapel.

Die ovalgeformte Felsplatte der Ortygia erhebt sich höchstens 17 bis
19 Meter über der Meeresflüche, füllt aber mit steilen Rändern ab, die noch
größtenteils die alte Umfassungsmauer tragen. Da sie kaum 1,5 Kilometer
in der Lunge und in der größten Breite nur etwa 600 Meter mißt, so haben
sich auf diesem kleinen Raume die Gebunde an engen, winkligen Gassen und
wenigen größern Plützen zusammengedrängt, stattliche Paläste aus der spanischen
Zeit darunter, auffallend durch die besonders schönen Marmorkonsolen der
zahlreichen Balkons und durch prachtvolles barockes Schmiedewerk. Unter dieser
modernen Schicht ist das griechische Altertum fast verschwunden, und vollends
von den zahllosen Kunstwerken dieser Zeit ist nichts mehr an Ort und Stelle.
Was zufällig hier und da zu Tage gekommen ist, hat das kleine, von Paolo
Orsi trefflich geleitete Museum am Domplatze aufgenommen: eine herrliche
Aphrodite, Reliefs, Thouskulpturen, Terrakotten, Münzen u. s. f. Kaum viel
mehr hat sich von Bauresten erhalten. Von dem großen Artemistempel an
der flachen Nordseite sind nur ein paar Stufen und einige kannelierte Säulen¬
stümpfe inmitten eines Hofes übrig. Ein besseres Schicksal hat der Athenetempel
auf der höchsten Stelle der Insel gehabt, denn er ist frühzeitig in die Kirche


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[0308] Ans Sizilien den Seeweg nach der Heimat abschnitten und die erschöpften, entmutigten Haufen zu dem verzweifelten Entschlüsse nötigten, das Anciposthal hinauf einen Ausweg zu Lande zu suchen, auf dem sie zu Grunde gingen (Herbst 413), Zweitausend¬ dreihundert Jahre sind seit dieser Katastrophe verflossen, aber die schlichte, jedes Pathos entbehrende und doch so eindringliche Darstellung des Thukydides führt uns das ganze furchtbare Drama, das hier vor Syrakus die Macht Athens und damit die stärkste Säule der griechischen Freiheit für immer zer¬ brach, also das Schicksal der Hellenen überhaupt entschied, mit so erschütternder Klarheit vor Augen, als Hütten wir es selbst erlebt. Die schon heiß brennende Sonne und ein unleugbares Hungergefühl nötigten uns in die Gegenwart zurück und empfahlen uns die nähere Unter¬ suchung eines umfänglichen Frühstückskorbes, den uns Signora Politi fürsorglich mitgegeben hatte. Im Schatten einer Gartenmauer verschwand sein Inhalt, einschließlich einer Flasche feurigen roten Syrakusaners, nicht ohne Salvatvres Hilfe ziemlich schnell, und wir traten auf derselben Straße die Rückfahrt an, um noch die Inselstaat zu besuchen. Dabei kamen wir ganz in der Nähe des Bahnhofs auch an dem sogenannten Gymnasium vorüber, wahrscheinlich einer umfänglichen Thermenanlage mit einem Theater und Turnplätzen aus römischer Zeit. Der Zugang zur Insel führt heute nicht mehr über eine einzige enge Brücke, wie im Altertum, sondern über die Reste der starken Festungswerke aus der Zeit Karls V., deren Linien an den Umrissen der drei hintereinander- folgcnden breiten Gräben und Kanäle noch kenntlich sind. In der Nähe haben sich ansehnliche Reste der alten Schiffshäuser gefunden, und auf der Stelle der modernen Festung erhob sich im Altertum, den Zugang zur Ortygin sperrend und die Verbindung zwischen beiden Häfen beherrschend, die Burg des Dionysios, in so engem Zusammenhange mit Arsenal und Kriegshafen, wie jetzt etwa das königliche Schloß in Neapel. Die ovalgeformte Felsplatte der Ortygia erhebt sich höchstens 17 bis 19 Meter über der Meeresflüche, füllt aber mit steilen Rändern ab, die noch größtenteils die alte Umfassungsmauer tragen. Da sie kaum 1,5 Kilometer in der Lunge und in der größten Breite nur etwa 600 Meter mißt, so haben sich auf diesem kleinen Raume die Gebunde an engen, winkligen Gassen und wenigen größern Plützen zusammengedrängt, stattliche Paläste aus der spanischen Zeit darunter, auffallend durch die besonders schönen Marmorkonsolen der zahlreichen Balkons und durch prachtvolles barockes Schmiedewerk. Unter dieser modernen Schicht ist das griechische Altertum fast verschwunden, und vollends von den zahllosen Kunstwerken dieser Zeit ist nichts mehr an Ort und Stelle. Was zufällig hier und da zu Tage gekommen ist, hat das kleine, von Paolo Orsi trefflich geleitete Museum am Domplatze aufgenommen: eine herrliche Aphrodite, Reliefs, Thouskulpturen, Terrakotten, Münzen u. s. f. Kaum viel mehr hat sich von Bauresten erhalten. Von dem großen Artemistempel an der flachen Nordseite sind nur ein paar Stufen und einige kannelierte Säulen¬ stümpfe inmitten eines Hofes übrig. Ein besseres Schicksal hat der Athenetempel auf der höchsten Stelle der Insel gehabt, denn er ist frühzeitig in die Kirche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/308>, abgerufen am 01.07.2024.