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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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es sicher mit stolzem Bewußtsein fest. Der Gemeinderat von Rom nennt sich
noch heute Senat, setzt das alte 8. ?. H. R- auf jeden Straßenkarren und er¬
nährt am Kapitol ein Wolfspaar; Siena führt als römische Kolonie noch heute
die Wölfin im Wappen.

Diese Erkenntnis von dem Fortleben der antiken Kultur läßt sich nirgends
so wie in Italien gewinnen, und sie wird für uns Deutsche besonders frucht¬
bar sein, weil unsre eigne Entwicklung mehrmals jäh unterbrochen worden ist,
und wir unsrer eignen Vergangenheit lange völlig entfremdet gewesen find.
In Italien sehen wir trotz aller Stürme der Zeiten eine merkwürdig stetige
Entwicklung, sodaß wir hier das Altertum als etwas unmittelbar Fortwirkendes
empfinden,'nicht als eine bloße Masse gelehrter Überlieferungen, die nur zur
Übung Philologischen Scharfsinns gut sind. Wir werden weder den Unsinn
von den "toten Sprachen," noch von dem "Verblassen des Altertums" nach¬
reden -- die altklassische Philologie ist heute wieder eine höchst lebendige Wissen¬
schaft --, sondern wir werden uns vielmehr bemühen, beides in uns und für
unsre Schüler recht lebendig und recht farbenreich zu machen. Andrerseits
werden wir jede unhistorische Idealisierung, die vor der scharfen Kritik unsrer
Zeit nun einmal nicht mehr stand hält, vermeiden, ohne doch die einzige Durch¬
bildung und Größe dieser Kultur zu verkennen, denn jede eindringende Kritik
lehrt uns erst recht verstehn, daß es nirgends und niemals wieder ein Kultur¬
zentrum gegeben hat, wie das hellenische Athen, und niemals wieder ein solches
Herrenvolk, wie der römische xoxnws iinpsiÄtor. Wir erfüllen damit zugleich
eine hohe Pflicht gegen die Zukunft des Vaterlands. Ob die Antike ein
lebendiger Bestandteil unsrer modernen Kultur bleiben soll, das hängt nicht
von den Universitäten ab, sondern von den Gymnasien. Ohne sie würden nicht
nur die Universitätslehrer der Philologie vor leeren Bänken leim, sondern
ihre Wissenschaft würde zu unsrer Bildung in dasselbe entfernte gleichgiltige
Verhältnis treten, wie die Ägyptologie und die Assyriologie. Das zu ver¬
kennen ist Selbsttäuschung oder Hochmut.

Liebe Abiturienten! Ich hoffe, Sie werden Ihrer Nieolaitana das Zeugnis
geben, daß sie Ihnen nicht toten Formelkram vorgeführt hat. sondern leben¬
diges Leben; Sie haben selbst in Ihrer Reifeprüfung vielfach bewiesen, daß
mich Ihnen etwas von diesem Leben des Altertums lebendig und anschaulich
geworden ist. Für weitaus die meisten von Ihnen wird das alles von nun
um zurücktreten; möge es aber immer ein wirksamer Teil Ihrer Bildung bleiben.
Manchem von Ihnen wird es früher oder später vergönnt sein, von der Akro-
Polis aus nach Salamis und den Bergen des Peloponnes hinüberzuschauen
oder von der Trümmerwelt des Palatin auf das ewige Rom, von dem noch
heute das Wort des Horaz gilt, wie zur Zeit des Augustus, ja vielleicht noch
mehr: ^Ins Fol, x"s°8is uiliil urbs Komm Vise-rs rrmws! -- "Größeres sahest
du nicht und wirst nichts Größeres schauen. Hohe Sonne, als Rom!" Mögen
Sie dabei auch dieses Hauses gedenken, in dessen schlichten Räumen Ihnen
zuerst eine Ahnung von der antiken Welt aufgestiegen ist. Dann werden


es sicher mit stolzem Bewußtsein fest. Der Gemeinderat von Rom nennt sich
noch heute Senat, setzt das alte 8. ?. H. R- auf jeden Straßenkarren und er¬
nährt am Kapitol ein Wolfspaar; Siena führt als römische Kolonie noch heute
die Wölfin im Wappen.

Diese Erkenntnis von dem Fortleben der antiken Kultur läßt sich nirgends
so wie in Italien gewinnen, und sie wird für uns Deutsche besonders frucht¬
bar sein, weil unsre eigne Entwicklung mehrmals jäh unterbrochen worden ist,
und wir unsrer eignen Vergangenheit lange völlig entfremdet gewesen find.
In Italien sehen wir trotz aller Stürme der Zeiten eine merkwürdig stetige
Entwicklung, sodaß wir hier das Altertum als etwas unmittelbar Fortwirkendes
empfinden,'nicht als eine bloße Masse gelehrter Überlieferungen, die nur zur
Übung Philologischen Scharfsinns gut sind. Wir werden weder den Unsinn
von den „toten Sprachen," noch von dem „Verblassen des Altertums" nach¬
reden — die altklassische Philologie ist heute wieder eine höchst lebendige Wissen¬
schaft —, sondern wir werden uns vielmehr bemühen, beides in uns und für
unsre Schüler recht lebendig und recht farbenreich zu machen. Andrerseits
werden wir jede unhistorische Idealisierung, die vor der scharfen Kritik unsrer
Zeit nun einmal nicht mehr stand hält, vermeiden, ohne doch die einzige Durch¬
bildung und Größe dieser Kultur zu verkennen, denn jede eindringende Kritik
lehrt uns erst recht verstehn, daß es nirgends und niemals wieder ein Kultur¬
zentrum gegeben hat, wie das hellenische Athen, und niemals wieder ein solches
Herrenvolk, wie der römische xoxnws iinpsiÄtor. Wir erfüllen damit zugleich
eine hohe Pflicht gegen die Zukunft des Vaterlands. Ob die Antike ein
lebendiger Bestandteil unsrer modernen Kultur bleiben soll, das hängt nicht
von den Universitäten ab, sondern von den Gymnasien. Ohne sie würden nicht
nur die Universitätslehrer der Philologie vor leeren Bänken leim, sondern
ihre Wissenschaft würde zu unsrer Bildung in dasselbe entfernte gleichgiltige
Verhältnis treten, wie die Ägyptologie und die Assyriologie. Das zu ver¬
kennen ist Selbsttäuschung oder Hochmut.

Liebe Abiturienten! Ich hoffe, Sie werden Ihrer Nieolaitana das Zeugnis
geben, daß sie Ihnen nicht toten Formelkram vorgeführt hat. sondern leben¬
diges Leben; Sie haben selbst in Ihrer Reifeprüfung vielfach bewiesen, daß
mich Ihnen etwas von diesem Leben des Altertums lebendig und anschaulich
geworden ist. Für weitaus die meisten von Ihnen wird das alles von nun
um zurücktreten; möge es aber immer ein wirksamer Teil Ihrer Bildung bleiben.
Manchem von Ihnen wird es früher oder später vergönnt sein, von der Akro-
Polis aus nach Salamis und den Bergen des Peloponnes hinüberzuschauen
oder von der Trümmerwelt des Palatin auf das ewige Rom, von dem noch
heute das Wort des Horaz gilt, wie zur Zeit des Augustus, ja vielleicht noch
mehr: ^Ins Fol, x»s°8is uiliil urbs Komm Vise-rs rrmws! — „Größeres sahest
du nicht und wirst nichts Größeres schauen. Hohe Sonne, als Rom!" Mögen
Sie dabei auch dieses Hauses gedenken, in dessen schlichten Räumen Ihnen
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/29>, abgerufen am 01.07.2024.