Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.Entwicklung und Fortschritt, Zivilisation und Aultur hat das Original, Der Ausdruck "geoffenbarte Vernunft" ist nun reiner Un¬ Weit schlimmer ist ein zweites Mißverständnis, das von außerordentlich Entwicklung und Fortschritt, Zivilisation und Aultur hat das Original, Der Ausdruck „geoffenbarte Vernunft" ist nun reiner Un¬ Weit schlimmer ist ein zweites Mißverständnis, das von außerordentlich <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0254" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290665"/> <fw type="header" place="top"> Entwicklung und Fortschritt, Zivilisation und Aultur</fw><lb/> <p xml:id="ID_992" prev="#ID_991"> hat das Original, Der Ausdruck „geoffenbarte Vernunft" ist nun reiner Un¬<lb/> sinn; er soll ohne Zweifel sagen, daß das vorxus ^uris ebenso für eine ge¬<lb/> offenbarte Schrift erklärt werde wie die Bibel. Und doch ist der Ausdruck:<lb/> rstio 8oriM, ganz klar und unverfänglich. Die alte Kirche lehrt, daß Gott<lb/> dem Menschen die Vernunft verliehen habe zur Erkenntnis der Wahrheit, und<lb/> daß sie dieser Aufgabe bis zu einem gewissen Grade gewachsen sei; was ihr<lb/> unerreichbar und dennoch zum Wohle der Menschen notwendig sei, habe Gott<lb/> durch Moses, die Propheten, Christus und die Apostel geoffenbart, wobei aus¬<lb/> drücklich bemerkt wird, zwar vermöge die Vernunft das meiste von dem, was<lb/> in der Schrift steht, auch ohne die übernatürliche Offenbarung zu erkennen,<lb/> aber weil Leidenschaft und andre Umstände den vollen und richtigen Gebrauch<lb/> der Vernunft vielfach hinderten, komme ihr Gott durch jene Veranstaltung<lb/> auch bei dem zu Hilfe, was sie eigentlich aus sich selbst zu leisten vermöge.<lb/> Der Ausdruck rsUo soriM sagt also nicht, daß das eorxus ^uri8 eine geoffen¬<lb/> barte Schrift sei, sondern daß die Vernunft in ihm ihre Sache gut gemacht<lb/> habe, und daß es demnach nützlich zu gebrauchen sei. Als Offenbarung Gottes,<lb/> und zwar als die erste und vorzüglichste, wird freilich auch die Vernunft an¬<lb/> erkannt, sie ist eben, als Bestandteil der Schöpfung, eine Offenbarung des<lb/> Schöpferwillens; aber der kirchliche Sprachgebrauch beschränkt den Begriff Offen¬<lb/> barung auf die Kundgebung des Erlöserwillens durch die obengenannten Per¬<lb/> sonen und unterscheidet streng zwischen der Natur, zu der die Vernunft mit<lb/> allen ihren Leistungen gehört, und ihrer Ergänzung, der Offenbarung.</p><lb/> <p xml:id="ID_993" next="#ID_994"> Weit schlimmer ist ein zweites Mißverständnis, das von außerordentlich<lb/> flüchtigem Lesen zeugt. Seite 553 schreibt Chamberlain: „Wie der orthodox<lb/> römisch-katholische Wolfgang Menzel sagt," und Seite 653: „nach dem streng¬<lb/> katholischen Wolfgang Menzel." Jeder litterarisch Gebildete weiß, daß Wolf¬<lb/> gang Menzel zwar den: Katholizismus und den Katholiken gerecht zu werden<lb/> bemüht, aber ein ehrlicher Protestant gewesen ist. Chamberlain hat zwar nur<lb/> Menzels Christliche Symbolik gelesen, die wir leider nicht kennen, aber wir<lb/> kennen seine Hauptwerke, und ohne die Symbolik gelesen zu haben, erklären<lb/> wir es für unmöglich, daß er in dieser Schrift die Leser über die Konfession<lb/> des Verfassers im unklaren gelassen haben sollte. Wir wollen aus seinen<lb/> Lebenserinnerungen, die sein Sohn, der protestantische Theologe Konrad<lb/> Menzel, nach des Vaters Tode 1877 unter dem Titel „Wolfgang Menzels<lb/> Denkwürdigkeiten" herausgegeben hat, ein paar Stellen anführen, aus denen<lb/> die Leser zugleich sehen werden, daß die Grundgedanken Chnmberlains nicht<lb/> so neu sind, wie sie in dem glänzenden neuen Gewände scheinen, das aller¬<lb/> dings des Anglogermanen eigenstes Produkt ist. In dem Abschnitt „Mein<lb/> Verkehr mit Katholiken" (von S. 449 ab) schreibt Menzel: „Die romantische<lb/> Schule war sich selber nicht klar. Sie entlehnte ihren Namen von Rom, da<lb/> sie doch eigentlich nur eine Reaktion des germanischen Geistes und Geschmacks<lb/> gegen den romanischen war. Sie schwärmte für die Gotik, nicht für die Re¬<lb/> naissance. Die ihr verwandten Maler, die sogenannten Nazarener, gingen über<lb/> Rafael bis auf Perugino und Fiesole zurück. Die ihnen verwandten deutschen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0254]
Entwicklung und Fortschritt, Zivilisation und Aultur
hat das Original, Der Ausdruck „geoffenbarte Vernunft" ist nun reiner Un¬
sinn; er soll ohne Zweifel sagen, daß das vorxus ^uris ebenso für eine ge¬
offenbarte Schrift erklärt werde wie die Bibel. Und doch ist der Ausdruck:
rstio 8oriM, ganz klar und unverfänglich. Die alte Kirche lehrt, daß Gott
dem Menschen die Vernunft verliehen habe zur Erkenntnis der Wahrheit, und
daß sie dieser Aufgabe bis zu einem gewissen Grade gewachsen sei; was ihr
unerreichbar und dennoch zum Wohle der Menschen notwendig sei, habe Gott
durch Moses, die Propheten, Christus und die Apostel geoffenbart, wobei aus¬
drücklich bemerkt wird, zwar vermöge die Vernunft das meiste von dem, was
in der Schrift steht, auch ohne die übernatürliche Offenbarung zu erkennen,
aber weil Leidenschaft und andre Umstände den vollen und richtigen Gebrauch
der Vernunft vielfach hinderten, komme ihr Gott durch jene Veranstaltung
auch bei dem zu Hilfe, was sie eigentlich aus sich selbst zu leisten vermöge.
Der Ausdruck rsUo soriM sagt also nicht, daß das eorxus ^uri8 eine geoffen¬
barte Schrift sei, sondern daß die Vernunft in ihm ihre Sache gut gemacht
habe, und daß es demnach nützlich zu gebrauchen sei. Als Offenbarung Gottes,
und zwar als die erste und vorzüglichste, wird freilich auch die Vernunft an¬
erkannt, sie ist eben, als Bestandteil der Schöpfung, eine Offenbarung des
Schöpferwillens; aber der kirchliche Sprachgebrauch beschränkt den Begriff Offen¬
barung auf die Kundgebung des Erlöserwillens durch die obengenannten Per¬
sonen und unterscheidet streng zwischen der Natur, zu der die Vernunft mit
allen ihren Leistungen gehört, und ihrer Ergänzung, der Offenbarung.
Weit schlimmer ist ein zweites Mißverständnis, das von außerordentlich
flüchtigem Lesen zeugt. Seite 553 schreibt Chamberlain: „Wie der orthodox
römisch-katholische Wolfgang Menzel sagt," und Seite 653: „nach dem streng¬
katholischen Wolfgang Menzel." Jeder litterarisch Gebildete weiß, daß Wolf¬
gang Menzel zwar den: Katholizismus und den Katholiken gerecht zu werden
bemüht, aber ein ehrlicher Protestant gewesen ist. Chamberlain hat zwar nur
Menzels Christliche Symbolik gelesen, die wir leider nicht kennen, aber wir
kennen seine Hauptwerke, und ohne die Symbolik gelesen zu haben, erklären
wir es für unmöglich, daß er in dieser Schrift die Leser über die Konfession
des Verfassers im unklaren gelassen haben sollte. Wir wollen aus seinen
Lebenserinnerungen, die sein Sohn, der protestantische Theologe Konrad
Menzel, nach des Vaters Tode 1877 unter dem Titel „Wolfgang Menzels
Denkwürdigkeiten" herausgegeben hat, ein paar Stellen anführen, aus denen
die Leser zugleich sehen werden, daß die Grundgedanken Chnmberlains nicht
so neu sind, wie sie in dem glänzenden neuen Gewände scheinen, das aller¬
dings des Anglogermanen eigenstes Produkt ist. In dem Abschnitt „Mein
Verkehr mit Katholiken" (von S. 449 ab) schreibt Menzel: „Die romantische
Schule war sich selber nicht klar. Sie entlehnte ihren Namen von Rom, da
sie doch eigentlich nur eine Reaktion des germanischen Geistes und Geschmacks
gegen den romanischen war. Sie schwärmte für die Gotik, nicht für die Re¬
naissance. Die ihr verwandten Maler, die sogenannten Nazarener, gingen über
Rafael bis auf Perugino und Fiesole zurück. Die ihnen verwandten deutschen
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