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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Schulreform in Sicht?

scheinig. Das Französische soll als moderne Sprache dem Verständnis des
Schülers näher liegen als das Lateinische. Abgesehen davon, daß man von
diesem Gesichtspunkte aus das Englische als die dem Deutschen noch wesentlich
näher liegende erste fremde Sprache vorziehn müßte, ist der Satz an sich nur
insofern richtig, als das Französische eben modern ist, und seine Sätze oft fast
Wort für Wort ins Deutsche übertragen werden können, während jede lateinische
Form und Satzverbindung strenge Denkarbeit erfordert; aber die Formenlehre
und die Syntax des Französischen sind mindestens ebenso schwierig als im
Lateinischen und fallen heutzutage dem Gymnasialquartaner, der doch schon
zwei Jahre lang Latein getrieben hat, erfahrungsgemäß keineswegs leichter,
sondern eher schwerer als dein Sextaner das Lateinische. Eine besondre
Schwierigkeit bietet außerdem die Abweichung der Aussprache von der Schrift,
die von dem unbefangnen Sinn des Anfängers obendrein als etwas Unnatür¬
liches, Willkürliches empfunden wird. Man kann geradezu sagen: das Fran¬
zösische, das seit 1892 in der Quarta der humanistischen Gymnasien wegen
der Annäherung an die Realgymnasien Hauptfach und also unter Umständen ein
Versetzungshindernis geworden ist, hat die Arbeit des Schülers ganz wesentlich
erschwert und ist für Unbegabtere und nicht leicht Lernende ein Gegenstand
größerer Plage als das Lateinische. Dabei läßt sich kaum sagen, daß sich
die Schlußleistungen in der Oberprima wesentlich gesteigert haben, denn eine
wirkliche praktische Beherrschung der Sprache läßt sich auf der Schule über¬
haupt nicht erreichen; das ist Sache der Übung in französisch sprechender Um¬
gebung, am besten eines Aufenthalts im Lande selbst. Man beruft sich wohl
auf das vielbesprochue Frankfurter Neformgymnasium, das Goethegymnasium,
das diesen lateinlosen Unterbau hat. Ob Goethe selbst eine besondre Freude
darüber empfunden haben würde, daß man gerade diese Schule mit seinem
Namen geschmückt hat, lassen wir dahingestellt; aber nicht entschieden genug
kann betont werden, weil es vergessen oder verkannt wird, daß hier besonders
günstige Umstünde obwalten, die niemals zur Regel werden können: ein aus¬
gesuchtes Lehrerkollegium, das sich in dieser besonders günstigen Zusammen¬
setzung erfahrungsmüßig nicht lange halten kann, weil gerade die tüchtigsten
Leute in höhere Stellungen anderwärts überzugehn pflegen; schwache Klassen
und begabte Schüler vielfach aus solchen Familien, in denen Französisch (oder
Englisch) gesprochen wird. Man denke sich dieses "System" in Schneeberg oder
Kostin, und man wird sehr bald erfahren, daß es damit einfach nicht geht.
Von dem nationalen Bedenken, die sich einer solchen Bevorzugung des Fran¬
zösischen als grundlegender Fremdsprache in unserm mit so geringem National¬
stolze begabten, noch immer so sehr jeder noch so thörichten lind geschmacklosen
Ausländerei zugänglichen Volke entgegenstellen, wollen wir gar nicht erst reden,
sie liegen für jeden Unbefangnen auf der flachen Hand. Ebenso lassen wir
hier die Frage nach dem pädagogischen Werte der französischen Litteratur un-
erörtert, denn sie kommt für den Anfangsunterricht nicht in Betracht.

Nun aber zur Hauptsache! Um gewisser äußerer Vorteile willen, um
der Schüler willen, die sich für den vollen neunjährigen Kursus nicht eignen,


Schulreform in Sicht?

scheinig. Das Französische soll als moderne Sprache dem Verständnis des
Schülers näher liegen als das Lateinische. Abgesehen davon, daß man von
diesem Gesichtspunkte aus das Englische als die dem Deutschen noch wesentlich
näher liegende erste fremde Sprache vorziehn müßte, ist der Satz an sich nur
insofern richtig, als das Französische eben modern ist, und seine Sätze oft fast
Wort für Wort ins Deutsche übertragen werden können, während jede lateinische
Form und Satzverbindung strenge Denkarbeit erfordert; aber die Formenlehre
und die Syntax des Französischen sind mindestens ebenso schwierig als im
Lateinischen und fallen heutzutage dem Gymnasialquartaner, der doch schon
zwei Jahre lang Latein getrieben hat, erfahrungsgemäß keineswegs leichter,
sondern eher schwerer als dein Sextaner das Lateinische. Eine besondre
Schwierigkeit bietet außerdem die Abweichung der Aussprache von der Schrift,
die von dem unbefangnen Sinn des Anfängers obendrein als etwas Unnatür¬
liches, Willkürliches empfunden wird. Man kann geradezu sagen: das Fran¬
zösische, das seit 1892 in der Quarta der humanistischen Gymnasien wegen
der Annäherung an die Realgymnasien Hauptfach und also unter Umständen ein
Versetzungshindernis geworden ist, hat die Arbeit des Schülers ganz wesentlich
erschwert und ist für Unbegabtere und nicht leicht Lernende ein Gegenstand
größerer Plage als das Lateinische. Dabei läßt sich kaum sagen, daß sich
die Schlußleistungen in der Oberprima wesentlich gesteigert haben, denn eine
wirkliche praktische Beherrschung der Sprache läßt sich auf der Schule über¬
haupt nicht erreichen; das ist Sache der Übung in französisch sprechender Um¬
gebung, am besten eines Aufenthalts im Lande selbst. Man beruft sich wohl
auf das vielbesprochue Frankfurter Neformgymnasium, das Goethegymnasium,
das diesen lateinlosen Unterbau hat. Ob Goethe selbst eine besondre Freude
darüber empfunden haben würde, daß man gerade diese Schule mit seinem
Namen geschmückt hat, lassen wir dahingestellt; aber nicht entschieden genug
kann betont werden, weil es vergessen oder verkannt wird, daß hier besonders
günstige Umstünde obwalten, die niemals zur Regel werden können: ein aus¬
gesuchtes Lehrerkollegium, das sich in dieser besonders günstigen Zusammen¬
setzung erfahrungsmüßig nicht lange halten kann, weil gerade die tüchtigsten
Leute in höhere Stellungen anderwärts überzugehn pflegen; schwache Klassen
und begabte Schüler vielfach aus solchen Familien, in denen Französisch (oder
Englisch) gesprochen wird. Man denke sich dieses „System" in Schneeberg oder
Kostin, und man wird sehr bald erfahren, daß es damit einfach nicht geht.
Von dem nationalen Bedenken, die sich einer solchen Bevorzugung des Fran¬
zösischen als grundlegender Fremdsprache in unserm mit so geringem National¬
stolze begabten, noch immer so sehr jeder noch so thörichten lind geschmacklosen
Ausländerei zugänglichen Volke entgegenstellen, wollen wir gar nicht erst reden,
sie liegen für jeden Unbefangnen auf der flachen Hand. Ebenso lassen wir
hier die Frage nach dem pädagogischen Werte der französischen Litteratur un-
erörtert, denn sie kommt für den Anfangsunterricht nicht in Betracht.

Nun aber zur Hauptsache! Um gewisser äußerer Vorteile willen, um
der Schüler willen, die sich für den vollen neunjährigen Kursus nicht eignen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/240>, abgerufen am 03.07.2024.