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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Schulreform in Sicht?

unbesehen mich bei sich einführen würden, dürfte nach den bisherigen Ersah--
rnngen und bei der jetzt dort herrschenden Stimmung um so weniger zu rechnen
sein, als Preußen dnrch den notorischen Mißerfolg seiner "Reform" von 1892
und durch das ewige unsichere Dilettiercn auf diesem Gebiete bei den übrigen
deutschen Uiiterrichtsverwaltungen sein früheres Ansehen völlig eingebüßt hat.
Daß man nur wenigsten in Bayern gewillt ist, sich einer "Schulreform" auf
den erwähnten Grundlagen anzuschließen, haben die jüngsten Verhandlungen
der dortigen zweiten Kammer bewiesen. Und König Albert von Sachsen hat
sicherm Vernehmen nach schon anläßlich der neuen Lehr- und Prüfungsordnung
von 1892 erklärt, weiter werde er in der Beschränkung der klassischen Studien
nicht gehn. So würde man durch den preußischen Partikularismus nur den
mittelstaatlichen Partikularismus herausfordern, und zwar so, daß er als
berechtigt erschiene. Auch wird es wohl nicht ganz zu umgehn sein, die Ver¬
treter der humanistischen Anstalten und der humanistischen Bildung zu Worte
kommen zu lassen; wenigstens sind Reformen z. B. im Heerwesen oder im Justiz¬
wesen bisher niemals ohne Zuziehung von Offizieren oder von Juristen vor¬
genommen worden, und wer verlangt Hütte, daß etwa Juristen über eine
Heeresreform oder Offiziere über eine Justizreform entscheiden sollten, würde
von den direkt Beteiligten als nicht recht zurechnungsfähig behandelt worden
sein. Über eine Schulreform aber glaubt jeder nicht nur mitreden, sondern
anch entscheiden zu können, der einmal selbst die Schulbank gedrückt hat, oder
seine Jungen auf eine höhere Schule schickt, wo etwaige Mißerfolge ge¬
wöhnlich nicht den Herren Söhnen oder den Eltern zur Last fallen, sondern
selbstverständlich den Lehrern oder dein "System." Sollte demnächst etwa
einmal eine neue Heeresreform in Sicht kommen, dann wird man also den
Reservisten und den Unteroffizieren des Veurlaubtcnstcmdes einen wesentlichen
Anteil um der Entscheidung lassen müssen, denn vom Dienst verstehn diese
mindestens ebenso viel wie Gymnasiastenväter vom Gymnasium, das sie, wie
jene die Armee, doch immer mir von der einen Seite sehen.

Doch sehen wir uns die beiden Forderungen etwas näher an! Gegen
ausgedehntere Berechtigungen der Realgymnasien haben wir gar nichts ein¬
zuwenden, denn anch sie sind humanistische Anstalten, wenn ihnen auch die
höchste Stufe der humanistischen Ausbildung, nämlich das Griechische fehlt
und die Lektüre griechischer Klassiker in Übersetzungen nur einen ungenügenden
Ersatz bieten kann. Wir würden sogar die Zulassung der Realgymnasiasten
zum juristischen Studium befürworte", denn es ist nicht abzusehen, warum die
künftigen Juristen das Griechische mehr "brauchen" sollten, als die künftigen
Mediziner, die es mit einer ganz und gar griechischen, international fest¬
stehenden Terminologie zu thun haben, wohlgemerkt, wenn man nun einmal
die Frage nach dem unmittelbar praktischen Werte der gymnasialen Vorbereitung
für ein bestimmtes Fachstudium stellen will. Aber wie stellen sich die Herren
das Verhältnis der Oberrealschulabitnrieuteu zu deu akademischen Studien vor,
die jenseits der modernen Philologie, der Mathematik und der Naturwissen¬
schaften liegen? Was soll ein Dozent der Rechtswisseiischaft, der Medizin, ja


Schulreform in Sicht?

unbesehen mich bei sich einführen würden, dürfte nach den bisherigen Ersah--
rnngen und bei der jetzt dort herrschenden Stimmung um so weniger zu rechnen
sein, als Preußen dnrch den notorischen Mißerfolg seiner „Reform" von 1892
und durch das ewige unsichere Dilettiercn auf diesem Gebiete bei den übrigen
deutschen Uiiterrichtsverwaltungen sein früheres Ansehen völlig eingebüßt hat.
Daß man nur wenigsten in Bayern gewillt ist, sich einer „Schulreform" auf
den erwähnten Grundlagen anzuschließen, haben die jüngsten Verhandlungen
der dortigen zweiten Kammer bewiesen. Und König Albert von Sachsen hat
sicherm Vernehmen nach schon anläßlich der neuen Lehr- und Prüfungsordnung
von 1892 erklärt, weiter werde er in der Beschränkung der klassischen Studien
nicht gehn. So würde man durch den preußischen Partikularismus nur den
mittelstaatlichen Partikularismus herausfordern, und zwar so, daß er als
berechtigt erschiene. Auch wird es wohl nicht ganz zu umgehn sein, die Ver¬
treter der humanistischen Anstalten und der humanistischen Bildung zu Worte
kommen zu lassen; wenigstens sind Reformen z. B. im Heerwesen oder im Justiz¬
wesen bisher niemals ohne Zuziehung von Offizieren oder von Juristen vor¬
genommen worden, und wer verlangt Hütte, daß etwa Juristen über eine
Heeresreform oder Offiziere über eine Justizreform entscheiden sollten, würde
von den direkt Beteiligten als nicht recht zurechnungsfähig behandelt worden
sein. Über eine Schulreform aber glaubt jeder nicht nur mitreden, sondern
anch entscheiden zu können, der einmal selbst die Schulbank gedrückt hat, oder
seine Jungen auf eine höhere Schule schickt, wo etwaige Mißerfolge ge¬
wöhnlich nicht den Herren Söhnen oder den Eltern zur Last fallen, sondern
selbstverständlich den Lehrern oder dein „System." Sollte demnächst etwa
einmal eine neue Heeresreform in Sicht kommen, dann wird man also den
Reservisten und den Unteroffizieren des Veurlaubtcnstcmdes einen wesentlichen
Anteil um der Entscheidung lassen müssen, denn vom Dienst verstehn diese
mindestens ebenso viel wie Gymnasiastenväter vom Gymnasium, das sie, wie
jene die Armee, doch immer mir von der einen Seite sehen.

Doch sehen wir uns die beiden Forderungen etwas näher an! Gegen
ausgedehntere Berechtigungen der Realgymnasien haben wir gar nichts ein¬
zuwenden, denn anch sie sind humanistische Anstalten, wenn ihnen auch die
höchste Stufe der humanistischen Ausbildung, nämlich das Griechische fehlt
und die Lektüre griechischer Klassiker in Übersetzungen nur einen ungenügenden
Ersatz bieten kann. Wir würden sogar die Zulassung der Realgymnasiasten
zum juristischen Studium befürworte», denn es ist nicht abzusehen, warum die
künftigen Juristen das Griechische mehr „brauchen" sollten, als die künftigen
Mediziner, die es mit einer ganz und gar griechischen, international fest¬
stehenden Terminologie zu thun haben, wohlgemerkt, wenn man nun einmal
die Frage nach dem unmittelbar praktischen Werte der gymnasialen Vorbereitung
für ein bestimmtes Fachstudium stellen will. Aber wie stellen sich die Herren
das Verhältnis der Oberrealschulabitnrieuteu zu deu akademischen Studien vor,
die jenseits der modernen Philologie, der Mathematik und der Naturwissen¬
schaften liegen? Was soll ein Dozent der Rechtswisseiischaft, der Medizin, ja


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[0238] Schulreform in Sicht? unbesehen mich bei sich einführen würden, dürfte nach den bisherigen Ersah-- rnngen und bei der jetzt dort herrschenden Stimmung um so weniger zu rechnen sein, als Preußen dnrch den notorischen Mißerfolg seiner „Reform" von 1892 und durch das ewige unsichere Dilettiercn auf diesem Gebiete bei den übrigen deutschen Uiiterrichtsverwaltungen sein früheres Ansehen völlig eingebüßt hat. Daß man nur wenigsten in Bayern gewillt ist, sich einer „Schulreform" auf den erwähnten Grundlagen anzuschließen, haben die jüngsten Verhandlungen der dortigen zweiten Kammer bewiesen. Und König Albert von Sachsen hat sicherm Vernehmen nach schon anläßlich der neuen Lehr- und Prüfungsordnung von 1892 erklärt, weiter werde er in der Beschränkung der klassischen Studien nicht gehn. So würde man durch den preußischen Partikularismus nur den mittelstaatlichen Partikularismus herausfordern, und zwar so, daß er als berechtigt erschiene. Auch wird es wohl nicht ganz zu umgehn sein, die Ver¬ treter der humanistischen Anstalten und der humanistischen Bildung zu Worte kommen zu lassen; wenigstens sind Reformen z. B. im Heerwesen oder im Justiz¬ wesen bisher niemals ohne Zuziehung von Offizieren oder von Juristen vor¬ genommen worden, und wer verlangt Hütte, daß etwa Juristen über eine Heeresreform oder Offiziere über eine Justizreform entscheiden sollten, würde von den direkt Beteiligten als nicht recht zurechnungsfähig behandelt worden sein. Über eine Schulreform aber glaubt jeder nicht nur mitreden, sondern anch entscheiden zu können, der einmal selbst die Schulbank gedrückt hat, oder seine Jungen auf eine höhere Schule schickt, wo etwaige Mißerfolge ge¬ wöhnlich nicht den Herren Söhnen oder den Eltern zur Last fallen, sondern selbstverständlich den Lehrern oder dein „System." Sollte demnächst etwa einmal eine neue Heeresreform in Sicht kommen, dann wird man also den Reservisten und den Unteroffizieren des Veurlaubtcnstcmdes einen wesentlichen Anteil um der Entscheidung lassen müssen, denn vom Dienst verstehn diese mindestens ebenso viel wie Gymnasiastenväter vom Gymnasium, das sie, wie jene die Armee, doch immer mir von der einen Seite sehen. Doch sehen wir uns die beiden Forderungen etwas näher an! Gegen ausgedehntere Berechtigungen der Realgymnasien haben wir gar nichts ein¬ zuwenden, denn anch sie sind humanistische Anstalten, wenn ihnen auch die höchste Stufe der humanistischen Ausbildung, nämlich das Griechische fehlt und die Lektüre griechischer Klassiker in Übersetzungen nur einen ungenügenden Ersatz bieten kann. Wir würden sogar die Zulassung der Realgymnasiasten zum juristischen Studium befürworte», denn es ist nicht abzusehen, warum die künftigen Juristen das Griechische mehr „brauchen" sollten, als die künftigen Mediziner, die es mit einer ganz und gar griechischen, international fest¬ stehenden Terminologie zu thun haben, wohlgemerkt, wenn man nun einmal die Frage nach dem unmittelbar praktischen Werte der gymnasialen Vorbereitung für ein bestimmtes Fachstudium stellen will. Aber wie stellen sich die Herren das Verhältnis der Oberrealschulabitnrieuteu zu deu akademischen Studien vor, die jenseits der modernen Philologie, der Mathematik und der Naturwissen¬ schaften liegen? Was soll ein Dozent der Rechtswisseiischaft, der Medizin, ja

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/238>, abgerufen am 01.07.2024.