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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Wohin gehen wir?

der Kinder zu rücken. Man bemüht sich so überwiegend, in ihnen den Sinn
für das praktisch Nützliche auszubilden, daß man oft seelenlose Arbeitsmaschinen
und "kulturell Gleichgiltigc" macht. Aber unser alter Quell des Idealismus
wird nicht von einem Goldregen verschüttet werden. Auch in England ist die
humanistische Bildung keineswegs tot, sondern nur auf einen engen Kreis be¬
schränkt worden. Gerade dem materiellen Zuge der Zeit gegenüber müssen
wir umso fester an dem Idealismus halten, der in der humanistischen Bildung
wurzelt. Es giebt auch heute noch nichts, was für Vertiefung, Veredelung,
Verfeinerung des menschlichen Geistes wirksamer wäre, als das Versenken in
das Geistesleben des klassischen Altertums. Keine Geschichte von Völkern
oder Staaten, von Männern oder von volkswirtschaftlichen Vorgängen vermag
dem Geist zu bieten, was er in Grammatik und Litteratur von Rom und
Griechenland findet. Indem wir Cäsar oder Plutarch oder Ovid und Sophokles
lesen, lernen wir mehr und tiefer und wahrer das kennen, was man Geschichte
nennt, als aus irgend welchen Lehrbüchern, zwar nicht Geschichte der äußern
Vorgänge, aber Geschichte des geistigen Lebens, wie sie größer nie gewesen ist.
Und hier ist das Ideale. Wer sich lange mit Geschichte befaßt hat -- hat
Voltaire geäußert --, der kann nie mehr seines Lebens recht froh sein. So
spricht die Geschichte aus den Werken des Gelehrten, der sie von außen, von
oben her betrachtet. Aber die Geschichte spricht anders aus den Worten
Homers oder Ciceros oder Horazens oder auch aus dem Kodex Justinians,
diesem Riesenwerk des Menschengeistes, das man nun auch bei uns zu den
Altertümern gelegt hat. Und wenn man heute oft sagen hört, es sei jn doch
zwecklos, die Kinder mit diesen alten Sprachen zu plagen, die sie nachher
doch nicht mehr brauchen könnten, so hat vielleicht diese sogenannte Zweck-
losigkeit selbst ihren besondern Wert, indem in das Gemüt des Knaben ein
Schatz von solchen Vorstellungen niedergelegt wird, die keine Verbindung haben
mit dem unmittelbar und materiell Nützlichen, keinen unmittelbar praktischen
Zweck, Vorstellungen, die den Jüngling, den Mann in das rohere Treiben des
Gelderwerbes hinein begleiten als ein durch Zeit, Denkart und Größe weit vom
Tageslärm abliegendes, ungestört lebendiges Heiligtum. Denn der Mensch
lebt eben nicht von Brot allein, noch weniger von Geld allein, oder sollte
wenigstens nicht davon allein und dafür allein leben. Unsre demokratisierende
und materiell gesinnte Zeit ist der Kunst nicht günstig, die nur in vornehmer
Umgebung gedeiht. Soziale Probleme zu lösen, mit galligen Pessimismus in
dem Elend dieser Welt zu wühlen, nach dem Beifall der Masse zu gieren --
das veredelt die Kunst nicht, und ist doch sehr weit verbreitet. Aber freilich
ist die Kunst leider meist nur zu einer Hälfte das Werk des Künstlers, zur
andern das des Publikums. Isris g, wrre menues der Franzose, wie es sich
für eine Zeit paßt, wo man Apoll von Merkur kaum mehr zu unterscheiden
vermag.

Indem wir uns weiter industriell-kommerziell auswachsen, ist vor der
Hand auf diesem Kulturgebiet nicht viel zu erwarten außer der Möglichkeit,


Wohin gehen wir?

der Kinder zu rücken. Man bemüht sich so überwiegend, in ihnen den Sinn
für das praktisch Nützliche auszubilden, daß man oft seelenlose Arbeitsmaschinen
und „kulturell Gleichgiltigc" macht. Aber unser alter Quell des Idealismus
wird nicht von einem Goldregen verschüttet werden. Auch in England ist die
humanistische Bildung keineswegs tot, sondern nur auf einen engen Kreis be¬
schränkt worden. Gerade dem materiellen Zuge der Zeit gegenüber müssen
wir umso fester an dem Idealismus halten, der in der humanistischen Bildung
wurzelt. Es giebt auch heute noch nichts, was für Vertiefung, Veredelung,
Verfeinerung des menschlichen Geistes wirksamer wäre, als das Versenken in
das Geistesleben des klassischen Altertums. Keine Geschichte von Völkern
oder Staaten, von Männern oder von volkswirtschaftlichen Vorgängen vermag
dem Geist zu bieten, was er in Grammatik und Litteratur von Rom und
Griechenland findet. Indem wir Cäsar oder Plutarch oder Ovid und Sophokles
lesen, lernen wir mehr und tiefer und wahrer das kennen, was man Geschichte
nennt, als aus irgend welchen Lehrbüchern, zwar nicht Geschichte der äußern
Vorgänge, aber Geschichte des geistigen Lebens, wie sie größer nie gewesen ist.
Und hier ist das Ideale. Wer sich lange mit Geschichte befaßt hat — hat
Voltaire geäußert —, der kann nie mehr seines Lebens recht froh sein. So
spricht die Geschichte aus den Werken des Gelehrten, der sie von außen, von
oben her betrachtet. Aber die Geschichte spricht anders aus den Worten
Homers oder Ciceros oder Horazens oder auch aus dem Kodex Justinians,
diesem Riesenwerk des Menschengeistes, das man nun auch bei uns zu den
Altertümern gelegt hat. Und wenn man heute oft sagen hört, es sei jn doch
zwecklos, die Kinder mit diesen alten Sprachen zu plagen, die sie nachher
doch nicht mehr brauchen könnten, so hat vielleicht diese sogenannte Zweck-
losigkeit selbst ihren besondern Wert, indem in das Gemüt des Knaben ein
Schatz von solchen Vorstellungen niedergelegt wird, die keine Verbindung haben
mit dem unmittelbar und materiell Nützlichen, keinen unmittelbar praktischen
Zweck, Vorstellungen, die den Jüngling, den Mann in das rohere Treiben des
Gelderwerbes hinein begleiten als ein durch Zeit, Denkart und Größe weit vom
Tageslärm abliegendes, ungestört lebendiges Heiligtum. Denn der Mensch
lebt eben nicht von Brot allein, noch weniger von Geld allein, oder sollte
wenigstens nicht davon allein und dafür allein leben. Unsre demokratisierende
und materiell gesinnte Zeit ist der Kunst nicht günstig, die nur in vornehmer
Umgebung gedeiht. Soziale Probleme zu lösen, mit galligen Pessimismus in
dem Elend dieser Welt zu wühlen, nach dem Beifall der Masse zu gieren —
das veredelt die Kunst nicht, und ist doch sehr weit verbreitet. Aber freilich
ist die Kunst leider meist nur zu einer Hälfte das Werk des Künstlers, zur
andern das des Publikums. Isris g, wrre menues der Franzose, wie es sich
für eine Zeit paßt, wo man Apoll von Merkur kaum mehr zu unterscheiden
vermag.

Indem wir uns weiter industriell-kommerziell auswachsen, ist vor der
Hand auf diesem Kulturgebiet nicht viel zu erwarten außer der Möglichkeit,


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[0236] Wohin gehen wir? der Kinder zu rücken. Man bemüht sich so überwiegend, in ihnen den Sinn für das praktisch Nützliche auszubilden, daß man oft seelenlose Arbeitsmaschinen und „kulturell Gleichgiltigc" macht. Aber unser alter Quell des Idealismus wird nicht von einem Goldregen verschüttet werden. Auch in England ist die humanistische Bildung keineswegs tot, sondern nur auf einen engen Kreis be¬ schränkt worden. Gerade dem materiellen Zuge der Zeit gegenüber müssen wir umso fester an dem Idealismus halten, der in der humanistischen Bildung wurzelt. Es giebt auch heute noch nichts, was für Vertiefung, Veredelung, Verfeinerung des menschlichen Geistes wirksamer wäre, als das Versenken in das Geistesleben des klassischen Altertums. Keine Geschichte von Völkern oder Staaten, von Männern oder von volkswirtschaftlichen Vorgängen vermag dem Geist zu bieten, was er in Grammatik und Litteratur von Rom und Griechenland findet. Indem wir Cäsar oder Plutarch oder Ovid und Sophokles lesen, lernen wir mehr und tiefer und wahrer das kennen, was man Geschichte nennt, als aus irgend welchen Lehrbüchern, zwar nicht Geschichte der äußern Vorgänge, aber Geschichte des geistigen Lebens, wie sie größer nie gewesen ist. Und hier ist das Ideale. Wer sich lange mit Geschichte befaßt hat — hat Voltaire geäußert —, der kann nie mehr seines Lebens recht froh sein. So spricht die Geschichte aus den Werken des Gelehrten, der sie von außen, von oben her betrachtet. Aber die Geschichte spricht anders aus den Worten Homers oder Ciceros oder Horazens oder auch aus dem Kodex Justinians, diesem Riesenwerk des Menschengeistes, das man nun auch bei uns zu den Altertümern gelegt hat. Und wenn man heute oft sagen hört, es sei jn doch zwecklos, die Kinder mit diesen alten Sprachen zu plagen, die sie nachher doch nicht mehr brauchen könnten, so hat vielleicht diese sogenannte Zweck- losigkeit selbst ihren besondern Wert, indem in das Gemüt des Knaben ein Schatz von solchen Vorstellungen niedergelegt wird, die keine Verbindung haben mit dem unmittelbar und materiell Nützlichen, keinen unmittelbar praktischen Zweck, Vorstellungen, die den Jüngling, den Mann in das rohere Treiben des Gelderwerbes hinein begleiten als ein durch Zeit, Denkart und Größe weit vom Tageslärm abliegendes, ungestört lebendiges Heiligtum. Denn der Mensch lebt eben nicht von Brot allein, noch weniger von Geld allein, oder sollte wenigstens nicht davon allein und dafür allein leben. Unsre demokratisierende und materiell gesinnte Zeit ist der Kunst nicht günstig, die nur in vornehmer Umgebung gedeiht. Soziale Probleme zu lösen, mit galligen Pessimismus in dem Elend dieser Welt zu wühlen, nach dem Beifall der Masse zu gieren — das veredelt die Kunst nicht, und ist doch sehr weit verbreitet. Aber freilich ist die Kunst leider meist nur zu einer Hälfte das Werk des Künstlers, zur andern das des Publikums. Isris g, wrre menues der Franzose, wie es sich für eine Zeit paßt, wo man Apoll von Merkur kaum mehr zu unterscheiden vermag. Indem wir uns weiter industriell-kommerziell auswachsen, ist vor der Hand auf diesem Kulturgebiet nicht viel zu erwarten außer der Möglichkeit,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/236>, abgerufen am 01.07.2024.