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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Wohin gehen wir?

sie dadurch an disziplinierter Kraft gewinnt und sich vor andern Bureau¬
kratie,: auszeichnet, wird sie leicht hinderlich der Ausbildung der persönlichen
und sozialen Kräfte, die der unerschöpfliche Quell der Thatkraft im englischen
Volkscharccktcr sind. Zum Glück werden wir durch die Reichsverfassung vor
der unheilvollen Zentralisation geschützt, unter der Rußland, Frankreich. Italien
leiden. Aber die stolze Erinnerung an die Erfolge der brutalen Kraft läßt
uns heute oft zu schnell und zu leicht an dieses bequemere Mittel auch da
appellieren, wo nur die zähe Arbeit mit den Werkzeugen humaner, selbstthätiger
Volkskraft am Platze wäre.

Vor solcher Überschätzung staatlicher Macht sollten wir uns z. B. hüten
in dem Kampf der Nationalitäten und in dem Kampf der sozialen Interessen.
In beider Hinsicht sind wir zu nervös und könnten von den Engländern lernen,
mich die wildesten Parteiprogramme ruhig gelten zu lassen, solange sie Pro¬
gramme bleiben.

Auf den Kultus der Gewalt folgt bei uns, so scheint es, der Kultus des
Geldes. Wir waren arm und bedürfen des Geldes, um unsre nationale
Stellung zu erhalten, noch mehr um Weltmacht zu werden. Daß wir gelernt
haben, Geld zu erwerben, mag man schon daraus entnehmen, daß man heute
etwa zwei Milliarden Mark vom deutschen Volke für eine Flottenvergrößerung
fordern kann; vor dreißig Jahren wäre ein solcher Gedanke lächerlich gewesen.
Indem nur weiter auf diesem kommerziell-industriellen Wege vorschreiten, werden
wir ohne Zweifel in unsern Volkscharakter etwas von dem harten Egoismus
und dem gefühlsarmen Realismus aufnehmen, den wir bei den Engländern
als Krämergeist schmähen. Und hier sind wir zum Glück in der Lage, der
egoistischen Macht des Geldes die starke Staatsmacht entgegenzustellen. Die
elenden Verhältnisse der untersten Volksklasse in den industriellen Zentren
Englands wären nicht möglich, wenn das englische Volk nicht einen Wider¬
willen dagegen hätte, sich in seine Arbeit und sein soziales Leben vom Staat
viel drein'reden zu lassen. Eine lange freiheitliche Erziehung hat dem Eng¬
länder große persönliche Selbständigkeit verliehen, die wir Deutschen noch in
geringem Grade haben und uns nur durch lange Schulung aneignen werden.
Die sozialen Kämpfe sind deshalb bei den Engländern zwar ebenso heftig wie
bei uns. nehmen aber nicht die staatsfeindliche Richtung wie bei uns und
werden ebenso wenig vom Staat in der teils repressiven, teils vorbeugenden,
mildernden Weise wie in Deutschland beeinflußt. Unsre soziale Gesetzgebung
haben wir vor England voraus, und sie wird dem Egoismus des Geldes gegen¬
über eine Bedeutung haben, die den sittlichen Verlust, womit der Vo kscharakter
bedroht ist. mäßigen wird. Das Kapital wird hoffentlich nicht imstande sem,
seine Macht so rücksichtslos auszunutzen, wie es in England unter der Herr¬
schaft des Manchestertnms möglich war. Wir brauchen eine starke Regierung,
die einen starken Volkscharakter zu erziehn, zu ertragen weiß.

Zu expansiver Politik ist heute jedes große Volk gezwungen, das seine
äußere staatliche wie seine Kultnrstellnng in der Welt erhalten Null. Die


Grenzboten II 1900
Wohin gehen wir?

sie dadurch an disziplinierter Kraft gewinnt und sich vor andern Bureau¬
kratie,: auszeichnet, wird sie leicht hinderlich der Ausbildung der persönlichen
und sozialen Kräfte, die der unerschöpfliche Quell der Thatkraft im englischen
Volkscharccktcr sind. Zum Glück werden wir durch die Reichsverfassung vor
der unheilvollen Zentralisation geschützt, unter der Rußland, Frankreich. Italien
leiden. Aber die stolze Erinnerung an die Erfolge der brutalen Kraft läßt
uns heute oft zu schnell und zu leicht an dieses bequemere Mittel auch da
appellieren, wo nur die zähe Arbeit mit den Werkzeugen humaner, selbstthätiger
Volkskraft am Platze wäre.

Vor solcher Überschätzung staatlicher Macht sollten wir uns z. B. hüten
in dem Kampf der Nationalitäten und in dem Kampf der sozialen Interessen.
In beider Hinsicht sind wir zu nervös und könnten von den Engländern lernen,
mich die wildesten Parteiprogramme ruhig gelten zu lassen, solange sie Pro¬
gramme bleiben.

Auf den Kultus der Gewalt folgt bei uns, so scheint es, der Kultus des
Geldes. Wir waren arm und bedürfen des Geldes, um unsre nationale
Stellung zu erhalten, noch mehr um Weltmacht zu werden. Daß wir gelernt
haben, Geld zu erwerben, mag man schon daraus entnehmen, daß man heute
etwa zwei Milliarden Mark vom deutschen Volke für eine Flottenvergrößerung
fordern kann; vor dreißig Jahren wäre ein solcher Gedanke lächerlich gewesen.
Indem nur weiter auf diesem kommerziell-industriellen Wege vorschreiten, werden
wir ohne Zweifel in unsern Volkscharakter etwas von dem harten Egoismus
und dem gefühlsarmen Realismus aufnehmen, den wir bei den Engländern
als Krämergeist schmähen. Und hier sind wir zum Glück in der Lage, der
egoistischen Macht des Geldes die starke Staatsmacht entgegenzustellen. Die
elenden Verhältnisse der untersten Volksklasse in den industriellen Zentren
Englands wären nicht möglich, wenn das englische Volk nicht einen Wider¬
willen dagegen hätte, sich in seine Arbeit und sein soziales Leben vom Staat
viel drein'reden zu lassen. Eine lange freiheitliche Erziehung hat dem Eng¬
länder große persönliche Selbständigkeit verliehen, die wir Deutschen noch in
geringem Grade haben und uns nur durch lange Schulung aneignen werden.
Die sozialen Kämpfe sind deshalb bei den Engländern zwar ebenso heftig wie
bei uns. nehmen aber nicht die staatsfeindliche Richtung wie bei uns und
werden ebenso wenig vom Staat in der teils repressiven, teils vorbeugenden,
mildernden Weise wie in Deutschland beeinflußt. Unsre soziale Gesetzgebung
haben wir vor England voraus, und sie wird dem Egoismus des Geldes gegen¬
über eine Bedeutung haben, die den sittlichen Verlust, womit der Vo kscharakter
bedroht ist. mäßigen wird. Das Kapital wird hoffentlich nicht imstande sem,
seine Macht so rücksichtslos auszunutzen, wie es in England unter der Herr¬
schaft des Manchestertnms möglich war. Wir brauchen eine starke Regierung,
die einen starken Volkscharakter zu erziehn, zu ertragen weiß.

Zu expansiver Politik ist heute jedes große Volk gezwungen, das seine
äußere staatliche wie seine Kultnrstellnng in der Welt erhalten Null. Die


Grenzboten II 1900
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[0233] Wohin gehen wir? sie dadurch an disziplinierter Kraft gewinnt und sich vor andern Bureau¬ kratie,: auszeichnet, wird sie leicht hinderlich der Ausbildung der persönlichen und sozialen Kräfte, die der unerschöpfliche Quell der Thatkraft im englischen Volkscharccktcr sind. Zum Glück werden wir durch die Reichsverfassung vor der unheilvollen Zentralisation geschützt, unter der Rußland, Frankreich. Italien leiden. Aber die stolze Erinnerung an die Erfolge der brutalen Kraft läßt uns heute oft zu schnell und zu leicht an dieses bequemere Mittel auch da appellieren, wo nur die zähe Arbeit mit den Werkzeugen humaner, selbstthätiger Volkskraft am Platze wäre. Vor solcher Überschätzung staatlicher Macht sollten wir uns z. B. hüten in dem Kampf der Nationalitäten und in dem Kampf der sozialen Interessen. In beider Hinsicht sind wir zu nervös und könnten von den Engländern lernen, mich die wildesten Parteiprogramme ruhig gelten zu lassen, solange sie Pro¬ gramme bleiben. Auf den Kultus der Gewalt folgt bei uns, so scheint es, der Kultus des Geldes. Wir waren arm und bedürfen des Geldes, um unsre nationale Stellung zu erhalten, noch mehr um Weltmacht zu werden. Daß wir gelernt haben, Geld zu erwerben, mag man schon daraus entnehmen, daß man heute etwa zwei Milliarden Mark vom deutschen Volke für eine Flottenvergrößerung fordern kann; vor dreißig Jahren wäre ein solcher Gedanke lächerlich gewesen. Indem nur weiter auf diesem kommerziell-industriellen Wege vorschreiten, werden wir ohne Zweifel in unsern Volkscharakter etwas von dem harten Egoismus und dem gefühlsarmen Realismus aufnehmen, den wir bei den Engländern als Krämergeist schmähen. Und hier sind wir zum Glück in der Lage, der egoistischen Macht des Geldes die starke Staatsmacht entgegenzustellen. Die elenden Verhältnisse der untersten Volksklasse in den industriellen Zentren Englands wären nicht möglich, wenn das englische Volk nicht einen Wider¬ willen dagegen hätte, sich in seine Arbeit und sein soziales Leben vom Staat viel drein'reden zu lassen. Eine lange freiheitliche Erziehung hat dem Eng¬ länder große persönliche Selbständigkeit verliehen, die wir Deutschen noch in geringem Grade haben und uns nur durch lange Schulung aneignen werden. Die sozialen Kämpfe sind deshalb bei den Engländern zwar ebenso heftig wie bei uns. nehmen aber nicht die staatsfeindliche Richtung wie bei uns und werden ebenso wenig vom Staat in der teils repressiven, teils vorbeugenden, mildernden Weise wie in Deutschland beeinflußt. Unsre soziale Gesetzgebung haben wir vor England voraus, und sie wird dem Egoismus des Geldes gegen¬ über eine Bedeutung haben, die den sittlichen Verlust, womit der Vo kscharakter bedroht ist. mäßigen wird. Das Kapital wird hoffentlich nicht imstande sem, seine Macht so rücksichtslos auszunutzen, wie es in England unter der Herr¬ schaft des Manchestertnms möglich war. Wir brauchen eine starke Regierung, die einen starken Volkscharakter zu erziehn, zu ertragen weiß. Zu expansiver Politik ist heute jedes große Volk gezwungen, das seine äußere staatliche wie seine Kultnrstellnng in der Welt erhalten Null. Die Grenzboten II 1900

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/233>, abgerufen am 03.07.2024.