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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Wohin gehen wir?

Rührigkeit dem stürmischen Vorwärtseilen der Volksarbeit kaum mehr nach¬
zukommen vermag.

Es kann nicht ausbleiben, daß der neue Beruf, den der größere Teil
unsers Volks ergriffen hat, auf den Volkscharakter verändernd Einfluß gewinnt.
Und es bedarf keines tiefen Studiums, um zu bemerken, daß schon eine starke
Wirkung eingetreten ist.

Mit welchem Triumph ist der "Übergang zur reinen Geldwirtschaft"
von der herrschenden Theorie überall begrüßt worden! Jetzt sind wir soweit:
Aktie und Kurszettel regieren die Arbeit und den Besitz des Volks. Je reicher
wir werden, um so weitere Schichten des Volks drängen sich heran, an dem
Reichtum ihr Teil zu haben. Wer es nicht hat, sucht den Schein zu erwecken,
als Hütte er es. Man setzt nicht mehr seinen Stolz darein, seinem Stande
anzugehören, sondern darein, Geld zu haben; man sagt nicht mehr: "Ich bin
das," sondern "ich habe das," ein Wertmesser, der bei den Juden längst in
Gebrauch ist; nicht die Person hat den Wert in sich, sondern der Besitz, und
zwar ist der Besitz, der der fungibeln Natur des Geldes am nächsten kommt,
der papierne, der verbreitetste Wertmesser für die Beurteilung von Menschen.
Welcher ethische Niedergang! Der Grundbesitz machte ehedem den Adel; aber
welcher gewaltige Unterschied an sittlicher Kraft und Berechtigung liegt in der
Stellung eines Edelmanns, dessen Gut eine Million wert ist, verglichen mit
der Stellung eines Mannes mit einer Million in Papieren! Und nach Papier,
nicht nach Erde, nach dem Coupon, nicht nach mühseliger aber gesunder Landarbeit
drängt alles. Jeder sucht in Arbeit und Besitz die Entfernung bis zum Gelde
möglichst abzukürzen, dem Gewinn möglichst nahe zu sein, der schaffenden Arbeit
möglichst fern zu bleiben. Wir werden kommerziell und industriell, nicht bloß
im wohlthätigen Sinne der Entfaltung, Stärkung und Verfeinerung unsrer Ar¬
beitskräfte, sondern auch in dem Übeln Sinne der um sich greifenden Geldgier.

Auf diesen Gebieten sind die Engländer unsre Vorbilder, und wir haben
viel von ihnen gelernt; vielleicht weniger, als man in: allgemeinen meint, aber
doch vieles, was sie sich im Laufe einer langen Zeit der Erfahrung an Me¬
thode, an Anpassungssinn, an Zweckmäßigkeit angeeignet haben. Was wir von
ihnen nicht zu lernen brauchen, liegt mehr im Gebiet der Erfindung, der in¬
tellektuellen Schöpfung, der Phantasie, der Idee; denn hierin thun sie sich
vor andern Völkern nicht hervor, sondern stehen hinter einigen zurück. Und
was wir weder von ihnen noch von andern lernen können, sind die Eigen¬
schaften des Charakters, die die Art und den Erfolg der Arbeit eines Volkes
wesentlich bestimmen. "Das englische Volk, sagt Steffen, hat einen National¬
charakter, dessen gute Seiten schwer nachzuahmen sind, während man sich
dessen schlechtere Züge in unsrer Zeit weit leichter aneignen kann." Und es
scheint, als ob wir vieles von diesen schlechtem Zügen für ebenso nachahmens¬
wert halten wie die guten, wenn man überhaupt Charakterseiten nennen will,
was eigentlich nur mehr äußere Besonderheiten sind. Ja, "wie er sich rnnspert
und wie er spuckt," das gucken wir zunächst heute dem Engländer ab und


Wohin gehen wir?

Rührigkeit dem stürmischen Vorwärtseilen der Volksarbeit kaum mehr nach¬
zukommen vermag.

Es kann nicht ausbleiben, daß der neue Beruf, den der größere Teil
unsers Volks ergriffen hat, auf den Volkscharakter verändernd Einfluß gewinnt.
Und es bedarf keines tiefen Studiums, um zu bemerken, daß schon eine starke
Wirkung eingetreten ist.

Mit welchem Triumph ist der „Übergang zur reinen Geldwirtschaft"
von der herrschenden Theorie überall begrüßt worden! Jetzt sind wir soweit:
Aktie und Kurszettel regieren die Arbeit und den Besitz des Volks. Je reicher
wir werden, um so weitere Schichten des Volks drängen sich heran, an dem
Reichtum ihr Teil zu haben. Wer es nicht hat, sucht den Schein zu erwecken,
als Hütte er es. Man setzt nicht mehr seinen Stolz darein, seinem Stande
anzugehören, sondern darein, Geld zu haben; man sagt nicht mehr: „Ich bin
das," sondern „ich habe das," ein Wertmesser, der bei den Juden längst in
Gebrauch ist; nicht die Person hat den Wert in sich, sondern der Besitz, und
zwar ist der Besitz, der der fungibeln Natur des Geldes am nächsten kommt,
der papierne, der verbreitetste Wertmesser für die Beurteilung von Menschen.
Welcher ethische Niedergang! Der Grundbesitz machte ehedem den Adel; aber
welcher gewaltige Unterschied an sittlicher Kraft und Berechtigung liegt in der
Stellung eines Edelmanns, dessen Gut eine Million wert ist, verglichen mit
der Stellung eines Mannes mit einer Million in Papieren! Und nach Papier,
nicht nach Erde, nach dem Coupon, nicht nach mühseliger aber gesunder Landarbeit
drängt alles. Jeder sucht in Arbeit und Besitz die Entfernung bis zum Gelde
möglichst abzukürzen, dem Gewinn möglichst nahe zu sein, der schaffenden Arbeit
möglichst fern zu bleiben. Wir werden kommerziell und industriell, nicht bloß
im wohlthätigen Sinne der Entfaltung, Stärkung und Verfeinerung unsrer Ar¬
beitskräfte, sondern auch in dem Übeln Sinne der um sich greifenden Geldgier.

Auf diesen Gebieten sind die Engländer unsre Vorbilder, und wir haben
viel von ihnen gelernt; vielleicht weniger, als man in: allgemeinen meint, aber
doch vieles, was sie sich im Laufe einer langen Zeit der Erfahrung an Me¬
thode, an Anpassungssinn, an Zweckmäßigkeit angeeignet haben. Was wir von
ihnen nicht zu lernen brauchen, liegt mehr im Gebiet der Erfindung, der in¬
tellektuellen Schöpfung, der Phantasie, der Idee; denn hierin thun sie sich
vor andern Völkern nicht hervor, sondern stehen hinter einigen zurück. Und
was wir weder von ihnen noch von andern lernen können, sind die Eigen¬
schaften des Charakters, die die Art und den Erfolg der Arbeit eines Volkes
wesentlich bestimmen. „Das englische Volk, sagt Steffen, hat einen National¬
charakter, dessen gute Seiten schwer nachzuahmen sind, während man sich
dessen schlechtere Züge in unsrer Zeit weit leichter aneignen kann." Und es
scheint, als ob wir vieles von diesen schlechtem Zügen für ebenso nachahmens¬
wert halten wie die guten, wenn man überhaupt Charakterseiten nennen will,
was eigentlich nur mehr äußere Besonderheiten sind. Ja, „wie er sich rnnspert
und wie er spuckt," das gucken wir zunächst heute dem Engländer ab und


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[0230] Wohin gehen wir? Rührigkeit dem stürmischen Vorwärtseilen der Volksarbeit kaum mehr nach¬ zukommen vermag. Es kann nicht ausbleiben, daß der neue Beruf, den der größere Teil unsers Volks ergriffen hat, auf den Volkscharakter verändernd Einfluß gewinnt. Und es bedarf keines tiefen Studiums, um zu bemerken, daß schon eine starke Wirkung eingetreten ist. Mit welchem Triumph ist der „Übergang zur reinen Geldwirtschaft" von der herrschenden Theorie überall begrüßt worden! Jetzt sind wir soweit: Aktie und Kurszettel regieren die Arbeit und den Besitz des Volks. Je reicher wir werden, um so weitere Schichten des Volks drängen sich heran, an dem Reichtum ihr Teil zu haben. Wer es nicht hat, sucht den Schein zu erwecken, als Hütte er es. Man setzt nicht mehr seinen Stolz darein, seinem Stande anzugehören, sondern darein, Geld zu haben; man sagt nicht mehr: „Ich bin das," sondern „ich habe das," ein Wertmesser, der bei den Juden längst in Gebrauch ist; nicht die Person hat den Wert in sich, sondern der Besitz, und zwar ist der Besitz, der der fungibeln Natur des Geldes am nächsten kommt, der papierne, der verbreitetste Wertmesser für die Beurteilung von Menschen. Welcher ethische Niedergang! Der Grundbesitz machte ehedem den Adel; aber welcher gewaltige Unterschied an sittlicher Kraft und Berechtigung liegt in der Stellung eines Edelmanns, dessen Gut eine Million wert ist, verglichen mit der Stellung eines Mannes mit einer Million in Papieren! Und nach Papier, nicht nach Erde, nach dem Coupon, nicht nach mühseliger aber gesunder Landarbeit drängt alles. Jeder sucht in Arbeit und Besitz die Entfernung bis zum Gelde möglichst abzukürzen, dem Gewinn möglichst nahe zu sein, der schaffenden Arbeit möglichst fern zu bleiben. Wir werden kommerziell und industriell, nicht bloß im wohlthätigen Sinne der Entfaltung, Stärkung und Verfeinerung unsrer Ar¬ beitskräfte, sondern auch in dem Übeln Sinne der um sich greifenden Geldgier. Auf diesen Gebieten sind die Engländer unsre Vorbilder, und wir haben viel von ihnen gelernt; vielleicht weniger, als man in: allgemeinen meint, aber doch vieles, was sie sich im Laufe einer langen Zeit der Erfahrung an Me¬ thode, an Anpassungssinn, an Zweckmäßigkeit angeeignet haben. Was wir von ihnen nicht zu lernen brauchen, liegt mehr im Gebiet der Erfindung, der in¬ tellektuellen Schöpfung, der Phantasie, der Idee; denn hierin thun sie sich vor andern Völkern nicht hervor, sondern stehen hinter einigen zurück. Und was wir weder von ihnen noch von andern lernen können, sind die Eigen¬ schaften des Charakters, die die Art und den Erfolg der Arbeit eines Volkes wesentlich bestimmen. „Das englische Volk, sagt Steffen, hat einen National¬ charakter, dessen gute Seiten schwer nachzuahmen sind, während man sich dessen schlechtere Züge in unsrer Zeit weit leichter aneignen kann." Und es scheint, als ob wir vieles von diesen schlechtem Zügen für ebenso nachahmens¬ wert halten wie die guten, wenn man überhaupt Charakterseiten nennen will, was eigentlich nur mehr äußere Besonderheiten sind. Ja, „wie er sich rnnspert und wie er spuckt," das gucken wir zunächst heute dem Engländer ab und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/230>, abgerufen am 01.07.2024.