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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Wohin gehen wir?

lischen Staatsmänner sind alle mehr oder weniger von kaufmännischen Geist
durchdrungen, das kommerzielle Interesse steht längst an der Spitze der eng¬
lischen Regiernngsinteressen, und für die Leiter im Kabinett wie im Parlament
sind die Kolonien kommerzielle und gewerbliche Unternehmungen, die fast aus¬
schließlich in diesem Sinne und sehr wenig in dem Geiste zivilisierender Er¬
ziehung niedrer Völker geleitet werden. Noch jüngst, nach der Befreiung von
Kimberley, hat Cecil Rhodes die englische Flagge als "das größte kommerzielle
Palladium" bezeichnet.

So wurde und wird der kaufmännisch harte Volkscharakter des Eng¬
länders durch die Kolonien in einer Richtung ausgebildet, die ihn vou deu
Prinzipien eiuer humanen Zivilisation entfernen. Und es liegt viel Ironie
darin, wenn Fürst Bismarck gerade die Engländer beschuldigt, "die Redens¬
arten vou Humanität und Zivilisation" bei uns zu importieren.*) Es sind
das bei uns zum Glück nicht bloße Redensarten, aber in England freilich ge¬
hören diese Begriffe zu dem etwas verünßerlichtcn Moralkultns, mit dem die
Engländer vor andern und auch vor sich selbst gern die Wirklichkeit verhüllen.
Und wo es nicht Heuchelei bei ihnen ist, da liegt es an der englischen Auf¬
fassung von Zivilisation, die weit materieller ist, als bei den Völkern des
Kontinents. Selbst ein Mann wie Charles Dille, der an der Spitze des
föderierten größern Britanniens schreitend Deutschland und Frankreich im zwan¬
zigsten Jahrhundert zur Bedeutungslosigkeit hinabsinken sieht,**) gesteht, "daß
die öffentliche Meinung (d. h. in England) schlaffer geworden ist, und zwar
ebenso bezüglich der eigentlichen Einrichtung der Sklaverei, wie bezüglich der
unorganisierten Form von Brutalität, die im Grunde schlimmer ist als die
planmäßige Sklaverei." ***) Und noch weit schärfer und allgemeiner drückte sich
schon vor 1853 ein berühmter englischer Kanzelredner, Robertson, in seinen
"Religiösen Reden" aus: "Bei andern Nationen ist der Erwerbstrieb unmäßig,
ja krankhaft zu nennen, so bei uns Engländern. Dieses Trachten nach Besitz
ist die Quelle unsrer Größe und unsrer Erniedrigung, unsers Ruhms und
unsrer großen Schmach; es ist die Ursache unsers Handels, unsrer Seemacht,
unsers ungeheuern Reichtums, unsrer Erfindungen, zugleich auch die Quelle
unsrer Streitigkeiten und Parteiungen, unsers schmachvollen Pauperismus, und
der schlimmer als heidnischen Verwilderung und Entartung der großen Massen
unsrer Bevölkerung. Was aber noch besonders merkwürdig ist, ist die That¬
sache, daß es uuter allen Völkern der Erde keins giebt, das so wenig imstande
ist, sich zu freuen, wie wir. Die feinere Organisation, die andre Völker aus¬
zeichnet, ist uns versagt; unser Sinn für Musik ist wenig entwickelt, unser
Schönheitssinn nicht lebendig und scharf; unsre Feste sind laut und lärmend
und enden mit Langweile und Verstimmung. Wir verstehn uns nicht zu
freuen, zu genießen; wir bedürfen vor allem der Arbeit, dieser Grundbedingung





^) Gedanken und Erinnerungen I l. S. 110.
**) vu. vilks, "M-'int- cet 6i'oarvr IZriwin, S. I.
S. Steffen a. a. O. S. 47.
Wohin gehen wir?

lischen Staatsmänner sind alle mehr oder weniger von kaufmännischen Geist
durchdrungen, das kommerzielle Interesse steht längst an der Spitze der eng¬
lischen Regiernngsinteressen, und für die Leiter im Kabinett wie im Parlament
sind die Kolonien kommerzielle und gewerbliche Unternehmungen, die fast aus¬
schließlich in diesem Sinne und sehr wenig in dem Geiste zivilisierender Er¬
ziehung niedrer Völker geleitet werden. Noch jüngst, nach der Befreiung von
Kimberley, hat Cecil Rhodes die englische Flagge als „das größte kommerzielle
Palladium" bezeichnet.

So wurde und wird der kaufmännisch harte Volkscharakter des Eng¬
länders durch die Kolonien in einer Richtung ausgebildet, die ihn vou deu
Prinzipien eiuer humanen Zivilisation entfernen. Und es liegt viel Ironie
darin, wenn Fürst Bismarck gerade die Engländer beschuldigt, „die Redens¬
arten vou Humanität und Zivilisation" bei uns zu importieren.*) Es sind
das bei uns zum Glück nicht bloße Redensarten, aber in England freilich ge¬
hören diese Begriffe zu dem etwas verünßerlichtcn Moralkultns, mit dem die
Engländer vor andern und auch vor sich selbst gern die Wirklichkeit verhüllen.
Und wo es nicht Heuchelei bei ihnen ist, da liegt es an der englischen Auf¬
fassung von Zivilisation, die weit materieller ist, als bei den Völkern des
Kontinents. Selbst ein Mann wie Charles Dille, der an der Spitze des
föderierten größern Britanniens schreitend Deutschland und Frankreich im zwan¬
zigsten Jahrhundert zur Bedeutungslosigkeit hinabsinken sieht,**) gesteht, „daß
die öffentliche Meinung (d. h. in England) schlaffer geworden ist, und zwar
ebenso bezüglich der eigentlichen Einrichtung der Sklaverei, wie bezüglich der
unorganisierten Form von Brutalität, die im Grunde schlimmer ist als die
planmäßige Sklaverei." ***) Und noch weit schärfer und allgemeiner drückte sich
schon vor 1853 ein berühmter englischer Kanzelredner, Robertson, in seinen
„Religiösen Reden" aus: „Bei andern Nationen ist der Erwerbstrieb unmäßig,
ja krankhaft zu nennen, so bei uns Engländern. Dieses Trachten nach Besitz
ist die Quelle unsrer Größe und unsrer Erniedrigung, unsers Ruhms und
unsrer großen Schmach; es ist die Ursache unsers Handels, unsrer Seemacht,
unsers ungeheuern Reichtums, unsrer Erfindungen, zugleich auch die Quelle
unsrer Streitigkeiten und Parteiungen, unsers schmachvollen Pauperismus, und
der schlimmer als heidnischen Verwilderung und Entartung der großen Massen
unsrer Bevölkerung. Was aber noch besonders merkwürdig ist, ist die That¬
sache, daß es uuter allen Völkern der Erde keins giebt, das so wenig imstande
ist, sich zu freuen, wie wir. Die feinere Organisation, die andre Völker aus¬
zeichnet, ist uns versagt; unser Sinn für Musik ist wenig entwickelt, unser
Schönheitssinn nicht lebendig und scharf; unsre Feste sind laut und lärmend
und enden mit Langweile und Verstimmung. Wir verstehn uns nicht zu
freuen, zu genießen; wir bedürfen vor allem der Arbeit, dieser Grundbedingung





^) Gedanken und Erinnerungen I l. S. 110.
**) vu. vilks, »M-'int- cet 6i'oarvr IZriwin, S. I.
S. Steffen a. a. O. S. 47.
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[0228] Wohin gehen wir? lischen Staatsmänner sind alle mehr oder weniger von kaufmännischen Geist durchdrungen, das kommerzielle Interesse steht längst an der Spitze der eng¬ lischen Regiernngsinteressen, und für die Leiter im Kabinett wie im Parlament sind die Kolonien kommerzielle und gewerbliche Unternehmungen, die fast aus¬ schließlich in diesem Sinne und sehr wenig in dem Geiste zivilisierender Er¬ ziehung niedrer Völker geleitet werden. Noch jüngst, nach der Befreiung von Kimberley, hat Cecil Rhodes die englische Flagge als „das größte kommerzielle Palladium" bezeichnet. So wurde und wird der kaufmännisch harte Volkscharakter des Eng¬ länders durch die Kolonien in einer Richtung ausgebildet, die ihn vou deu Prinzipien eiuer humanen Zivilisation entfernen. Und es liegt viel Ironie darin, wenn Fürst Bismarck gerade die Engländer beschuldigt, „die Redens¬ arten vou Humanität und Zivilisation" bei uns zu importieren.*) Es sind das bei uns zum Glück nicht bloße Redensarten, aber in England freilich ge¬ hören diese Begriffe zu dem etwas verünßerlichtcn Moralkultns, mit dem die Engländer vor andern und auch vor sich selbst gern die Wirklichkeit verhüllen. Und wo es nicht Heuchelei bei ihnen ist, da liegt es an der englischen Auf¬ fassung von Zivilisation, die weit materieller ist, als bei den Völkern des Kontinents. Selbst ein Mann wie Charles Dille, der an der Spitze des föderierten größern Britanniens schreitend Deutschland und Frankreich im zwan¬ zigsten Jahrhundert zur Bedeutungslosigkeit hinabsinken sieht,**) gesteht, „daß die öffentliche Meinung (d. h. in England) schlaffer geworden ist, und zwar ebenso bezüglich der eigentlichen Einrichtung der Sklaverei, wie bezüglich der unorganisierten Form von Brutalität, die im Grunde schlimmer ist als die planmäßige Sklaverei." ***) Und noch weit schärfer und allgemeiner drückte sich schon vor 1853 ein berühmter englischer Kanzelredner, Robertson, in seinen „Religiösen Reden" aus: „Bei andern Nationen ist der Erwerbstrieb unmäßig, ja krankhaft zu nennen, so bei uns Engländern. Dieses Trachten nach Besitz ist die Quelle unsrer Größe und unsrer Erniedrigung, unsers Ruhms und unsrer großen Schmach; es ist die Ursache unsers Handels, unsrer Seemacht, unsers ungeheuern Reichtums, unsrer Erfindungen, zugleich auch die Quelle unsrer Streitigkeiten und Parteiungen, unsers schmachvollen Pauperismus, und der schlimmer als heidnischen Verwilderung und Entartung der großen Massen unsrer Bevölkerung. Was aber noch besonders merkwürdig ist, ist die That¬ sache, daß es uuter allen Völkern der Erde keins giebt, das so wenig imstande ist, sich zu freuen, wie wir. Die feinere Organisation, die andre Völker aus¬ zeichnet, ist uns versagt; unser Sinn für Musik ist wenig entwickelt, unser Schönheitssinn nicht lebendig und scharf; unsre Feste sind laut und lärmend und enden mit Langweile und Verstimmung. Wir verstehn uns nicht zu freuen, zu genießen; wir bedürfen vor allem der Arbeit, dieser Grundbedingung ^) Gedanken und Erinnerungen I l. S. 110. **) vu. vilks, »M-'int- cet 6i'oarvr IZriwin, S. I. S. Steffen a. a. O. S. 47.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/228>, abgerufen am 01.07.2024.