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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Wohin gehen wir?

Warm der Großindustrie, und die Länder verarmten, weil sie viel kaufen
mußten und wenig verknusen konnten. Es ist nicht der politische, der direkt
gewaltsame Druck, sondern die wirtschaftliche Übermacht Englands, die diesen
Ländern verderblich geworden ist, und die heute z. B. in Ägypten wieder die
eingeborne, von ihren frühern Herrschern doch wahrlich nicht verwöhnte Be¬
völkerung gegen die Engländer aufbringt. "Denn, sagt Hron in dem an¬
geführte" Buche, das englische Gouvernement schont die Sitten und Gebräuche
der Ägypter mit vieler Sorgfalt, und auch die meisten Europäer genießen unter
der englischen Herrschaft ein weit höheres Maß an persönlicher Freiheit, als
in ihren respektiven Vaterländern." Und dennoch klagen alle Eingebornen
über den Druck der englischen Verwaltung und "bitten Gott, er möge sie von
diesem Übel erlösen." Der Engländer fordert von andern immer dasselbe Maß
von Arbeit, das er selbst leistet. Aber so hoch wir den sittlichen Wert der
Arbeit schätzen, so haben wir kein Recht, sie von andern in gleichem Maße zu
fordern. Faulheit und Bedürfnislosigkeit haben auch ihr Recht, trotz aller
fortschreitenden Nationalökonomen und aller englischen Antisklavereigesellschaften.
Mir ist der Serenaden anstimmende Spanier mit malerischer Mantille und einer
Peseta in der Tasche eigentlich lieber, als der taub und blind zur Börse
stürmende Mann der Londoner City. Jener ist, wenn man so sagen darf, der
weit menschlichere Mensch als dieser Sklave der Arbeit und des Geldes. Auch
verachten sie sich gegenseitig sehr gründlich.

Ähnlich wie in Ägypten geht es seit dem Aufhören der Ostindischen
Kompagnie in Indien, wo sich inzwischen eine eigne indische Industrie ent¬
faltet hat. Für den Landbau hat der Engländer weder daheim noch in Indien
viel Interesse übrig; er ist eben zuerst Kaufmann oder Fabrikant, und der
indische Landbauer ist an den Hunger gewöhnt. Das Aussaugen geht auch
ohne äußern Zwang weiter, indem die Produkte des Landbauers dem Gro߬
handel dienend ins Ausland gehn, und indem das Geld aus ländlichen wie
städtischen Gewerben zuletzt in die Hände von Engländern kommt, die es
mit sich nach England nehmen oder dorthin um englische Kapitalisten als
Zinsen oder Dividende schicken. Es ist eben der Krämergeist, der hier wie in
Ägypten regiert. Und dieser Geist ist hart und kalt wie das Metall, das ihn
symbolisiert.

Der weiche Charakter des Inders bleibt nicht ohne Einfluß auf den
Charakter des herrschenden Briten, so wenig als die Roheit des Wilden auf
den englischen Eroberer in Afrika ohne Wirkung bleibt. Das Herrenbewußt¬
sein wird übermüßig gesteigert, der Egoismus verhärtet; der "athletische Cha¬
rakter" entwickelt sich. "Als Eroberer, sagt Steffen, sind die Engländer ty¬
rannisch, eher deshalb, weil sie die Unterjochten zwingen wollen, nach angel¬
sächsischer Weise sich einzurichten und zu leben, als dadurch, daß sie um des
Quülens willen quälten." Indessen haben sie nur zu oft, in Indien, in Neu¬
seeland, in Afrika eine Härte des Eroberers gezeigt, die in Grausamkeit über¬
ging. Auch findet Steffen ganz allgemein in dem Engländer die "Anlage zu


Wohin gehen wir?

Warm der Großindustrie, und die Länder verarmten, weil sie viel kaufen
mußten und wenig verknusen konnten. Es ist nicht der politische, der direkt
gewaltsame Druck, sondern die wirtschaftliche Übermacht Englands, die diesen
Ländern verderblich geworden ist, und die heute z. B. in Ägypten wieder die
eingeborne, von ihren frühern Herrschern doch wahrlich nicht verwöhnte Be¬
völkerung gegen die Engländer aufbringt. „Denn, sagt Hron in dem an¬
geführte» Buche, das englische Gouvernement schont die Sitten und Gebräuche
der Ägypter mit vieler Sorgfalt, und auch die meisten Europäer genießen unter
der englischen Herrschaft ein weit höheres Maß an persönlicher Freiheit, als
in ihren respektiven Vaterländern." Und dennoch klagen alle Eingebornen
über den Druck der englischen Verwaltung und „bitten Gott, er möge sie von
diesem Übel erlösen." Der Engländer fordert von andern immer dasselbe Maß
von Arbeit, das er selbst leistet. Aber so hoch wir den sittlichen Wert der
Arbeit schätzen, so haben wir kein Recht, sie von andern in gleichem Maße zu
fordern. Faulheit und Bedürfnislosigkeit haben auch ihr Recht, trotz aller
fortschreitenden Nationalökonomen und aller englischen Antisklavereigesellschaften.
Mir ist der Serenaden anstimmende Spanier mit malerischer Mantille und einer
Peseta in der Tasche eigentlich lieber, als der taub und blind zur Börse
stürmende Mann der Londoner City. Jener ist, wenn man so sagen darf, der
weit menschlichere Mensch als dieser Sklave der Arbeit und des Geldes. Auch
verachten sie sich gegenseitig sehr gründlich.

Ähnlich wie in Ägypten geht es seit dem Aufhören der Ostindischen
Kompagnie in Indien, wo sich inzwischen eine eigne indische Industrie ent¬
faltet hat. Für den Landbau hat der Engländer weder daheim noch in Indien
viel Interesse übrig; er ist eben zuerst Kaufmann oder Fabrikant, und der
indische Landbauer ist an den Hunger gewöhnt. Das Aussaugen geht auch
ohne äußern Zwang weiter, indem die Produkte des Landbauers dem Gro߬
handel dienend ins Ausland gehn, und indem das Geld aus ländlichen wie
städtischen Gewerben zuletzt in die Hände von Engländern kommt, die es
mit sich nach England nehmen oder dorthin um englische Kapitalisten als
Zinsen oder Dividende schicken. Es ist eben der Krämergeist, der hier wie in
Ägypten regiert. Und dieser Geist ist hart und kalt wie das Metall, das ihn
symbolisiert.

Der weiche Charakter des Inders bleibt nicht ohne Einfluß auf den
Charakter des herrschenden Briten, so wenig als die Roheit des Wilden auf
den englischen Eroberer in Afrika ohne Wirkung bleibt. Das Herrenbewußt¬
sein wird übermüßig gesteigert, der Egoismus verhärtet; der „athletische Cha¬
rakter" entwickelt sich. „Als Eroberer, sagt Steffen, sind die Engländer ty¬
rannisch, eher deshalb, weil sie die Unterjochten zwingen wollen, nach angel¬
sächsischer Weise sich einzurichten und zu leben, als dadurch, daß sie um des
Quülens willen quälten." Indessen haben sie nur zu oft, in Indien, in Neu¬
seeland, in Afrika eine Härte des Eroberers gezeigt, die in Grausamkeit über¬
ging. Auch findet Steffen ganz allgemein in dem Engländer die „Anlage zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/226>, abgerufen am 01.07.2024.