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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Wohin gehen wir?

dreißig Jahren war es der landwirtschaftliche, den ihm die meisten zuwiesen;
heute giebt es wohl noch viele, die mit Bedauern sehen, daß er diesen Beruf
aufgegeben hat, aber wohl nur wenige, die ernstlich hoffen, ihn einmal wieder
auf den alten Weg zurück zu bringen. Die vom Ackerbau lebende Menge ist längst
ein Zahl von der städtischen Bevölkerung überholt worden; wohin man sieht,
schwillt die Industrie an und verschattet die Interessen des Landmanns; trotz der
schnell sich mehrenden Volkszahl gebricht es an Händen. Von Nußland allein
sollen nach russischen Angaben im Jahre 1399 nach Deutschland 80000 Menschen
auf Arbeit gekommen sein, und die Auswandrung nach den Vereinigten Staaten
ist von 200000 auf 20000 im Jahre gesunken, und trotz alledem könnten wir
noch mehr Hände brauchen. Der Wohlstand wächst schnell, die Finanzen sind
blühend, die größere Masse des Volkes ist mit der materiellen Lage zufrieden.
Diese Umstände bieten eine Gewähr dafür, daß wir in der Politik und in der
Volkswirtschaft im ganzen auf dem rechten Wege sind, und daß es unmöglich
ist, diesen Weg zu verlassen ohne große Erschütterungen im gesamten Volks-
orgnnismus. Wir sind zum Jndnstrievolk geworden.

Es ist eine sehr verbreitete Meinung, daß wir nun auf dem zu Größe
und Glanz, auch zu Glück und Zufriedenheit führenden Wege sind. Wir haben
aus England die Lehren einer liberalen Staatskunst geholt und sind eifrig
dabei, von ihnen auch die Kunst zu lernen, wie man reich wird. Mit Staunen
und Neid haben wir seit lange die Anhäufung von Reichtum beobachtet, die
seit den napoleonischen Kriegen der englische Handel und die englische Industrie
zu Wege brachten. Liberalismus, moderner Geist, Thatkraft und Intelligenz
schienen dem Volke vorbehalten zu sein, das sich mit allen den neusten Werk¬
zeugen der Technik ausgerüstet, in den die Welt umspannenden Wettbewerb
der Produktion stürzen und darin feste Stellung erringen würde. Der Fort¬
schritt des Menschengeschlechts, das war in der innersten Meinung der meisten
der englische Fortschritt, der Gelderwerb; und an der Spitze der Kulturvölker
schritt und schreitet das englische Volk. Seit wir merken, daß wir auf dem
Felde des Erwerbs nicht verdammt sind, ewig nur billig und schlecht zu ar¬
beiten, daß wir vielmehr trotz Franzosen und Engländern auch etwas leisten
und uns draußen sehen lassen können, haben wir viele Mitbewerber hinter
uns gelassen und sehen erfreut, wie der Vorsprung Englands immer kleiner
und kleiner wird. Aber lassen wir uns nicht zu sehr durch diese Erfolge
blenden. So berechtigt die Befriedigung ist, mit der wir rund umher den
Wohlstand wachsen, die Städte sich dehnen und verschönen sehen, mit so viel
Stolz wir die Rechnungen von Gelehrten und Regierungen über die Früchte
unsrer Arbeit lesen, so sollten wir nicht vergessen, daß der materielle Erwerb
nur einen Teil der Volksbedttrfnisse befriedigen kann. Wie beim Individuum
so beim Volk können überwiegend materielle Neigungen, überwiegend dem
materiellen Erwerb gewidmete Arbeit den Volkscharakter ungünstig beeinflussen.
Und wenn es richtig ist, daß der heutige englische Volkscharakter wesentlich
durch den kommerziellen Geist, der sich dieses Volks bemächtigt hat, geformt


Wohin gehen wir?

dreißig Jahren war es der landwirtschaftliche, den ihm die meisten zuwiesen;
heute giebt es wohl noch viele, die mit Bedauern sehen, daß er diesen Beruf
aufgegeben hat, aber wohl nur wenige, die ernstlich hoffen, ihn einmal wieder
auf den alten Weg zurück zu bringen. Die vom Ackerbau lebende Menge ist längst
ein Zahl von der städtischen Bevölkerung überholt worden; wohin man sieht,
schwillt die Industrie an und verschattet die Interessen des Landmanns; trotz der
schnell sich mehrenden Volkszahl gebricht es an Händen. Von Nußland allein
sollen nach russischen Angaben im Jahre 1399 nach Deutschland 80000 Menschen
auf Arbeit gekommen sein, und die Auswandrung nach den Vereinigten Staaten
ist von 200000 auf 20000 im Jahre gesunken, und trotz alledem könnten wir
noch mehr Hände brauchen. Der Wohlstand wächst schnell, die Finanzen sind
blühend, die größere Masse des Volkes ist mit der materiellen Lage zufrieden.
Diese Umstände bieten eine Gewähr dafür, daß wir in der Politik und in der
Volkswirtschaft im ganzen auf dem rechten Wege sind, und daß es unmöglich
ist, diesen Weg zu verlassen ohne große Erschütterungen im gesamten Volks-
orgnnismus. Wir sind zum Jndnstrievolk geworden.

Es ist eine sehr verbreitete Meinung, daß wir nun auf dem zu Größe
und Glanz, auch zu Glück und Zufriedenheit führenden Wege sind. Wir haben
aus England die Lehren einer liberalen Staatskunst geholt und sind eifrig
dabei, von ihnen auch die Kunst zu lernen, wie man reich wird. Mit Staunen
und Neid haben wir seit lange die Anhäufung von Reichtum beobachtet, die
seit den napoleonischen Kriegen der englische Handel und die englische Industrie
zu Wege brachten. Liberalismus, moderner Geist, Thatkraft und Intelligenz
schienen dem Volke vorbehalten zu sein, das sich mit allen den neusten Werk¬
zeugen der Technik ausgerüstet, in den die Welt umspannenden Wettbewerb
der Produktion stürzen und darin feste Stellung erringen würde. Der Fort¬
schritt des Menschengeschlechts, das war in der innersten Meinung der meisten
der englische Fortschritt, der Gelderwerb; und an der Spitze der Kulturvölker
schritt und schreitet das englische Volk. Seit wir merken, daß wir auf dem
Felde des Erwerbs nicht verdammt sind, ewig nur billig und schlecht zu ar¬
beiten, daß wir vielmehr trotz Franzosen und Engländern auch etwas leisten
und uns draußen sehen lassen können, haben wir viele Mitbewerber hinter
uns gelassen und sehen erfreut, wie der Vorsprung Englands immer kleiner
und kleiner wird. Aber lassen wir uns nicht zu sehr durch diese Erfolge
blenden. So berechtigt die Befriedigung ist, mit der wir rund umher den
Wohlstand wachsen, die Städte sich dehnen und verschönen sehen, mit so viel
Stolz wir die Rechnungen von Gelehrten und Regierungen über die Früchte
unsrer Arbeit lesen, so sollten wir nicht vergessen, daß der materielle Erwerb
nur einen Teil der Volksbedttrfnisse befriedigen kann. Wie beim Individuum
so beim Volk können überwiegend materielle Neigungen, überwiegend dem
materiellen Erwerb gewidmete Arbeit den Volkscharakter ungünstig beeinflussen.
Und wenn es richtig ist, daß der heutige englische Volkscharakter wesentlich
durch den kommerziellen Geist, der sich dieses Volks bemächtigt hat, geformt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/170>, abgerufen am 01.07.2024.