Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

einmal warm, nicht blos; dem "jämmerlichen Völkerchaos," sondern auch den
naturfrischen und kindlichen Barbarei? hätte seine tiefe Wissenschaft nichts ge¬
nutzt; die brauchten hansbackne Anweisungen für ein hartes Alltagsleben, und
solche hat ihnen Rom durch seine Mönche geliefert. Schließlich hat ja Rom
den Osten auch gar uicht besiegt; dieser hat sich unabhängig gemacht, ist aber
dadurch weder in der Türkei noch in Rußland arisch-metaphysischer geworden.
Dagegen hat es seine Richtigkeit mit dem Gegensatz zwischen dein romanischen
Süden und dem germanischen Norden, sowie daß dieser eigentlich von Anfang
an ein großer .Ketzer gewesen ist und zuletzt die römische Vormundschaft ab¬
geschüttelt hat. Jedoch halten wir mit vielen protestantischen Geschichtschreibern
die vorübergehende Vormundschaft weder für so überflüssig noch für so ver¬
derblich wie Chamberlain und finden, daß dieser trotz seiner ungeheuern Be¬
lesenheit eine vielfach falsche Vorstellung davon hat. So z. V. von dem Ein¬
flüsse des römisch-kanonischen Rechts ans die deutschen Verhältnisse. Schon
oft ist unsern modernen Germanisten entgegengehalten worden, daß vieles von
dem, was sie den? römischen Recht in die Schuhe schiebe", eine ganz natür¬
liche Wirkuug der modernen Wirtschaftsverfassung sei. Während aber die Juristen
autirömischer Richtung den verderblichen Einfluß erst mit der sogenannten
Rezeption des römischen Rechts, etwa vom Jahre 1200 ub, beginnen und
dann vom sechzehnten Jahrhundert ab stärker werden lasse", sieht Chamberlain
die altgermanische Freiheit schon gleich anfangs durch dieses Recht vernichtet
werden. Seite 516 bis 517 schreibt er: "Montesquieu sagt uus, der Germane
sei durch den Verlust seiner Freiheit später Barbar geworden: doch wer raubte
sie ihm? Das Völkcrchcios im Bunde mit ihm selber. Dietrich von Bern
hatte den Titel und die Krone des Imperators von sich gewiesen; er war zu
stolz, mehr sein zu wollen als König der Ostgoten; spätern Germanen dagegen
schillerte der kaiserliche Purpur vor den Augen wie ein zaubergewaltiger Talis¬
man, so ganz waren sie von urgermanischen Vorstellungen geblendet. Denn
inzwischen waren die ^urisoonsnlti des poströmischen Afterrechts gekommen und
hatten den germanischen Fürsten Wunderdinge über königliche Gerechtsame ins
Ohr geflüstert; und die römische Kirche, die die mächtigste Verbreiterin des
justinianischen Rechts war, lehrte, dieses Recht sei ein heiliges, gottgegebnes;
nun trat der Papst hinzu und erklärte sich für den einzigen Herrn aller Kronen,
allein, als Vertreter Christi ans Erden, könne sie verleihen und abnehmen,
und dein servus ssrvorum sei der Kaiser als bloßer rsx ressura untergeordnet.
Wenn aber der Papst die Kronen schenkte oder bestätigte, so war jeder König
fortan König von Gottesguaden, und wenn der Rechtsgelehrte dnrthat, dem
Trüger der Krone sei von Rechts wegen das ganze Land zu eigen, sowie un¬
beschränkte Allmacht über seine Unterthanen, so war die Verwandlung fertig,
und an Stelle des Volks von freien Männern stand nun ein Volk von Knechten.
Das nennt Montesquieu, und nicht mit Unrecht, Barbarei. Die germanischen
Fürsten, die nicht allein aus Herrsch- und Habsucht, sondern auch infolge der
Verwirrung aller Begriffe auf diesen Pakt eingegangen waren, hatten sich un


einmal warm, nicht blos; dem „jämmerlichen Völkerchaos," sondern auch den
naturfrischen und kindlichen Barbarei? hätte seine tiefe Wissenschaft nichts ge¬
nutzt; die brauchten hansbackne Anweisungen für ein hartes Alltagsleben, und
solche hat ihnen Rom durch seine Mönche geliefert. Schließlich hat ja Rom
den Osten auch gar uicht besiegt; dieser hat sich unabhängig gemacht, ist aber
dadurch weder in der Türkei noch in Rußland arisch-metaphysischer geworden.
Dagegen hat es seine Richtigkeit mit dem Gegensatz zwischen dein romanischen
Süden und dem germanischen Norden, sowie daß dieser eigentlich von Anfang
an ein großer .Ketzer gewesen ist und zuletzt die römische Vormundschaft ab¬
geschüttelt hat. Jedoch halten wir mit vielen protestantischen Geschichtschreibern
die vorübergehende Vormundschaft weder für so überflüssig noch für so ver¬
derblich wie Chamberlain und finden, daß dieser trotz seiner ungeheuern Be¬
lesenheit eine vielfach falsche Vorstellung davon hat. So z. V. von dem Ein¬
flüsse des römisch-kanonischen Rechts ans die deutschen Verhältnisse. Schon
oft ist unsern modernen Germanisten entgegengehalten worden, daß vieles von
dem, was sie den? römischen Recht in die Schuhe schiebe», eine ganz natür¬
liche Wirkuug der modernen Wirtschaftsverfassung sei. Während aber die Juristen
autirömischer Richtung den verderblichen Einfluß erst mit der sogenannten
Rezeption des römischen Rechts, etwa vom Jahre 1200 ub, beginnen und
dann vom sechzehnten Jahrhundert ab stärker werden lasse», sieht Chamberlain
die altgermanische Freiheit schon gleich anfangs durch dieses Recht vernichtet
werden. Seite 516 bis 517 schreibt er: „Montesquieu sagt uus, der Germane
sei durch den Verlust seiner Freiheit später Barbar geworden: doch wer raubte
sie ihm? Das Völkcrchcios im Bunde mit ihm selber. Dietrich von Bern
hatte den Titel und die Krone des Imperators von sich gewiesen; er war zu
stolz, mehr sein zu wollen als König der Ostgoten; spätern Germanen dagegen
schillerte der kaiserliche Purpur vor den Augen wie ein zaubergewaltiger Talis¬
man, so ganz waren sie von urgermanischen Vorstellungen geblendet. Denn
inzwischen waren die ^urisoonsnlti des poströmischen Afterrechts gekommen und
hatten den germanischen Fürsten Wunderdinge über königliche Gerechtsame ins
Ohr geflüstert; und die römische Kirche, die die mächtigste Verbreiterin des
justinianischen Rechts war, lehrte, dieses Recht sei ein heiliges, gottgegebnes;
nun trat der Papst hinzu und erklärte sich für den einzigen Herrn aller Kronen,
allein, als Vertreter Christi ans Erden, könne sie verleihen und abnehmen,
und dein servus ssrvorum sei der Kaiser als bloßer rsx ressura untergeordnet.
Wenn aber der Papst die Kronen schenkte oder bestätigte, so war jeder König
fortan König von Gottesguaden, und wenn der Rechtsgelehrte dnrthat, dem
Trüger der Krone sei von Rechts wegen das ganze Land zu eigen, sowie un¬
beschränkte Allmacht über seine Unterthanen, so war die Verwandlung fertig,
und an Stelle des Volks von freien Männern stand nun ein Volk von Knechten.
Das nennt Montesquieu, und nicht mit Unrecht, Barbarei. Die germanischen
Fürsten, die nicht allein aus Herrsch- und Habsucht, sondern auch infolge der
Verwirrung aller Begriffe auf diesen Pakt eingegangen waren, hatten sich un


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0151" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290562"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_698" prev="#ID_697" next="#ID_699"> einmal warm, nicht blos; dem &#x201E;jämmerlichen Völkerchaos," sondern auch den<lb/>
naturfrischen und kindlichen Barbarei? hätte seine tiefe Wissenschaft nichts ge¬<lb/>
nutzt; die brauchten hansbackne Anweisungen für ein hartes Alltagsleben, und<lb/>
solche hat ihnen Rom durch seine Mönche geliefert. Schließlich hat ja Rom<lb/>
den Osten auch gar uicht besiegt; dieser hat sich unabhängig gemacht, ist aber<lb/>
dadurch weder in der Türkei noch in Rußland arisch-metaphysischer geworden.<lb/>
Dagegen hat es seine Richtigkeit mit dem Gegensatz zwischen dein romanischen<lb/>
Süden und dem germanischen Norden, sowie daß dieser eigentlich von Anfang<lb/>
an ein großer .Ketzer gewesen ist und zuletzt die römische Vormundschaft ab¬<lb/>
geschüttelt hat. Jedoch halten wir mit vielen protestantischen Geschichtschreibern<lb/>
die vorübergehende Vormundschaft weder für so überflüssig noch für so ver¬<lb/>
derblich wie Chamberlain und finden, daß dieser trotz seiner ungeheuern Be¬<lb/>
lesenheit eine vielfach falsche Vorstellung davon hat. So z. V. von dem Ein¬<lb/>
flüsse des römisch-kanonischen Rechts ans die deutschen Verhältnisse. Schon<lb/>
oft ist unsern modernen Germanisten entgegengehalten worden, daß vieles von<lb/>
dem, was sie den? römischen Recht in die Schuhe schiebe», eine ganz natür¬<lb/>
liche Wirkuug der modernen Wirtschaftsverfassung sei. Während aber die Juristen<lb/>
autirömischer Richtung den verderblichen Einfluß erst mit der sogenannten<lb/>
Rezeption des römischen Rechts, etwa vom Jahre 1200 ub, beginnen und<lb/>
dann vom sechzehnten Jahrhundert ab stärker werden lasse», sieht Chamberlain<lb/>
die altgermanische Freiheit schon gleich anfangs durch dieses Recht vernichtet<lb/>
werden. Seite 516 bis 517 schreibt er: &#x201E;Montesquieu sagt uus, der Germane<lb/>
sei durch den Verlust seiner Freiheit später Barbar geworden: doch wer raubte<lb/>
sie ihm? Das Völkcrchcios im Bunde mit ihm selber. Dietrich von Bern<lb/>
hatte den Titel und die Krone des Imperators von sich gewiesen; er war zu<lb/>
stolz, mehr sein zu wollen als König der Ostgoten; spätern Germanen dagegen<lb/>
schillerte der kaiserliche Purpur vor den Augen wie ein zaubergewaltiger Talis¬<lb/>
man, so ganz waren sie von urgermanischen Vorstellungen geblendet. Denn<lb/>
inzwischen waren die ^urisoonsnlti des poströmischen Afterrechts gekommen und<lb/>
hatten den germanischen Fürsten Wunderdinge über königliche Gerechtsame ins<lb/>
Ohr geflüstert; und die römische Kirche, die die mächtigste Verbreiterin des<lb/>
justinianischen Rechts war, lehrte, dieses Recht sei ein heiliges, gottgegebnes;<lb/>
nun trat der Papst hinzu und erklärte sich für den einzigen Herrn aller Kronen,<lb/>
allein, als Vertreter Christi ans Erden, könne sie verleihen und abnehmen,<lb/>
und dein servus ssrvorum sei der Kaiser als bloßer rsx ressura untergeordnet.<lb/>
Wenn aber der Papst die Kronen schenkte oder bestätigte, so war jeder König<lb/>
fortan König von Gottesguaden, und wenn der Rechtsgelehrte dnrthat, dem<lb/>
Trüger der Krone sei von Rechts wegen das ganze Land zu eigen, sowie un¬<lb/>
beschränkte Allmacht über seine Unterthanen, so war die Verwandlung fertig,<lb/>
und an Stelle des Volks von freien Männern stand nun ein Volk von Knechten.<lb/>
Das nennt Montesquieu, und nicht mit Unrecht, Barbarei. Die germanischen<lb/>
Fürsten, die nicht allein aus Herrsch- und Habsucht, sondern auch infolge der<lb/>
Verwirrung aller Begriffe auf diesen Pakt eingegangen waren, hatten sich un</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0151] einmal warm, nicht blos; dem „jämmerlichen Völkerchaos," sondern auch den naturfrischen und kindlichen Barbarei? hätte seine tiefe Wissenschaft nichts ge¬ nutzt; die brauchten hansbackne Anweisungen für ein hartes Alltagsleben, und solche hat ihnen Rom durch seine Mönche geliefert. Schließlich hat ja Rom den Osten auch gar uicht besiegt; dieser hat sich unabhängig gemacht, ist aber dadurch weder in der Türkei noch in Rußland arisch-metaphysischer geworden. Dagegen hat es seine Richtigkeit mit dem Gegensatz zwischen dein romanischen Süden und dem germanischen Norden, sowie daß dieser eigentlich von Anfang an ein großer .Ketzer gewesen ist und zuletzt die römische Vormundschaft ab¬ geschüttelt hat. Jedoch halten wir mit vielen protestantischen Geschichtschreibern die vorübergehende Vormundschaft weder für so überflüssig noch für so ver¬ derblich wie Chamberlain und finden, daß dieser trotz seiner ungeheuern Be¬ lesenheit eine vielfach falsche Vorstellung davon hat. So z. V. von dem Ein¬ flüsse des römisch-kanonischen Rechts ans die deutschen Verhältnisse. Schon oft ist unsern modernen Germanisten entgegengehalten worden, daß vieles von dem, was sie den? römischen Recht in die Schuhe schiebe», eine ganz natür¬ liche Wirkuug der modernen Wirtschaftsverfassung sei. Während aber die Juristen autirömischer Richtung den verderblichen Einfluß erst mit der sogenannten Rezeption des römischen Rechts, etwa vom Jahre 1200 ub, beginnen und dann vom sechzehnten Jahrhundert ab stärker werden lasse», sieht Chamberlain die altgermanische Freiheit schon gleich anfangs durch dieses Recht vernichtet werden. Seite 516 bis 517 schreibt er: „Montesquieu sagt uus, der Germane sei durch den Verlust seiner Freiheit später Barbar geworden: doch wer raubte sie ihm? Das Völkcrchcios im Bunde mit ihm selber. Dietrich von Bern hatte den Titel und die Krone des Imperators von sich gewiesen; er war zu stolz, mehr sein zu wollen als König der Ostgoten; spätern Germanen dagegen schillerte der kaiserliche Purpur vor den Augen wie ein zaubergewaltiger Talis¬ man, so ganz waren sie von urgermanischen Vorstellungen geblendet. Denn inzwischen waren die ^urisoonsnlti des poströmischen Afterrechts gekommen und hatten den germanischen Fürsten Wunderdinge über königliche Gerechtsame ins Ohr geflüstert; und die römische Kirche, die die mächtigste Verbreiterin des justinianischen Rechts war, lehrte, dieses Recht sei ein heiliges, gottgegebnes; nun trat der Papst hinzu und erklärte sich für den einzigen Herrn aller Kronen, allein, als Vertreter Christi ans Erden, könne sie verleihen und abnehmen, und dein servus ssrvorum sei der Kaiser als bloßer rsx ressura untergeordnet. Wenn aber der Papst die Kronen schenkte oder bestätigte, so war jeder König fortan König von Gottesguaden, und wenn der Rechtsgelehrte dnrthat, dem Trüger der Krone sei von Rechts wegen das ganze Land zu eigen, sowie un¬ beschränkte Allmacht über seine Unterthanen, so war die Verwandlung fertig, und an Stelle des Volks von freien Männern stand nun ein Volk von Knechten. Das nennt Montesquieu, und nicht mit Unrecht, Barbarei. Die germanischen Fürsten, die nicht allein aus Herrsch- und Habsucht, sondern auch infolge der Verwirrung aller Begriffe auf diesen Pakt eingegangen waren, hatten sich un

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/151
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/151>, abgerufen am 03.07.2024.