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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Vie deutsche weltj'olltik

nötigen, ist jedes Kabinett vor die Lösung eines so schwierigen Problems ge¬
stellt, beiß es sich hüten wird, durch irgend welche übereilten Schritte das
Schicksal des eignen Volkes und vielleicht der Welt herauszufordern. Bei einer
solchen Lage wird die Politik mehr als je zu einer "Kunst des Möglichen,"
wie Bismarck sagte, und die sich privatim, ohne staatsmännische Verant¬
wortlichkeit, mit ihr beschäftige", sollten sich mehr als je hüten, in irgend
einem Gefühlsausbrüche "Fenster einzuwerfen, die die Diplomatie schwer be¬
zahlen muß."

Betrachten wir hier zunächst die Ziele, die die Politik der einzelnen
Staaten im Auge hat, um uns so über die Stellung klar zu werden, die
Deutschland einnehmen muß.

Rußland steht sonderbarerweise in dem Rufe, in seiner Diplomatie un¬
widerstehlich zu sein, und doch hat es bisher keines seiner Ziele erreichen
können, sondern fast immer Niederlagen und Znrückdümmungen erlebt. Peter
der Große hat seinen Nachfolgern die Aufgabe hinterlassen, Rußland die Bahn
zum Meere frei zu machen. Die nicht eisfreien Häfen der baltischen Provinzen
genügten für das gewaltige Hinterland nicht. Die weitern Schritte auf dieser
Bahn brachte Rußland mit Preußen in Berührung. Es mag sein, daß der
Haltung Rußlands im siebenjährigen Kriege und dem Treubruch Alexanders I.
bei Tilsit geheime Wünsche auf die ostpreußischen Häfen zu Grunde lagen.
Die russische Expansionspolitik wandte sich dann dem Südwesten und Süden
zu lind rollte so die Orientfrage auf. Es hat indessen nur Gebietserwerbungen
in Polen und Bessarabien machen können, sein Ziel, der Ausgang nach dem
Mittelmeer, blieb ihm versagt, trotz mehrerer Kriege. Die Periode der Prestige¬
politik Nikolaus des Ersten endete überraschend plötzlich im Krimkrieg und offen¬
barte den Staaten die innere Schwäche dieses ausgedehnten, aber in sich nicht
gefestigten Reichs. Der Versuch, als Hort des Panslawismus einen Druck auf
Osterreich auszuüben und die kleinen Balkanstaaten in ihren nationalen Be¬
strebungen zu unterstützen, hat ebenfalls mit einem Fiasko geendet. Die Türkei
erwies sich als unerwartet widerstandsfähig und ist nur gekräftigt aus diesem
Kampf hervorgegangen. Unter Bismarcks Vermittlung wurde der russische
Übermut auf dem Orientkongreß in Berlin gezügelt und dagegen Österreichs
Stellung auf dem Balkan gestärkt. Über die Dardanellen durfte Rußland uicht
hinaus. Es scheint nun, daß es sich, die derzeitige Aussichtslosigkeit seiner
panslawistischen Bestrebungen einsehend, vorläufig mit Österreich (1897) auf einen
inoäv.8 vivsncll geeinigt hat und die Orient- und Dardanellenfrage hat zurück¬
stellen müssen. In seinen Expansionsbestrebungen ist dann Nußland an der
Grenze des Möglichen entlang weiter nach Osten geglitten und strebt nun
durch Persien dem Meere zu. Neuerdings kommen Meldungen aus Peters¬
burg, die den Schluß zulassen, daß es wieder ein stärkeres Interesse für die
Balkan- und Dardanellenfrage bekunde, und zwar deshalb, weil England um
dieser Stelle jetzt weniger feindliche Neigungen zeigen solle. Sollte sich diese
Nachricht bestätigen, dann hat sich die russische Diplomatie auf den Leim locken


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nötigen, ist jedes Kabinett vor die Lösung eines so schwierigen Problems ge¬
stellt, beiß es sich hüten wird, durch irgend welche übereilten Schritte das
Schicksal des eignen Volkes und vielleicht der Welt herauszufordern. Bei einer
solchen Lage wird die Politik mehr als je zu einer „Kunst des Möglichen,"
wie Bismarck sagte, und die sich privatim, ohne staatsmännische Verant¬
wortlichkeit, mit ihr beschäftige», sollten sich mehr als je hüten, in irgend
einem Gefühlsausbrüche „Fenster einzuwerfen, die die Diplomatie schwer be¬
zahlen muß."

Betrachten wir hier zunächst die Ziele, die die Politik der einzelnen
Staaten im Auge hat, um uns so über die Stellung klar zu werden, die
Deutschland einnehmen muß.

Rußland steht sonderbarerweise in dem Rufe, in seiner Diplomatie un¬
widerstehlich zu sein, und doch hat es bisher keines seiner Ziele erreichen
können, sondern fast immer Niederlagen und Znrückdümmungen erlebt. Peter
der Große hat seinen Nachfolgern die Aufgabe hinterlassen, Rußland die Bahn
zum Meere frei zu machen. Die nicht eisfreien Häfen der baltischen Provinzen
genügten für das gewaltige Hinterland nicht. Die weitern Schritte auf dieser
Bahn brachte Rußland mit Preußen in Berührung. Es mag sein, daß der
Haltung Rußlands im siebenjährigen Kriege und dem Treubruch Alexanders I.
bei Tilsit geheime Wünsche auf die ostpreußischen Häfen zu Grunde lagen.
Die russische Expansionspolitik wandte sich dann dem Südwesten und Süden
zu lind rollte so die Orientfrage auf. Es hat indessen nur Gebietserwerbungen
in Polen und Bessarabien machen können, sein Ziel, der Ausgang nach dem
Mittelmeer, blieb ihm versagt, trotz mehrerer Kriege. Die Periode der Prestige¬
politik Nikolaus des Ersten endete überraschend plötzlich im Krimkrieg und offen¬
barte den Staaten die innere Schwäche dieses ausgedehnten, aber in sich nicht
gefestigten Reichs. Der Versuch, als Hort des Panslawismus einen Druck auf
Osterreich auszuüben und die kleinen Balkanstaaten in ihren nationalen Be¬
strebungen zu unterstützen, hat ebenfalls mit einem Fiasko geendet. Die Türkei
erwies sich als unerwartet widerstandsfähig und ist nur gekräftigt aus diesem
Kampf hervorgegangen. Unter Bismarcks Vermittlung wurde der russische
Übermut auf dem Orientkongreß in Berlin gezügelt und dagegen Österreichs
Stellung auf dem Balkan gestärkt. Über die Dardanellen durfte Rußland uicht
hinaus. Es scheint nun, daß es sich, die derzeitige Aussichtslosigkeit seiner
panslawistischen Bestrebungen einsehend, vorläufig mit Österreich (1897) auf einen
inoäv.8 vivsncll geeinigt hat und die Orient- und Dardanellenfrage hat zurück¬
stellen müssen. In seinen Expansionsbestrebungen ist dann Nußland an der
Grenze des Möglichen entlang weiter nach Osten geglitten und strebt nun
durch Persien dem Meere zu. Neuerdings kommen Meldungen aus Peters¬
burg, die den Schluß zulassen, daß es wieder ein stärkeres Interesse für die
Balkan- und Dardanellenfrage bekunde, und zwar deshalb, weil England um
dieser Stelle jetzt weniger feindliche Neigungen zeigen solle. Sollte sich diese
Nachricht bestätigen, dann hat sich die russische Diplomatie auf den Leim locken


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/128>, abgerufen am 01.07.2024.