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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Religion und Doll in (Lhina

s
giebt in China drei Religionssysteme, nämlich die alte chinesische
Religion, denTaoismus und den Buddhismus. Die alte chinesische
Religion nimmt drei Grundwesen an: den Himmel, die Erde
und den Menschen. Über alles erhebt sich und breitet sich aus
der erhabne Himmel, der Schang-ti oder der obere Kaiser ge¬
nannt wird. Demnächst folgt die Erde, die alles trägt und nährt und daher
als Fürst bezeichnet wird. Die Wechselwirkung von Himmel und Erde bringt
alle Dinge hervor, so auch den Menschen. Als das einzige vernünftige Wesen
in der Welt nimmt er eine Hauptstelle in der Schöpfung ein; der weise Regent
steht dem Schang-ti zur Seite und unterstützt ihn bei der Weltregierung. Diese
Religion kennt keine persönliche Offenbarung, sondern die Ordnung der Natur
und der Hergang der Begebenheiten sind der Ausdruck eines Gesetzes, und
nur durch außerordentliche Phänomene, wie Überschwemmungen, Dürre, Erd¬
beben, giebt der Himmel zu erkennen, daß die Harmonie zwischen den drei
Grundwesen der Welt gestört ist. Der Mensch und namentlich der Kaiser muß
dann durch Opfer den Himmel wieder versöhnen und die Ordnung wieder
herzustellen suchen.

Im Anschluß um diese religiösen Urelemente entwickelte sich ein aus¬
gedehnter Geisterglaube; die ganze Natur erscheint dem Chinesen von Geistern
belebt; man ruft sie an und opfert ihnen, so gut wie dem Himmel und der
Erde. Auch der Mensch dauert nach dem Tode fort; die Geister der ver¬
storbnen Eltern nehmen teil an den Geschicken der Nachkommen, und die
Pietät gegen sie muß auch nach dem Tode durch Verehrung der Ahnen fort¬
gesetzt werden. Über die Vorstellungen, die sich die alten Chinesen von dem
Zustande und der Fortdauer nach dem Tode machten, finden sich mir wenig
und noch dazu sehr unbestimmte Angaben. In den ältern Schriften wird der
Aufenthaltsort der Abgeschiednen unter die Erde verlegt, und dies ist die vor¬
herrschende Meinung geblieben. Die Annahme einer Seelenwanderung findet
sich nirgends, ebenso wenig die einer Vergeltung, einer Belohnung oder Be¬
strafung nach dem. Tode.

Eigentümlich ist dieser Religion, daß sie keinen besondern Priesterstand
hat und darum auch keine Dogmatik. Wir finden keine Theorie der Schöpfung,
höchstens einige schwache Andeutungen über den Ursprung der Dinge bei den
Philosophen, die aber der Volksreligion gänzlich fremd find. Es giebt keine
Götterbilder und keine Mythologie. Beim Ahnenkultus stellt die einfache Tafel




Religion und Doll in (Lhina

s
giebt in China drei Religionssysteme, nämlich die alte chinesische
Religion, denTaoismus und den Buddhismus. Die alte chinesische
Religion nimmt drei Grundwesen an: den Himmel, die Erde
und den Menschen. Über alles erhebt sich und breitet sich aus
der erhabne Himmel, der Schang-ti oder der obere Kaiser ge¬
nannt wird. Demnächst folgt die Erde, die alles trägt und nährt und daher
als Fürst bezeichnet wird. Die Wechselwirkung von Himmel und Erde bringt
alle Dinge hervor, so auch den Menschen. Als das einzige vernünftige Wesen
in der Welt nimmt er eine Hauptstelle in der Schöpfung ein; der weise Regent
steht dem Schang-ti zur Seite und unterstützt ihn bei der Weltregierung. Diese
Religion kennt keine persönliche Offenbarung, sondern die Ordnung der Natur
und der Hergang der Begebenheiten sind der Ausdruck eines Gesetzes, und
nur durch außerordentliche Phänomene, wie Überschwemmungen, Dürre, Erd¬
beben, giebt der Himmel zu erkennen, daß die Harmonie zwischen den drei
Grundwesen der Welt gestört ist. Der Mensch und namentlich der Kaiser muß
dann durch Opfer den Himmel wieder versöhnen und die Ordnung wieder
herzustellen suchen.

Im Anschluß um diese religiösen Urelemente entwickelte sich ein aus¬
gedehnter Geisterglaube; die ganze Natur erscheint dem Chinesen von Geistern
belebt; man ruft sie an und opfert ihnen, so gut wie dem Himmel und der
Erde. Auch der Mensch dauert nach dem Tode fort; die Geister der ver¬
storbnen Eltern nehmen teil an den Geschicken der Nachkommen, und die
Pietät gegen sie muß auch nach dem Tode durch Verehrung der Ahnen fort¬
gesetzt werden. Über die Vorstellungen, die sich die alten Chinesen von dem
Zustande und der Fortdauer nach dem Tode machten, finden sich mir wenig
und noch dazu sehr unbestimmte Angaben. In den ältern Schriften wird der
Aufenthaltsort der Abgeschiednen unter die Erde verlegt, und dies ist die vor¬
herrschende Meinung geblieben. Die Annahme einer Seelenwanderung findet
sich nirgends, ebenso wenig die einer Vergeltung, einer Belohnung oder Be¬
strafung nach dem. Tode.

Eigentümlich ist dieser Religion, daß sie keinen besondern Priesterstand
hat und darum auch keine Dogmatik. Wir finden keine Theorie der Schöpfung,
höchstens einige schwache Andeutungen über den Ursprung der Dinge bei den
Philosophen, die aber der Volksreligion gänzlich fremd find. Es giebt keine
Götterbilder und keine Mythologie. Beim Ahnenkultus stellt die einfache Tafel


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[0092] [Abbildung] Religion und Doll in (Lhina s giebt in China drei Religionssysteme, nämlich die alte chinesische Religion, denTaoismus und den Buddhismus. Die alte chinesische Religion nimmt drei Grundwesen an: den Himmel, die Erde und den Menschen. Über alles erhebt sich und breitet sich aus der erhabne Himmel, der Schang-ti oder der obere Kaiser ge¬ nannt wird. Demnächst folgt die Erde, die alles trägt und nährt und daher als Fürst bezeichnet wird. Die Wechselwirkung von Himmel und Erde bringt alle Dinge hervor, so auch den Menschen. Als das einzige vernünftige Wesen in der Welt nimmt er eine Hauptstelle in der Schöpfung ein; der weise Regent steht dem Schang-ti zur Seite und unterstützt ihn bei der Weltregierung. Diese Religion kennt keine persönliche Offenbarung, sondern die Ordnung der Natur und der Hergang der Begebenheiten sind der Ausdruck eines Gesetzes, und nur durch außerordentliche Phänomene, wie Überschwemmungen, Dürre, Erd¬ beben, giebt der Himmel zu erkennen, daß die Harmonie zwischen den drei Grundwesen der Welt gestört ist. Der Mensch und namentlich der Kaiser muß dann durch Opfer den Himmel wieder versöhnen und die Ordnung wieder herzustellen suchen. Im Anschluß um diese religiösen Urelemente entwickelte sich ein aus¬ gedehnter Geisterglaube; die ganze Natur erscheint dem Chinesen von Geistern belebt; man ruft sie an und opfert ihnen, so gut wie dem Himmel und der Erde. Auch der Mensch dauert nach dem Tode fort; die Geister der ver¬ storbnen Eltern nehmen teil an den Geschicken der Nachkommen, und die Pietät gegen sie muß auch nach dem Tode durch Verehrung der Ahnen fort¬ gesetzt werden. Über die Vorstellungen, die sich die alten Chinesen von dem Zustande und der Fortdauer nach dem Tode machten, finden sich mir wenig und noch dazu sehr unbestimmte Angaben. In den ältern Schriften wird der Aufenthaltsort der Abgeschiednen unter die Erde verlegt, und dies ist die vor¬ herrschende Meinung geblieben. Die Annahme einer Seelenwanderung findet sich nirgends, ebenso wenig die einer Vergeltung, einer Belohnung oder Be¬ strafung nach dem. Tode. Eigentümlich ist dieser Religion, daß sie keinen besondern Priesterstand hat und darum auch keine Dogmatik. Wir finden keine Theorie der Schöpfung, höchstens einige schwache Andeutungen über den Ursprung der Dinge bei den Philosophen, die aber der Volksreligion gänzlich fremd find. Es giebt keine Götterbilder und keine Mythologie. Beim Ahnenkultus stellt die einfache Tafel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/92>, abgerufen am 02.07.2024.