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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Polnische Politik

Staat zu leben. Die Rücksicht auf die Anforderungen wegen der Sprache im
Kriegsdienst kann den Ausschlag nicht geben. Die heillose Fiktion von der
Uniformität der Rechte und Pflichten des Staats gegenüber seinen Unter¬
thanen bringt keinen Nutzen. Die Waffen, mit denen der Pole uns bekämpft,
sind deutsche Waffen; wir haben sie ihm aufgenötigt gegen seinen Willen und
zu unserm Schaden. Hätte Rußland an Förderung in der Kultur das für
seine Polen gethan, was wir für die unsern gethan haben, so wären Lodz,
Sosnvwize usw. heute uicht deutsche, sondern polnische Städte. Hütten wir
unsre Polen nicht so deutsch erzogen, wie wir es gethan haben, so wären die
Städte in Posen und Westpreußen mehr deutsch, und wir würden einer wider¬
wärtigen, für beide Teile vergiftenden Thätigkeit entgehn.

Indem der Verfasser der russische" Schrift auf die Verdeutschung Posens
hinweist, erklärt er, nicht die deutsche Schule habe das zuwege gebracht,
sondern die deutsche Einwnndrung. Und ich meine, er hat Recht. Wenn in
Posen heute uoch die Zustände wie um 1793 bestünden, als das Land in
preußische Hände fiel, oder wenn es dort so aussähe wie in dem heutigen
Galizien, so fänden Einwandrung und Verdeutschung weit geringern Wider¬
stand, weil der Pole bei allem guten Willen nicht die Kraft hätte zum Wider¬
stände. Der nationale Kampf ist sehr viel leichter einem Volk gegenüber, das
74 Prozent Schriftlose*) hat, als einem mit nur 1^ Prozent gegenüber.
Denn unsre Gegner sind nnr die Schriftknndigen, und zwar um so stärkere
Gegner, je bessere Schulen sie durchgemacht haben. Vor zwei Jahren schrieb
ein Mitarbeiter der Grenzboten**): "So schlecht die Schulen, so jämmerlich
die polnisch unterrichtenden Lehrer waren, und so tief die Kultur zur Zeit der
polnischen Unterrichtssprache stand, so gut sind die Schulen, seit sie unter fach¬
männischer Oberleitung stehn, geworden, und so ersichtlich und so hoch hat sich
der Kulturstand unter dein Einfluß der deutschen Schulbildung gehoben." Wir
sind stolz auf diese Leistung und dürfen es sein; aber ob sie klug war, ist eine
andre Frage. Sie hat unsre Kulturkraft, unsre gute Schulverwaltung, unsre
Parteilosigkeit, unser Talent zum Schulmeistern und manches andre dargethan,
aber nicht unsre politische Voraussicht. Hütten wir mehr Scharfblick gehabt,
so hätten wir das Deutschtum gestärkt und das Polentum schwach erhalten,
oder doch feiner Schwäche überlassen, wie es ja selbst wünscht; wir Hütten nach
1848 weniger liberal und mehr politisch fein müssen. Aber auch heute wird
man mir einwenden, eine solche Politik sei unsrer Zeit nicht würdig, verstoße
gegen die Pflicht des Staats, gegen die Kultur, gegen die Humanitüt. Denn
mit Humanitüt ist man bald bei der Hand, um der Politik in den Arm zu
fallen da, wo es ihr schwer ist, human zu sein und zugleich erfolgreich, wie
z. B. in unsern Kolonien. Wo aber bleibt die Humanitüt, wenn man Scharen




*) So giebt der Verfasser die Zahl in Galizien für das Jahr 1862 an; gesunken dürfte
die Zahl seitdem nur um wenig sein.
"Aus unsrer Ostmark," S. 44.
Grenz boten I 1900 10
Polnische Politik

Staat zu leben. Die Rücksicht auf die Anforderungen wegen der Sprache im
Kriegsdienst kann den Ausschlag nicht geben. Die heillose Fiktion von der
Uniformität der Rechte und Pflichten des Staats gegenüber seinen Unter¬
thanen bringt keinen Nutzen. Die Waffen, mit denen der Pole uns bekämpft,
sind deutsche Waffen; wir haben sie ihm aufgenötigt gegen seinen Willen und
zu unserm Schaden. Hätte Rußland an Förderung in der Kultur das für
seine Polen gethan, was wir für die unsern gethan haben, so wären Lodz,
Sosnvwize usw. heute uicht deutsche, sondern polnische Städte. Hütten wir
unsre Polen nicht so deutsch erzogen, wie wir es gethan haben, so wären die
Städte in Posen und Westpreußen mehr deutsch, und wir würden einer wider¬
wärtigen, für beide Teile vergiftenden Thätigkeit entgehn.

Indem der Verfasser der russische« Schrift auf die Verdeutschung Posens
hinweist, erklärt er, nicht die deutsche Schule habe das zuwege gebracht,
sondern die deutsche Einwnndrung. Und ich meine, er hat Recht. Wenn in
Posen heute uoch die Zustände wie um 1793 bestünden, als das Land in
preußische Hände fiel, oder wenn es dort so aussähe wie in dem heutigen
Galizien, so fänden Einwandrung und Verdeutschung weit geringern Wider¬
stand, weil der Pole bei allem guten Willen nicht die Kraft hätte zum Wider¬
stände. Der nationale Kampf ist sehr viel leichter einem Volk gegenüber, das
74 Prozent Schriftlose*) hat, als einem mit nur 1^ Prozent gegenüber.
Denn unsre Gegner sind nnr die Schriftknndigen, und zwar um so stärkere
Gegner, je bessere Schulen sie durchgemacht haben. Vor zwei Jahren schrieb
ein Mitarbeiter der Grenzboten**): „So schlecht die Schulen, so jämmerlich
die polnisch unterrichtenden Lehrer waren, und so tief die Kultur zur Zeit der
polnischen Unterrichtssprache stand, so gut sind die Schulen, seit sie unter fach¬
männischer Oberleitung stehn, geworden, und so ersichtlich und so hoch hat sich
der Kulturstand unter dein Einfluß der deutschen Schulbildung gehoben." Wir
sind stolz auf diese Leistung und dürfen es sein; aber ob sie klug war, ist eine
andre Frage. Sie hat unsre Kulturkraft, unsre gute Schulverwaltung, unsre
Parteilosigkeit, unser Talent zum Schulmeistern und manches andre dargethan,
aber nicht unsre politische Voraussicht. Hütten wir mehr Scharfblick gehabt,
so hätten wir das Deutschtum gestärkt und das Polentum schwach erhalten,
oder doch feiner Schwäche überlassen, wie es ja selbst wünscht; wir Hütten nach
1848 weniger liberal und mehr politisch fein müssen. Aber auch heute wird
man mir einwenden, eine solche Politik sei unsrer Zeit nicht würdig, verstoße
gegen die Pflicht des Staats, gegen die Kultur, gegen die Humanitüt. Denn
mit Humanitüt ist man bald bei der Hand, um der Politik in den Arm zu
fallen da, wo es ihr schwer ist, human zu sein und zugleich erfolgreich, wie
z. B. in unsern Kolonien. Wo aber bleibt die Humanitüt, wenn man Scharen




*) So giebt der Verfasser die Zahl in Galizien für das Jahr 1862 an; gesunken dürfte
die Zahl seitdem nur um wenig sein.
„Aus unsrer Ostmark," S. 44.
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[0081] Polnische Politik Staat zu leben. Die Rücksicht auf die Anforderungen wegen der Sprache im Kriegsdienst kann den Ausschlag nicht geben. Die heillose Fiktion von der Uniformität der Rechte und Pflichten des Staats gegenüber seinen Unter¬ thanen bringt keinen Nutzen. Die Waffen, mit denen der Pole uns bekämpft, sind deutsche Waffen; wir haben sie ihm aufgenötigt gegen seinen Willen und zu unserm Schaden. Hätte Rußland an Förderung in der Kultur das für seine Polen gethan, was wir für die unsern gethan haben, so wären Lodz, Sosnvwize usw. heute uicht deutsche, sondern polnische Städte. Hütten wir unsre Polen nicht so deutsch erzogen, wie wir es gethan haben, so wären die Städte in Posen und Westpreußen mehr deutsch, und wir würden einer wider¬ wärtigen, für beide Teile vergiftenden Thätigkeit entgehn. Indem der Verfasser der russische« Schrift auf die Verdeutschung Posens hinweist, erklärt er, nicht die deutsche Schule habe das zuwege gebracht, sondern die deutsche Einwnndrung. Und ich meine, er hat Recht. Wenn in Posen heute uoch die Zustände wie um 1793 bestünden, als das Land in preußische Hände fiel, oder wenn es dort so aussähe wie in dem heutigen Galizien, so fänden Einwandrung und Verdeutschung weit geringern Wider¬ stand, weil der Pole bei allem guten Willen nicht die Kraft hätte zum Wider¬ stände. Der nationale Kampf ist sehr viel leichter einem Volk gegenüber, das 74 Prozent Schriftlose*) hat, als einem mit nur 1^ Prozent gegenüber. Denn unsre Gegner sind nnr die Schriftknndigen, und zwar um so stärkere Gegner, je bessere Schulen sie durchgemacht haben. Vor zwei Jahren schrieb ein Mitarbeiter der Grenzboten**): „So schlecht die Schulen, so jämmerlich die polnisch unterrichtenden Lehrer waren, und so tief die Kultur zur Zeit der polnischen Unterrichtssprache stand, so gut sind die Schulen, seit sie unter fach¬ männischer Oberleitung stehn, geworden, und so ersichtlich und so hoch hat sich der Kulturstand unter dein Einfluß der deutschen Schulbildung gehoben." Wir sind stolz auf diese Leistung und dürfen es sein; aber ob sie klug war, ist eine andre Frage. Sie hat unsre Kulturkraft, unsre gute Schulverwaltung, unsre Parteilosigkeit, unser Talent zum Schulmeistern und manches andre dargethan, aber nicht unsre politische Voraussicht. Hütten wir mehr Scharfblick gehabt, so hätten wir das Deutschtum gestärkt und das Polentum schwach erhalten, oder doch feiner Schwäche überlassen, wie es ja selbst wünscht; wir Hütten nach 1848 weniger liberal und mehr politisch fein müssen. Aber auch heute wird man mir einwenden, eine solche Politik sei unsrer Zeit nicht würdig, verstoße gegen die Pflicht des Staats, gegen die Kultur, gegen die Humanitüt. Denn mit Humanitüt ist man bald bei der Hand, um der Politik in den Arm zu fallen da, wo es ihr schwer ist, human zu sein und zugleich erfolgreich, wie z. B. in unsern Kolonien. Wo aber bleibt die Humanitüt, wenn man Scharen *) So giebt der Verfasser die Zahl in Galizien für das Jahr 1862 an; gesunken dürfte die Zahl seitdem nur um wenig sein. „Aus unsrer Ostmark," S. 44. Grenz boten I 1900 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/81>, abgerufen am 02.07.2024.