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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Was ist der Traum?

individueller Fortdauer über den Tod hinaus,) Und darin nun besteht die
Bedeutung dieses Traumbuchs, daß der Verfasser, dessen Theorie sich ja übrigens
von vielen Seiten her anfechten läßt, zu der Erkenntnis gelangt ist, mit rein
körperlichen Erklärungen komme man nicht ans. Diese Erkenntnis ist ihm bei
der Behandlung von Neurotikern aufgegangen; er hat gefunden, daß die so¬
genannten Nervenleiden häufig Seelenleiden sind, und es scheint, daß auch
andre Nervenärzte mehr und mehr zu dieser Einsicht gelangen. Ein Anatom
hat bekanntlich geäußert, er habe nirgends im Leibe die Seele gefunden ; wenn
unsre heutigen Ärzte bei den Hysterischen und Neurotikern die Seele wieder
entdecken, so hat unser heutiges Geschlecht das Elend der sogenannten Ner¬
vosität nicht umsonst ausgestandein Das wäre der eine Nutzen der Frcudschen
Theorie, und wenn sie durch die Erfahrungen andrer bestätigt werdeu sollte,
so würde sie auch als ein Hilfsmittel zur Heilung der Nervenkranken ganz all¬
gemein verwandt werden können, indem solche Traumdeutuugcn über die Ent¬
stehung des Übels einige" Aufschluß geben würden. Allerdings setzt sich ein
Nervenarzt durch tägliche Traumanalysen der Gefahr aus, selbst Träumer und
Neurotiker zu werden, wie denn die deutlichen, langen und zusammenhängenden
Träume, die Freud träumt, und die Fähigkeit, sich ihrer vollständig zu er¬
innern, schon ein bedenkliches Zeichen sind, denn je gesünder der Mensch ist,
desto weniger und desto zusammenhangloser träumt er, und desto weniger ver¬
mag er sich an seine Träume zu erinnern. Aber solche Gefahren bringt Wohl
überhaupt der Verkehr mit Neurotikern mit sich, und die Gewohnheit kann ja
abhärtend wirken. Freuds Patienten dürften nicht sehr entzückt über das Buch
sei". Die meisten Tranmerfnhrnngen, die er mitteilt, scheinen den letzten fünf
Jahren zu entstammen, und die Personen, deren Heimlichkeiten er austrank,
werden sich nicht allein selbst wiedererkennen, sondern auch von ihren Ver¬
wandte" und Freunden erkannt werden. Und in einem sein eigentliches Fach
behandelnden Werke, das er ankündigt, haben sie, wie es scheint, noch stärkere
Indiskretionen zu erwarten. Wie man schon ans dem einen Beispiel ersieht,
das hier als Probe wiedergegeben worden ist, schont er auch sich selbst nicht,
und er versichert wiederholt, daß es ihm große Selbstüberwindung gekostet
habe, ein solches Buch voller Indiskretionen und Selbstbloßstellungen zu ver¬
öffentlichen, und daß er langes?) gezögert habe.

Der vorm Jahre verstorbne Du Pret kommt Nieder im Text "och im
Litteraturverzeichnis des Buches vor, obgleich seine Auffassung des Traums
großes Aufsehen erregt hat. Er findet bekanntlich im Traume die Bestätigung
seiner Lehre, daß unser empirisches Ich ein Geschöpf unsers vorzeitlichen meta¬
physischen Ichs sei; besonders die Fülle, wo wir uns in zwei Personen spalten,
zieht er heran, wenn uns z. B. der Lehrer oder ein Mitschüler einen Fehler
verbessert, wo dieser Lehrer oder Mitschüler niemand anders ist als wir selbst.
Freud wird den Main, als einen Schwärmer der Erwähnung in einem wissen¬
schaftlichen Buche nicht für würdig erachtet haben, aber er selbst ist doch mit
seinein Unbelvußteu sehr tief ins metaphysische Gebiet hineingeraten, und es


Was ist der Traum?

individueller Fortdauer über den Tod hinaus,) Und darin nun besteht die
Bedeutung dieses Traumbuchs, daß der Verfasser, dessen Theorie sich ja übrigens
von vielen Seiten her anfechten läßt, zu der Erkenntnis gelangt ist, mit rein
körperlichen Erklärungen komme man nicht ans. Diese Erkenntnis ist ihm bei
der Behandlung von Neurotikern aufgegangen; er hat gefunden, daß die so¬
genannten Nervenleiden häufig Seelenleiden sind, und es scheint, daß auch
andre Nervenärzte mehr und mehr zu dieser Einsicht gelangen. Ein Anatom
hat bekanntlich geäußert, er habe nirgends im Leibe die Seele gefunden ; wenn
unsre heutigen Ärzte bei den Hysterischen und Neurotikern die Seele wieder
entdecken, so hat unser heutiges Geschlecht das Elend der sogenannten Ner¬
vosität nicht umsonst ausgestandein Das wäre der eine Nutzen der Frcudschen
Theorie, und wenn sie durch die Erfahrungen andrer bestätigt werdeu sollte,
so würde sie auch als ein Hilfsmittel zur Heilung der Nervenkranken ganz all¬
gemein verwandt werden können, indem solche Traumdeutuugcn über die Ent¬
stehung des Übels einige» Aufschluß geben würden. Allerdings setzt sich ein
Nervenarzt durch tägliche Traumanalysen der Gefahr aus, selbst Träumer und
Neurotiker zu werden, wie denn die deutlichen, langen und zusammenhängenden
Träume, die Freud träumt, und die Fähigkeit, sich ihrer vollständig zu er¬
innern, schon ein bedenkliches Zeichen sind, denn je gesünder der Mensch ist,
desto weniger und desto zusammenhangloser träumt er, und desto weniger ver¬
mag er sich an seine Träume zu erinnern. Aber solche Gefahren bringt Wohl
überhaupt der Verkehr mit Neurotikern mit sich, und die Gewohnheit kann ja
abhärtend wirken. Freuds Patienten dürften nicht sehr entzückt über das Buch
sei». Die meisten Tranmerfnhrnngen, die er mitteilt, scheinen den letzten fünf
Jahren zu entstammen, und die Personen, deren Heimlichkeiten er austrank,
werden sich nicht allein selbst wiedererkennen, sondern auch von ihren Ver¬
wandte» und Freunden erkannt werden. Und in einem sein eigentliches Fach
behandelnden Werke, das er ankündigt, haben sie, wie es scheint, noch stärkere
Indiskretionen zu erwarten. Wie man schon ans dem einen Beispiel ersieht,
das hier als Probe wiedergegeben worden ist, schont er auch sich selbst nicht,
und er versichert wiederholt, daß es ihm große Selbstüberwindung gekostet
habe, ein solches Buch voller Indiskretionen und Selbstbloßstellungen zu ver¬
öffentlichen, und daß er langes?) gezögert habe.

Der vorm Jahre verstorbne Du Pret kommt Nieder im Text »och im
Litteraturverzeichnis des Buches vor, obgleich seine Auffassung des Traums
großes Aufsehen erregt hat. Er findet bekanntlich im Traume die Bestätigung
seiner Lehre, daß unser empirisches Ich ein Geschöpf unsers vorzeitlichen meta¬
physischen Ichs sei; besonders die Fülle, wo wir uns in zwei Personen spalten,
zieht er heran, wenn uns z. B. der Lehrer oder ein Mitschüler einen Fehler
verbessert, wo dieser Lehrer oder Mitschüler niemand anders ist als wir selbst.
Freud wird den Main, als einen Schwärmer der Erwähnung in einem wissen¬
schaftlichen Buche nicht für würdig erachtet haben, aber er selbst ist doch mit
seinein Unbelvußteu sehr tief ins metaphysische Gebiet hineingeraten, und es


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[0555] Was ist der Traum? individueller Fortdauer über den Tod hinaus,) Und darin nun besteht die Bedeutung dieses Traumbuchs, daß der Verfasser, dessen Theorie sich ja übrigens von vielen Seiten her anfechten läßt, zu der Erkenntnis gelangt ist, mit rein körperlichen Erklärungen komme man nicht ans. Diese Erkenntnis ist ihm bei der Behandlung von Neurotikern aufgegangen; er hat gefunden, daß die so¬ genannten Nervenleiden häufig Seelenleiden sind, und es scheint, daß auch andre Nervenärzte mehr und mehr zu dieser Einsicht gelangen. Ein Anatom hat bekanntlich geäußert, er habe nirgends im Leibe die Seele gefunden ; wenn unsre heutigen Ärzte bei den Hysterischen und Neurotikern die Seele wieder entdecken, so hat unser heutiges Geschlecht das Elend der sogenannten Ner¬ vosität nicht umsonst ausgestandein Das wäre der eine Nutzen der Frcudschen Theorie, und wenn sie durch die Erfahrungen andrer bestätigt werdeu sollte, so würde sie auch als ein Hilfsmittel zur Heilung der Nervenkranken ganz all¬ gemein verwandt werden können, indem solche Traumdeutuugcn über die Ent¬ stehung des Übels einige» Aufschluß geben würden. Allerdings setzt sich ein Nervenarzt durch tägliche Traumanalysen der Gefahr aus, selbst Träumer und Neurotiker zu werden, wie denn die deutlichen, langen und zusammenhängenden Träume, die Freud träumt, und die Fähigkeit, sich ihrer vollständig zu er¬ innern, schon ein bedenkliches Zeichen sind, denn je gesünder der Mensch ist, desto weniger und desto zusammenhangloser träumt er, und desto weniger ver¬ mag er sich an seine Träume zu erinnern. Aber solche Gefahren bringt Wohl überhaupt der Verkehr mit Neurotikern mit sich, und die Gewohnheit kann ja abhärtend wirken. Freuds Patienten dürften nicht sehr entzückt über das Buch sei». Die meisten Tranmerfnhrnngen, die er mitteilt, scheinen den letzten fünf Jahren zu entstammen, und die Personen, deren Heimlichkeiten er austrank, werden sich nicht allein selbst wiedererkennen, sondern auch von ihren Ver¬ wandte» und Freunden erkannt werden. Und in einem sein eigentliches Fach behandelnden Werke, das er ankündigt, haben sie, wie es scheint, noch stärkere Indiskretionen zu erwarten. Wie man schon ans dem einen Beispiel ersieht, das hier als Probe wiedergegeben worden ist, schont er auch sich selbst nicht, und er versichert wiederholt, daß es ihm große Selbstüberwindung gekostet habe, ein solches Buch voller Indiskretionen und Selbstbloßstellungen zu ver¬ öffentlichen, und daß er langes?) gezögert habe. Der vorm Jahre verstorbne Du Pret kommt Nieder im Text »och im Litteraturverzeichnis des Buches vor, obgleich seine Auffassung des Traums großes Aufsehen erregt hat. Er findet bekanntlich im Traume die Bestätigung seiner Lehre, daß unser empirisches Ich ein Geschöpf unsers vorzeitlichen meta¬ physischen Ichs sei; besonders die Fülle, wo wir uns in zwei Personen spalten, zieht er heran, wenn uns z. B. der Lehrer oder ein Mitschüler einen Fehler verbessert, wo dieser Lehrer oder Mitschüler niemand anders ist als wir selbst. Freud wird den Main, als einen Schwärmer der Erwähnung in einem wissen¬ schaftlichen Buche nicht für würdig erachtet haben, aber er selbst ist doch mit seinein Unbelvußteu sehr tief ins metaphysische Gebiet hineingeraten, und es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/555>, abgerufen am 01.07.2024.