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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Was ist der Traum?

angeknüpft und mit einem Blick überschaut wird, wie man ja auch eine lange
Bilderreihe mit einem Blick überschauen und, wenn sie bekannt ist, deutlich ins
Bewußtsein treten lassen kann, Ganz allgemein bekannt und anerkannt sind
heute die sonstigen traumerrcgeiiden Wahrnehmungen; jedermann weiß, daß
wir in kaltem Wasser z" waten glauben, wenn wir einen Fuß entblößt liegen
haben, und daß uns ein unverdauter Bissen ein Ungeheuer erscheine" lassen
kann, das uns als Alp drückt. Die lächerliche Vergrößerung der Eindrücke
und das Hinznphantasieren entsprechend ungeheuerlicher Ursachen kommt von
der Undeutlichkeit der Wahrnehmungen, wie wir uns leicht durch Erfahrungen
im wachen Zustande überzeugen können. Ehe ein entfernter Gegenstand in die
richtige Sehweite gerückt ist, macht unsre Phantasie aus einer Menschengruppe
z. B. bald einen Frachtwagen, bald ein Rind, bald einen Hügel, Warum sehen
der Abergläubische und der nervöse in der Dunkelheit Gespenster? Weil sie
nicht deutlich zu sehen vermögen, daß der Ofen ein Ofen und das Handtuch
ein Handtuch ist. In jungen Jahren habe ich manchmal an dein Gesellschafts
spiel "Kalte Küche" teilgenommen. Eine Dame reicht aus ihrem unter den
Tisch gehaltnen Körbchen dem Nachbar einen Gegenstand mit Nennung der
Speise, die er vorstellen soll, und der Empfangende muß ihn unteren Tisch
weiter reichen; so wird eine mit kaltem Wasser gefüllte Fischblase als saure
Gurke, ein Knäuel von gezupfter Wolle und Fichtennadeln als Seekrebs serviert,
und alle fühlen sich entsetzt bei Berührung der Sache" und geben sie - worin
eben der Spaß besteht - mit Gekreisch und Grimassen weiter, die Abschen
und Ekel ausdrücken, weil eben die Hautempfinduug für sich allein, ohne daß
sie das Auge unterstützt, die Natur des Gegenstandes nicht zu ermitteln vermag,
und die Phantasie zur Erzeugung von Schreckbildern anregt. Wie tiinschen
wir, uns auch über die Quantität des Wassers, das uns, zum Scherz auf den
Nacken gegossen, den Rücken hinabläuft! Ein paar Tropfen kommen uns vor
wie ein ganzer Strom.

Eine neue Autorität nun, Dr. Sigmund Freud, sagt uus in seinem
Buche Die Tranmdeutnng (Leipzig und Wien, bei Franz Deuticke, 1900):
Ihr Laien täuscht euch, wenn ihr euch einbildet, das Träumen ans solchen
körperlichen Quelle" erklärt zu haben! Er leugnet nicht, daß Eindrücke der
Außenwelt auf deu Schlafenden und seine eignen körperlichen Zustände Träume
hervorrufen, aber behauptet, für sich allein würden diese Ursachen keine Träume
schaffe", und nur bei einem kleinen Prozentsatz aller Träume seien sie als Mit-
ursachen beteiligt. Freud ist Spezialist für Nervenkranke, und ist von einer
Autorität seines Fachs, Josef Breuer, belehrt worden, daß die Angst-, Furcht-
und sonstigen Zwangsvorstellungen der Nervenkranken beseitigt werden können,
wenn man den daran Leidenden die Entstehung dieser Wahngebilde nachweist,
indem man sie in ihre Elemente zerlegt. Um diese Elemente herauszubekommen,
schlägt er folgendes Verfahren ein. Er leitet seine Patienten zur Beobachtung
ihrer unwillkürlichen Vorstellungen an, Sie müssen in einer ruhigen Lage die
Augen schließen, ans alles Denken verzichte" und ihm dann alles mitteile",


Was ist der Traum?

angeknüpft und mit einem Blick überschaut wird, wie man ja auch eine lange
Bilderreihe mit einem Blick überschauen und, wenn sie bekannt ist, deutlich ins
Bewußtsein treten lassen kann, Ganz allgemein bekannt und anerkannt sind
heute die sonstigen traumerrcgeiiden Wahrnehmungen; jedermann weiß, daß
wir in kaltem Wasser z» waten glauben, wenn wir einen Fuß entblößt liegen
haben, und daß uns ein unverdauter Bissen ein Ungeheuer erscheine» lassen
kann, das uns als Alp drückt. Die lächerliche Vergrößerung der Eindrücke
und das Hinznphantasieren entsprechend ungeheuerlicher Ursachen kommt von
der Undeutlichkeit der Wahrnehmungen, wie wir uns leicht durch Erfahrungen
im wachen Zustande überzeugen können. Ehe ein entfernter Gegenstand in die
richtige Sehweite gerückt ist, macht unsre Phantasie aus einer Menschengruppe
z. B. bald einen Frachtwagen, bald ein Rind, bald einen Hügel, Warum sehen
der Abergläubische und der nervöse in der Dunkelheit Gespenster? Weil sie
nicht deutlich zu sehen vermögen, daß der Ofen ein Ofen und das Handtuch
ein Handtuch ist. In jungen Jahren habe ich manchmal an dein Gesellschafts
spiel „Kalte Küche" teilgenommen. Eine Dame reicht aus ihrem unter den
Tisch gehaltnen Körbchen dem Nachbar einen Gegenstand mit Nennung der
Speise, die er vorstellen soll, und der Empfangende muß ihn unteren Tisch
weiter reichen; so wird eine mit kaltem Wasser gefüllte Fischblase als saure
Gurke, ein Knäuel von gezupfter Wolle und Fichtennadeln als Seekrebs serviert,
und alle fühlen sich entsetzt bei Berührung der Sache» und geben sie - worin
eben der Spaß besteht - mit Gekreisch und Grimassen weiter, die Abschen
und Ekel ausdrücken, weil eben die Hautempfinduug für sich allein, ohne daß
sie das Auge unterstützt, die Natur des Gegenstandes nicht zu ermitteln vermag,
und die Phantasie zur Erzeugung von Schreckbildern anregt. Wie tiinschen
wir, uns auch über die Quantität des Wassers, das uns, zum Scherz auf den
Nacken gegossen, den Rücken hinabläuft! Ein paar Tropfen kommen uns vor
wie ein ganzer Strom.

Eine neue Autorität nun, Dr. Sigmund Freud, sagt uus in seinem
Buche Die Tranmdeutnng (Leipzig und Wien, bei Franz Deuticke, 1900):
Ihr Laien täuscht euch, wenn ihr euch einbildet, das Träumen ans solchen
körperlichen Quelle» erklärt zu haben! Er leugnet nicht, daß Eindrücke der
Außenwelt auf deu Schlafenden und seine eignen körperlichen Zustände Träume
hervorrufen, aber behauptet, für sich allein würden diese Ursachen keine Träume
schaffe», und nur bei einem kleinen Prozentsatz aller Träume seien sie als Mit-
ursachen beteiligt. Freud ist Spezialist für Nervenkranke, und ist von einer
Autorität seines Fachs, Josef Breuer, belehrt worden, daß die Angst-, Furcht-
und sonstigen Zwangsvorstellungen der Nervenkranken beseitigt werden können,
wenn man den daran Leidenden die Entstehung dieser Wahngebilde nachweist,
indem man sie in ihre Elemente zerlegt. Um diese Elemente herauszubekommen,
schlägt er folgendes Verfahren ein. Er leitet seine Patienten zur Beobachtung
ihrer unwillkürlichen Vorstellungen an, Sie müssen in einer ruhigen Lage die
Augen schließen, ans alles Denken verzichte» und ihm dann alles mitteile»,


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[0549] Was ist der Traum? angeknüpft und mit einem Blick überschaut wird, wie man ja auch eine lange Bilderreihe mit einem Blick überschauen und, wenn sie bekannt ist, deutlich ins Bewußtsein treten lassen kann, Ganz allgemein bekannt und anerkannt sind heute die sonstigen traumerrcgeiiden Wahrnehmungen; jedermann weiß, daß wir in kaltem Wasser z» waten glauben, wenn wir einen Fuß entblößt liegen haben, und daß uns ein unverdauter Bissen ein Ungeheuer erscheine» lassen kann, das uns als Alp drückt. Die lächerliche Vergrößerung der Eindrücke und das Hinznphantasieren entsprechend ungeheuerlicher Ursachen kommt von der Undeutlichkeit der Wahrnehmungen, wie wir uns leicht durch Erfahrungen im wachen Zustande überzeugen können. Ehe ein entfernter Gegenstand in die richtige Sehweite gerückt ist, macht unsre Phantasie aus einer Menschengruppe z. B. bald einen Frachtwagen, bald ein Rind, bald einen Hügel, Warum sehen der Abergläubische und der nervöse in der Dunkelheit Gespenster? Weil sie nicht deutlich zu sehen vermögen, daß der Ofen ein Ofen und das Handtuch ein Handtuch ist. In jungen Jahren habe ich manchmal an dein Gesellschafts spiel „Kalte Küche" teilgenommen. Eine Dame reicht aus ihrem unter den Tisch gehaltnen Körbchen dem Nachbar einen Gegenstand mit Nennung der Speise, die er vorstellen soll, und der Empfangende muß ihn unteren Tisch weiter reichen; so wird eine mit kaltem Wasser gefüllte Fischblase als saure Gurke, ein Knäuel von gezupfter Wolle und Fichtennadeln als Seekrebs serviert, und alle fühlen sich entsetzt bei Berührung der Sache» und geben sie - worin eben der Spaß besteht - mit Gekreisch und Grimassen weiter, die Abschen und Ekel ausdrücken, weil eben die Hautempfinduug für sich allein, ohne daß sie das Auge unterstützt, die Natur des Gegenstandes nicht zu ermitteln vermag, und die Phantasie zur Erzeugung von Schreckbildern anregt. Wie tiinschen wir, uns auch über die Quantität des Wassers, das uns, zum Scherz auf den Nacken gegossen, den Rücken hinabläuft! Ein paar Tropfen kommen uns vor wie ein ganzer Strom. Eine neue Autorität nun, Dr. Sigmund Freud, sagt uus in seinem Buche Die Tranmdeutnng (Leipzig und Wien, bei Franz Deuticke, 1900): Ihr Laien täuscht euch, wenn ihr euch einbildet, das Träumen ans solchen körperlichen Quelle» erklärt zu haben! Er leugnet nicht, daß Eindrücke der Außenwelt auf deu Schlafenden und seine eignen körperlichen Zustände Träume hervorrufen, aber behauptet, für sich allein würden diese Ursachen keine Träume schaffe», und nur bei einem kleinen Prozentsatz aller Träume seien sie als Mit- ursachen beteiligt. Freud ist Spezialist für Nervenkranke, und ist von einer Autorität seines Fachs, Josef Breuer, belehrt worden, daß die Angst-, Furcht- und sonstigen Zwangsvorstellungen der Nervenkranken beseitigt werden können, wenn man den daran Leidenden die Entstehung dieser Wahngebilde nachweist, indem man sie in ihre Elemente zerlegt. Um diese Elemente herauszubekommen, schlägt er folgendes Verfahren ein. Er leitet seine Patienten zur Beobachtung ihrer unwillkürlichen Vorstellungen an, Sie müssen in einer ruhigen Lage die Augen schließen, ans alles Denken verzichte» und ihm dann alles mitteile»,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/549>, abgerufen am 30.06.2024.